6968589-1985_22_07.jpg
Digital In Arbeit

Brasiliens schwieriger Weg

19451960198020002020

Brasiliens Jose Sarney wird vorerst einmal die formalen Spielregeln des politischen Prozesses klären, ehe er sich an das Management der Wirtschaftsprobleme macht. Letzteres ist vielleicht ohnedies eine unmöglich zu bewältigende Aufgabe.

19451960198020002020

Brasiliens Jose Sarney wird vorerst einmal die formalen Spielregeln des politischen Prozesses klären, ehe er sich an das Management der Wirtschaftsprobleme macht. Letzteres ist vielleicht ohnedies eine unmöglich zu bewältigende Aufgabe.

Werbung
Werbung
Werbung

Nach mehr als 20 Jahren Militärdiktatur hätte Tancredo Neves als Koalitionskandidat der vereinten Opposition Brasilien gut getan. Neves galt als Heiler und Versöhner, der Brasiliens Bürgern auf dem Weg zur Bewältigung der widersprüchlichen Vergangenheit vorangeschritten wäre.

Neves' langsames Sterben im Krankenhaus schob Jose Sarney nach vorn. Der 56jährige Sarney, Landbesitzer aus dem nordöstlichen Maranhäo, aber auch Journalist und Schriftsteller, gehörte ursprünglich zu den Kollaborateuren der Militärregierung. Erst 1984 löste er sich von der Regierungspartei und schloß sich der vereinten Opposition an, wo er mit der Nominierung für die Vize-Präsidentschaft belohnt wurde.

Eines ist somit klar: Präsident Jose Sarney wird - ungleich seinem argentinischen Amtskollegen — sich nicht mit den Offizieren anlegen und sie wegen Folter und Repression zur Verantwortung ziehen, sondern den Gentleman-Pakt des „retorno” einhalten; solange Jose Sarney regiert, gehören die Jahre 1964—1984 undiskutiert zum Mäandern der brasilianischen Zeitgeschichte.

Wohl aber kann Staatschef Sarney die Klärung der formalen Spielregeln angehen. Wahrscheinlich wird eine verfassungsgebende. Nationalversammlung, ursprünglich für November 1986 vorgesehen, schon früher stattfinden. Sie wird nicht nur die Verfassungsnorm ausarbeiten, sondern auch die Dauer der Regierungszeit des Präsidenten endgültig klären und natürlich auch das Prinzip der Direktwahl bestätigen.

Wie gesagt, das ist die leichte Aufgabe. Fast unüberwindbare Hindernisse gibt es im Wirtschaftlichen. Zwar ist Brasilien kein bankrottes und auseinanderfallendes Bolivien. Ganz im Gegenteil: Der riesige Staat mit heute bereits 130 Millionen Einwohnern hat sich trotz 104 Milliarden Dollar Auslandsschuld und 250 Prozent Inflation wirtschaftlich für den Moment durchaus wieder gefangen. Vor allem der Exportsektor blüht und wirft die devisenbringenden Überschüsse ab, mit denen die Zinsendienste bewältigt werden können. Deswegen erfängt sich auch Brasiliens Industrie wieder.

Völlig offen bleibt jedoch die große Linie der Wirtschaftspolitik. Brasilien steckt in Sackgassen. Zwar ist es mit seiner forcierten Industrialisierung ein „Schwellenland” geworden, doch die strukturellen Widersprüche haben sich vervielfacht. Aus dieser Perspektive drängen sich drei Schlußfolgerungen auf: • Eine hinreichende Auslastung der industriellen Kapazitäten Brasiliens, die im Zug der Import-substituierungspolitik geschaffen wurden und die sich jetzt zum Teil als weit überdimensional erweisen, ist durch eine noch stärkere Exportorientierung kaum zu erreichen, sondern erfordert die Erschließung zusätzlicher Binnennachfrage.

Einer Erhöhung der inländischen Konsumquote sind jedoch von der verzerrten Einkommensverteilung her (44 Prozent der brasilianischen Bevölkerung leben in „absoluter Armut”!) enge Grenzen gesetzt, wie auch von der Notwendigkeit her, die antiinflationäre Austeritätspolitik, wie sie die internationalen Agenturen fordern, weiterzuführen.

• Eine stärkere Ausrichtung der landwirtschaftlichen Produktion auf ausländische Abnehmermärkte erscheint prinzipiell möglich. Vor allem bei den devisenbringenden „cash crops” ließen sich noch Ausweitungen durchbringen.

Es müßten dafür jedoch zusätzliche Großinvestitionen durchgeführt werden, wofür jetzt einfach das Geld fehlt. Auch hat die Verdrängung der kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft durch agroindustrielle Konzerne für die Ernährungssituation der Bevölkerung derart nachteilige Konsequenzen gebracht, daß eine zivile Nachfolgeregierung hier korrigieren muß.

• Als immer noch günstig wird die Chance eingeschätzt, daß Brasilien mit der Ausbeutung seiner gewaltigen Rohstoffvorkommen zumindest mittelfristig Exporterlöse erzielen und Devisenausgaben für Importe einsparen könne.

Die weitere Erschließung dieser Vorkommen setzt jedoch infrastrukturelle Investitionen in einem Maß voraus, das die derzeitige Finanzkraft einfach übersteigt. Müssen folglich zur Realisierung solcher Vorhaben Auslandskredite und Auslandsinvestitionen aufgenommen werden — wie modellhaft bei den Eisenerz- und

Bauxitlagern des Carajas-Pro-gramms geschehen -, dann vermindert sich der Netto-Devisen-effekt auf lange Frist nicht unerheblich.

Was immer Präsident Sarneys Wirtschaftsberater auch versuchen werden, so bleibt für Brasilien doch die düstere Aussage der Weltbank bestehen, wonach ein konfliktfreier Ausweg aus dem Teufelskreis der überhöhten Auslandsverschuldung nicht möglich sei.

Selbst bei günstigsten Bedingungen, so die Prognose der Weltbank, wird Brasilien bis Ende dieses Jahrhunderts über seine Schuldentilgung ein Kapitalnet-to-Exporteur bleiben müssen. Dies bedeutet, daß die wirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten beeinträchtigt werden und sich der interne Verteilungsspielraum zusätzlich verringert.

Wie das Brasiliens Bevölkerung, die ihren Gürtel sowieso bereits auf dem letzten Loch trägt, aushalten kann, ist nicht vorhersagbar. Dazu kommt im Rahmen der politischen Öffnung eine Reihe von psychologischen Belastungen. Nach 20 Jahren Militärdiktatur hat das immer quirlige Brasilien alle Fesseln und Verbote aus jenen Jahren abgestreift, um sich einer tumultartigen Freiheit, die die „neue Republik” kennzeichnet, hinzugeben.

Das wiederum beunruhigt die Erzkonservativen und Offiziere, die immer schon einen Zusammenhang zwischen „Pornographie” und „Subversion” vermuteten. Nicht wirtschaftliche Probleme werden daher heute in Brasilien diskutiert, sondern - als leidenschaftliche Debatte — ob „oben ohne” sein darf, ob im Theater sexuelle Tabus erörtert werden können, ob „Penthouse” ohne Plastikhülle verkauft werden darf, ob Brasiliens Homosexuelle Anrecht auf Vereinsrecht haben und ob sie sich trotz Aids-Ansteckungsgefahr zu eigenen Kongressen treffen dürfen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung