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Brief aus Südamerika

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Der Verfasser lebt nunmehr seit fast 13 Jahren in Chile. In dieser Zeit hat er auch einen gewissen Einblick in das kirchliche Leben des südamerikanischen Kontinents bekommen. Er legt aber Wert dar- - auf, zu betonen, daß seine nachfolgenden Ausführungen naturgemäß in erster Linie auf Chile abgestimmt sind, wenn die Darstellung auch sinngemäß auf ganz Südamerika angewandt werden kann.

Wie ganz anders ist das kirchliche Leben in Südamerika! Schon äußerlich spielt sich das kirchliche Leben vielfach in ganz anderen Formen ab als in Europa. Die Prozessionen zum Beispiel werden immer noch vielfach von militärischer Marschmusik begleitet, die kirchlichen Lieder sind zumeist auf wenige beschränkt, und es berührt den Katholiken aus Europa natürlich eigenartig, wenn bei Prozessionen die Mutter Gottes mit Vivarufen begrüßt wird. Es fehlt auch dabei oft die Ordnung, das einheitliche Auftreten, das imponierende Bild nach außen, das auch Andersgläubige beeindrucken müßte. Wir leben zwar nicht in Spanien, aber wir leben in Lateinamerika, und hier ist eben so vieles anders, auch auf diesem Gebiete. Dieses äußere Bild, dieser äußere Mangel, den wir empfinden, mußte erwähnt werden. Aber darauf kommt es natürlich nicht in erster Linie an.

Vor einer Reihe von Jahren veröffentlichte der hervorragende chilenische Jesuitenpater Hurtado eine Broschüre mit dem Titel: „Ist Chile ein katholisches Land?" Er verneinte die Frage. Wie ist das möglich, fragte mich damals ein österreichischer Freund, dem ich die Broschüre zu lesen gab. Wie ist das möglich, da doch die vielen Kirchen in der chilenischen Hauptstadt sonntags und feiertags überfüllt sind? Santiago hat eine Einwohnerzahl von 1,2 Millionen und gewiß sehr viele Kirchen und

Kapellen. Trotzdem reichen sie nicht. Und außerdem ist mein österreichischer Freund zwar ein regelmäßiger Besucher der heiligen Messe, aber erst in der Mittagsstunde. Zieht man die Gottesdienste in den frühen Morgenstunden vor, dann ändert sich schon das Bild, die Kirchen sind entweder nur zur Hälfte oder noch schwächer gefüllt und überwiegend mit Frauen und Mädchen. Ja, überhaupt die Männer! Hier sieht es am traurigsten aus: Ich habe jahrelang in einer Pfarrei mit 30.000 Seelen gelebt, und die Zahl der Teilnehmer an den wöchentlichen Sitzungen der Männersektion der Katholischen Aktion schwankte zwischen zehn und zwanzig, und ich wohne jetzt in einer Pfarrei mit 40.000 Seelen, und diese Durchschnittszahl ist noch geringer. Wie kommt das?

Die große Verbreitung des Freimaurer- tums in Chile ist bekannt. Dazu kommt noch, daß die einstmals sehr starke Katholisch-Konservative Partei im Laufe der Jahre in drei Gruppen aufgespalten worden ist. Es kommen dazu die starken sozialen Strömungen und das Fehlen eines engeren Kontakts mit den Massen der Arbeiterschaft. Es kommt dazu die Auswirkung der in Chile im Jahre 1925 erfolgten Trennung von Staat und Kirche und das Fehlen von Geldmitteln und in diesem Zusammenhang auch noch die verheerende Auswirkung einer immer größer werdenden Inflation.

Man muß beim kirchlichen Leben in Südamerika die Weite der Länder berücksichtigen, die unendlichen Flächen, die zu überwinden sind, die für europäische Begriffe unvorstellbaren Ausmaße der Pfarreien in den Provinzen und die damit verbundenen Schwierigkeiten, die vielfach dünn gesäte Bevölkerung, die schwer zu erfassen ist, den Laizismus im allgemeinen und den Mangel an Religionslehrern. Die Priester mögen vom besten Willen beseelt sein — und sie sind es auch sicherlich in der Mehrzahl —, aber es geht über ihre Kräfte, und sie leiden oft selbst Not.

Gewiß, es gibt in den Städten hervorragende katholische Bildungsanstalten, es gibt solche von den verschiedensten Ordensgesellschaften. Es wird auf diesem Gebiet sehr viel geschaffen. Es werden gegenwärtig in der chilenischen Hauptstadt riesige Neubauten mit allen modernen Einrichtungen für Bildungsanstalten aufgeführt.

Es muß außerdem anerkannt werden, daß zum Beispiel in der chilenischen Hauptstadt in den letzten zehn Jahren die Versuche für eine innere Vertiefung, speziell in akademischen Kreisen und in den Kreisen der Studentenschaft, Fortschritte erzielt haben. Aber es muß ebenso offen ausgesprochen werden, daß der Abstand zwischen reich und arm, zwischen Gebildeten und Nichtgebildeten, zwischen der besitzenden Klasse und der Arbeiterschaft immer noch zu groß ist, ja vielfach als eine nicht zu überbrük- kende Kluft erscheint. Und das liegt in erster Linie an dem Priestermangel, und es liegt daran, daß das, was wir drüben unter Männerseelsorge verstanden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fehlt. Wir brauchen in Südamerika Missionare, viele Missionare, Priester, die zu Opfern bereit sind. Riesige Landstriche in ganz Südamerika sind priesterarm, in diese Gegenden dringt auch heute noch nicht das Wort Gottes, die Lehre Christi. Hingegen machen sich in den Städten immer mehr die Sekten bemerkbar, die von Nordamerika nach dem Süden kommen, die in den Straßen singen und predigen, die Adventisten und wie sie alle heißen, sie haben Zuzug, darüber kann gar kein Zweifel bestehen. Ob sie auf die Dauer auch den inneren Kontakt bekommen werden, erscheint mir allerdings zweifelhaft. Daß ihr Wirken aber der Kirche und dem Christentum abträglich ist, kann nicht zweifelhaft sein, und diese Schäden lassen sich nur durch eine Auffüllung des priesterlichen Nachwuchses beheben.

An der Spitze der katholischen Kirche Chiles steht der Erzbischof von Santiago, Kardinal Josef Maria Caro. Ein Mann aus dem Volke und für das Volk. Ein Priester, der schon seit 40 Jahren die bischöfliche Bürde trägt. Bei der Verleihung der Kardinalswürde in Rom schwebte der Erkrankte wochenlang zwischen Leben und Tod. Nun ist er kürzlich bei großer geistiger und körperlicher Rüstigkeit 85 Janre alt geworden. Sein Leben und sein Wirken ist vorbildlich, und er genießt größtes Ansehen. Der Kardinal kennt die Fehler und Mängel, kennt die Nöte und weiß, daß ein Aufschwung des kirchlichen Lebens in Südamerika und in Chile nur dann erfolgen kann, wenn opferbereite Priester sich finden, die bereit sind, im wahrsten Sinne des Wortes zu missionieren.

Auf diesem Kontinent ist ja so vieles auf nackten Erwerb, auf rücksichtslose Geldmacherei eingestellt. Auf diesem Kontinent empfindet man es mehr und mehr, daß der Mensch vielfach nur nochals Energiequelle gewertet wird, daß wir ein automatisch gewordenes System der Statistik, der Registrierungen, der Steuerbögen geworden sind, daß die Fanfare des Jüngsten Gerichts von dem Toben und Sausen der Maschinen auch in Südamerika in den Städten übertönt worden ist. Und daß infolgedessen aus diesen Städten auch keine Ausstrahlungen christlich-ethischer Art in genügendem Maße auf das Land hinausgehen. Immer im allgemeinen gesehen und von rühmlichen Ausnahmen abgesehen. Aus diesen hier nur angedeuteten, rein materiellen Erwägungen heraus betrachtet, wird auch der Zuzug der Bevölkerung aus den weiten Landstrichen in die Großstädte immer stärker — ganz gleich ob es sich um Santiago de Chile, um Buenos Aires, um Rio de Janeiro oder Sao Paulo handelt — und damit werden auch die Probleme des kirchlichen Lebens immer dringlicher.

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