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Brasilianische Impressionen

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Im Frühjahr 1982 nahm der Autor dieses Beitrags an der Jahreskonferenz der CIDSE, der Dachorganisation der katholischen Entwicklungsförderungsorgani-sationen in Brasilien, teil. Die hier wiedergegebenen persönlichen Momentaufnahmen seiner Brasilien-Reise wurden bewußt an die Stelle einer Analyse der Rolle der Kirche in Brasilien gesetzt.

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Im Frühjahr 1982 nahm der Autor dieses Beitrags an der Jahreskonferenz der CIDSE, der Dachorganisation der katholischen Entwicklungsförderungsorgani-sationen in Brasilien, teil. Die hier wiedergegebenen persönlichen Momentaufnahmen seiner Brasilien-Reise wurden bewußt an die Stelle einer Analyse der Rolle der Kirche in Brasilien gesetzt.

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Ort: Ein äußerst bescheidenes „Tagungszentrum” in Verbindung mit einer alten Kirche in der , Umgebung von Guarabira (Stadt im Bundesstaat Paraiba im Nordosten Brasiliens); hier komme ich das erste Mal in Kontakt mit der „Basis” — konkret: einer Versammlung von etwa 50 Frauen von Zuckerrohrarbeitern.

Die Frauen sind zum ersteh Mal da und wollen — auf eigenen Wunsch — lernen, wie sie ihre Situation verbessern können. Die Antwort der Kirche, sowohl der Amtskirche wie zusätzlich auch der Laienhelfer: „Erfahrungen austauschen, die eigenen Probleme als gemeinsame Probleme erkennen und ein Gruppenbewußtsein entwickeln, weil nur Gemeinsamkeit stark macht.”

Zwei Frauen aus einer anderen Gegend berichten über ihre Erfahrungen. Die beiden Frauen gehören zu einer Gruppe Von Pächtern, die ein Großgrundbesitzer im Zuge der Ausweitung der Zuk-kerrohranbauflächen für die Alkoholproduktion von ihrem Pachtland vertreiben wollte. Dies wäre gegen die geltenden Agrarreform-Gesetze gewesen und daher weigerten sich die Pächter, das Land zu verlassen.

Die „Pistoleros” des Grundeigentümers verwüsteten daraufhin die Felder der Pächter, vertrieben sie aus ihren Häusern und zerstörten- das von ihnen selbst gebaute Gemeinschafts- und . Schulhaus.

Aber so schnell gaben die Pächter nicht auf. Immer wieder bestellten sie ihre Felder und begannen, das Gemeinschaftshaus wieder aufzubauen. Immer wieder holte der Grundbesitzer die Polizei, die wahllos Erwachsene, Jugendliche und sogar Kinder unter Gewaltanwendung verhaftete.

Schließlich wurde den bedrohten Kleinbauern selbst der gewaltlose Widerstand zu gefährlich. Daher zogen 42 Familien vor den Amtssitz des Provinzgouverneurs und kampierten dort drei Wochen lang. Es gab Nächte, in denen bis zu 500 Kleinbauern und Taglöhner ihnen durch ihre Anwesenheit ihre Solidarität bezeugten und sie mit Nahrung versorgten.

Die Situation wurde dem regionalen Militärkommando schließlich unheimlich und ein General intervenierte. Das Ergebnis war ein richterlicher Befehl: Der Grundeigentümer mußte die Pächter auf ihr Pachtland zurücklassen und die Schule wieder aufbauen.

Die Frauen sind von dieser Erzählung sehr beeindruckt und stellen eine Menge Fragen. Die junge Juristin, die in der von der Kirche mitfinanzierten Menschenrechtskommission arbeitet, erklärt die rechtliche Situation. Nach einer Pause beginnen die Frauen mit einem religiösen Lied: Da ist vom Gegensatz zwischen

Reichtum und Armut, zwischen Uberfluß und Mangel und zwischen Herrschaft und Unterdrückung die Rede. Aber mit dem Refrain wird klargestellt: „Gott will das nicht!”

Dann werden die bisherigen Zuhörerinnen selbst aktiv und berichten über ihre Erfahrungen. Bei manchen merkt man deutlich, wie ihnen bewußt wird, daß sie nicht allein sind, daß sie gemeinsam, das heißt auch mit ihren Männern, vielleicht doch etwas erreichen können.

Anschließend an die Frauenversammlung ein Treffen von Zuckerrohr-Arbeitern. Es geht um die Frage, ob und wie sie ihr Recht gewerkschaftlich besser vertreten können. Es gibt keine freien Gewerkschaften in Brasilien, aber seit der „politischen Öffnung” der letzten Jahre ist das Engagement in den staatlich gelenkten Gewerkschaften wieder erfolgversprechender geworden.

In dieser — wie auch in der vorigen — Gruppe agieren die kirchlichen Berater äußerst zurückhaltend. Man merkt das Bestreben, nicht bevormunden, sondern die Bewußtseinsbildung der Betroffenen fördern zu wollen. Das hat sehr viel mit Wissensvermittlung und dem Aufzeigen von alternativen Möglichkeiten zu tun.

Die Diskussionen und der gegenseitige Informationsaustausch führen schließlich zu einem Gruppenerlebnis für die rund 40 Arbeiter aus acht verschiedenen Zuckerrohrplantagen. Einige Ergebnisse ihrer Besprechungen:

Nur drei Männer, die auf kleineren Besitzungen arbeiten, erhalten den gesetzlichen Mindestlohn von 347-Cruzeiros. Alle anderen liegen darunter, einige müssen sich mit 100 Cruzeiros begnügen. Frauen erhalten meist die Hälfte dessen, was Männer bekommen. Kinder erhalten 25 bis 60 Cruzeiros.

Ein anwesender Siebzehnjähriger sagt, daß er seit seinem siebenten Lebensjahr Zuckerrohr schneidet. Diese Löhne bekommen angesichts der durch die Inflation dauernd steigenden Nahrungsmittelpreise eine politische Sprengkraft. Ein Kilo Bohnen, ein wichtiges Grundnahrungsmittel der armen Brasilianer, kostet 150 Cruzeiros. Ein Kilo Fleisch kostet 400 Cruzeiros.

Die tägliche Arbeitszeit der Zuckerrohrschheider beträgt, je nach Plantage, zwischen acht und elf Stunden. Nur zwei der Arbeiter haben die gesetzlich vorgeschriebene Arbeitskarte, die der Arbeitgeber bei einer mehr als dreimonatigen Beschäftigung ausstellen muß und die Zugang zu bestimmten Sozialleistungen (Krankenversicherung, 13. Monatslohn) gewährleistet.

Es wird von Plantagenverwaltern berichtet, die die Arbeiter ohne Karte bei Kontrolle durch den staatlichen Steuerbeamten zwingen, sich zu verstecken. Wer sich gegen solche Praktiken stellt, verliert den Arbeitsplatz.

Die gemeinsame Erkenntnis der ungesetzlichen Benachteiligung und Unterdrückung führt die versammelten Arbeiter zu dem Entschluß, auf einem nächsten Treffen ihre eigene gewerkschaftliche Organisation konkret zu besprechen.

Der Bischof von Guarabira, Marcelo Carvalheira, weiß mit den zweifelnden Fragen eines österreichischen Christen wenig anzufangen:

„Ihr denkt zu kompliziert und zu theoretisch, wenn ihr die Aktivitäten der Kirche in Brasilien analysiert. Für uns hat die Kirche die Aufgabe, das Kommen des Reiches Gottes zu fördern. Die Veränderung auf das Reich Gottes hin muß hier auf dieser Welt beginnen. Mit der Inspiration des Glaubens wird das Volk zum Subjekt dieser Veränderung. Die Sehnsucht nach dieser Veränderung beinhaltet auch die Sehnsucht nach mehr Gerechtigkeit. Wir müssen daher als Kirche ganz selbstverständlich auch für mehr Gerechtigkeit eintreten. Wir können uns nicht auf die Caritas beschränken/'

Diese Auffassung hat den Bischof immerhin auf Grund des Gesetzes über die nationale Sicherheit 1969 ins Gefängnis gebracht.

Eröffnung der „Kampagne der Brüderlichkeit” (ähnlich der Fastenaktion der Katholischen Frauenbewegung in Österreich) in einer Kleinstadt im Nordosten Brasiliens: Die Aktion wurde von der nationalen Bischofskonferenz initiiert und wird 1982 zum 19. Mal durchgeführt. Ihr heuriges Thema: „Die Wahrheit wird euch befreien'*!

Vor der Kirche drängen sich etwa 700 Leute, die den Reden der lokalen Kampagne-Organisatoren zuhören. Ich bin neugierig auf diese Reden und auf die Predigt in der anschließenden Messe. Der zuständige Priester, übrigens ein Deutscher, hat mich vorgewarnt: „Hier kann man nicht sehr politisch argumentieren, die Leute sind noch nicht so weit.”

Die (von Laien gehaltenen) Reden widersprechen dieser Ankündigung. Da ist in Hinsicht auf die Wahlen im November die Rede davon, daß man grundsätzlich den wahlwerbenden Politikern mißtrauen müsse. Man müsse sie fragen, ob sie die Situation der Armen überhaupt kennen und was sie bisher zu ihrer Verbesserung getan haben. Wenn keine befriedigende Antwort kommt, wäre das Mißtrauen weiter gerechtfertigt.

Drei Bischöfe und zahlreiche kirchliche Laienmitarbeiter stehen zwölf Ausländern Rede und Antwort: Was hier und bei anderen derartigen Gelegenheiten immer wieder auffällt, ist das herzliche Verhältnis zwischen Laien, Priestern und Bischöfen. Hier merkt man nichts von formaler Hierarchie, aber sehr viel von liebevollem, gegenseitigem Respekt. Die aktive Rolle der Laien wird nicht nur theoretisch anerkannt, sondern in der Praxis von der Amtskirche konkret gefördert.

Dom Jose Maria Pires, Bischof von Joao Pessoa, geht auf diese Frage näher ein: „Früher hat die Kirche von oben_gesprochen und dirigiert, heute regt sie an und läßt die Laien selbst agieren. Die Kirche setzt sich mit dem Ziel für die Armen ein, damit diese für sich aktiv werden können. Daß sich die Kirche heute auf die Seite der Armen stellt, ist eine politische Entscheidung aufgrund des Evangeliums.”

Nach vielen anderen Fragen wird auch die der Entwicklungshilfe für Brasilien diskutiert. Es erstaunt die Zuhörer nicht mehr, daß die anwesenden Brasilianer überzeugt sind, daß die alte Form der Entwicklungshilfe (vor allem die Errichtung von Gebäuden und der Transfer von Technologie) nicht mehr notwendig seien. Heute geht es vielmehr darum, das zu unterstützen, was vom Volk selbst initiiert wird.

Konkret kann das die Unterstützung von Aktivitäten der außerschulischen Erwachsenenbildung, von Informationssammlung und -Verbreitung durch die

Kirche und von Rechtshilfeeinrichtungen der Kirche bedeuten.

Aber man merkt, daß es den brasilianischen Partnern noch mehr darum geht, daß wir in unseren eigenen Ländern aktiv werden.

Wir sollen auf unsere Regierungen einwirken, daß sie nicht Projekte unterstützen, die den Reichen mehr Vorteile bringen als den Armen. Wo immer es möglich ist, soll auch Einfluß auf die brasilianische Regierung ausgeübt werden, damit die Lösung der internen Probleme des Landes in Angriff genommen wird. •

Szenenwechsel an die katholische Universität von Sao Paulo, wo an den 72jährigen Dom Helder Camara, Erzbischof von Recife und Olinda, die Ehrendoktorwürde verliehen wird. Nach zehn ausländischen Ehrendoktoraten ist es das erste in der Heimat. Im Auditorium befinden sich fast 2000 vorwiegend jüngere Leute. Mitten drin Paulo Freire.

Nach einer fast poetischen Laudatio eines Mitgliedes des Professorenkollegiums eine zweite Laudatio einer Frau aus den Favelas.

Die Frau spricht von den Problemen in den Slums und der Organisation der Bewohner. Als sie auf die Unterdrückung durch die staatlichen Sicherheitskräfte zu reden kommt, setzt sie eine symbolische Handlung, die offensichtlich ganz bewußt die Art des kirchlich inspirierten, gewaltfreien Widerstandes kennzeichnen soll: Sie überreicht einen mitgebrachten Blumenstrauß stellvertretend einem der beiden universitätsinternen Ordnungshütern. Die Zuhörer verstehen und klatschen begeistert.

Dom Helders Dankansprache beginnt mit einer Verbeugung vor der Frau aus dem Volk: „Eigentlich hätte sie und nicht ich das Ehrendoktorat verdient.” Wieder lauter Beifall und laute Rufe: „Sie verdient es!”

Dann stellt der „Agitator für die Armen” in seiner lässigen Art peinliche Fragen an die Regierung: über die brasilianischen Atomkraftwerke, die brasilianischen Waffenexporte, die hohe Auslandsverschuldung, die „Bra-silianisierung” des Amazonasprojektes des nordamerikanischen Milliardärs Ludwig, das Wasserkraftwerk Itaipu.

Der Autor wurde kürzlich zum neuen Direktor der Koordinierungsstelle der Osterreichischen Bischofskonferenz für internationale Entwicklung und Mission ernannt

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