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Von den Tropen zur Arktis

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Nur ein Land kann sich dieser Ausdehnung rühmen. Lang und schmal wie Norwegen, ragt es im Norden in eine Landschaft, die sich mit Nordafrika vergleichen läßt, und im Süden in eine, die dem Pol so nahe scheint wie Spitzbergen. Dazwischen liegt alles, was man sich an Landschaft wünschen kann: Wüsten, die an die Sahara, Schneegipfel, die an die Alpen erinnern; eine Großstadt, etwa wie München, aber am Fuße von Schneebergen, die bis zu 7000 Meter emporragen; Seen und Gletscher-spitzen, die einen Teil der argentinisch-chilenischen Schweiz Südamerikas bilden, so groß wie die Schweiz, fast so schön wie die Schweiz; Felder und Weinberge wie in Italien; Gletscher, die bis ans Meer reichen, wie in Alaska und Neuseeland. Diese so verschiedenen Landesteile sind verbunden durch eine relativ einheitliche Bevölkerung und eine Fluglinie, wo Mangel an Straßen und Bahnen sie trennt.

Dies Land ist Chile, eines der eigentümlichsten, gesegnetsten Länder der Erde, dessen Stellung im Rahmen der drei großen ABC-Staaten Südamerikas (Argentinien, Brasilien, Chile) sich Europäern, etwas plump, so verdolmetschen läßt: man denke sich in das Europa vor 50 Jahren zurück; da war das Verhältnis von Rußland zu Deutschland und Oesterreich etwa so wie das von Brasilien zu Argentinien und Chile heute. Das eine Land mit den ungeheuren ungenützten Naturschätzen gegenüber dem von der Natur relativ ärmer bedachten, aber besser organisierten, und schließlich das weniger reiche, aber schönere Land mit einer Bevölkerung, die nicht so hart zu arbeiten, aber das Leben besser zu genießen verstand.

Aehnliche Kräfte der Natur und der Geschichte erzeugen ähnliche Wirkungen. Durch Jahrhunderte, unter der sterilen spanischen Verwaltung, verhielt sich die Westküste zur Ostküste Südamerikas wie die Mittelmeerländer zu Mittel- und Nordeuropa im Altertum. Der

Osten, also das heutige Argentinien, Uruguay, Brasilien, bot nichts von dem, was man als der Ausbeutung würdige Schätze betrachtete. Wilde Bevölkerung, ohne Bildung und Verbindung, mit ärmlichstem Ackerbau und primitivster Viehzucht und, vor allem, ohne Minen, bot wenig Anreiz für Besiedlung und Entwicklung. Das änderte sich erst in den letzten 150 Jahren durch Einwanderung von Menschen, meist aus Südeuropa und Deutschland, und von Kapital, fast ausschließlich aus England. Und wäre England nicht 1806 in der Schlacht in Buenos Aires, nach der noch die Straßen Defensa und Recon-quista benannt sind, unterlegen, so hätten Argentinien und Chile sich so entwickelt wie Ost- und Westkanada.

Zurück von dem faszinierenden „wenn“ der Geschichte zu dem meist trüberen „ist“. Vor 50 Jahren hatte Argentinien Chile schon eingeholt, ja überflügelt. Aber Chile war noch ein reiches Land, das in manchen Jahren gierig eine Einwanderung von 10 Prozent seiner Bevölkerung verschlang und dadurch rasch noch reicher wurde, denn der Satz „Menschen sind das beste Kapital eines Landes“ ist mehr als eine Phrase. Sein mobiler Reichtum steckte in Salpeter und in Kupfer, sein noch ziemlich immobiler in dem unerschöpflichen Reichtum seiner Wälder und Felder und seines Fremdenverkehrs. Der Salpeterreichtum wurde durch den künstlichen Stickstoff erstickt, sein Kupfer verlor mit steigenden Löhnen von seiner Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten, Landwirtschaft und Industrie füllten die Lücke nicht rasch genug aus, der Fremdenverkehr blieb weit hinter den Möglichkeiten zurück, das Land wurde ärmer. Seine politischen Führer wollten das weder sehen noch gestehen. Sie führten Wohlfahrtsgesetze ein, als ob es reicher geworden wäre. Wünschenswerte, aber exzessive Gesetze, welche die noch jungen, noch schwachen Unternehmen nicht tragen konnten, und welche den Arbeitswillen nicht gerade förderten. Bürokratische Verwaltung, die die Bedürfnisse der Wirtschaft nicht versteht und gar nicht verstehen will; Parteien wirtschaftlich“ halbgebildeter Alphabeten, die Einkommen nicht in Gütern, sondern in Papierscheinen werten und Wähler und Arbeiter mit papierenen Erfolgen täuschen; kommunistische und kommunoide Parteien, die die Schwächung des Kapitals als Selbstzweck fördern, haben eine unvermeidliche Folge: Ent-güterung und Inflation. Denn Menschen kann man täuschen, aber nicht die Wirtschaft. Der Peso, der nach dem ersten Weltkrieg ,auf 20 Dollarcent stand, steht heute auf l/llOO eines auch auf ein Drittel gesunkenen Dollars.

Ganz kürzlich ist aber etwas eingetreten, das vielleicht eine Wandlung herbeiführen kann. In der letzten Präsidentenwahl hat Alessandri seine drei Gegenkandidaten, von denen nur zwei ernst zu nehmen waren, einer aber verheerend gewirkt hätte, besiegt. Seine Partei kann das Land vielleicht aus dem wirtschaftlichen Chaos herausführen, das während der Wahlzeit durch einen Plakatwald von Bildern und Sprüchen über den Straßen der schönen Hauptstadt Santiago versinnbildlicht war. Sie mag Chile zu einem der wenigen Länder Lateinamerikas machen, in dem der Inländer investieren kann, ohne ein Opfer der Politiker und Steuereinnehmer zu werden, und ein Ausländer, ohne ein Ignorant oder Hasardeur zu sein. Pourvu que cela düre! Ehrlichkeit und Nützlichkeit einer Partei stehen oft in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Lebensdauer. Was könnte aus diesem herrlichen Land mit einer fleißigen Bevölkerung — wenn sich das Arbeiten lohnt! — mit belohnter Hilfe von außen und innerem Wirtschaftsfrieden in wenigen Jahren werden!

Herrliches Land — ist das nicht übertrieben? Man braucht nur von Santiago mit dem Hügel und dem Berg in de Mitte der Stadt vor dem Hintergrund der Schneeberge, mit seinen Palästen und Parks-Im Blütenschmuck, -das einst neben Buenos Aires-Paris das Brüssel Südamerikas war, mit der chilenischen Luftlinie LAN (Line Aerea Nacional), einer der wenigen nationalen Fluglinien, die nicht auf überflüssiger Großmannsucht beruhen, die lange Andenkette entlang nach Norden bis an die peruanische Grenze oder nach Süden bis zur Südspitze des Landes und des Kontinents zu fliegen, um die genützten und die ungenützten Möglichkeiten des Landes zu erkennen. Ueber blühende Felder und Weinberge, eine Kette von Städtchen und Dörfern, an wenigen Fabriken und einigen Minen vorbei, stets die sich nach Süden langsam senkende, aber immer weiße Schneekette der Anden vor Augen, über die Seen und Berge der südamerikanischen Schweiz hinüber, die wirklich von einem Schweizer erschlossen und meist von Deutschen entwickelt wurde, über die unabsehbaren Wälder mit ihren Edelhölzern, dann die argentinische Pampa Patagoniens kreuzend, bis zur südlichsten Stadt der Erde, Punta Arenas, hinunter, überfliegt man genug wirtschaftliche Möglichkeiten, um das Dreifache der sieben Millionen Chilenen besser zu ernähren und wirtschaftlich und geistig zu heben. Man braucht sich nur diese Fluglinie zum Muster nehmen, die mit bescheidenen Mitteln, ohne überflüssigen Luxus, erschwinglichen Preisen und guter Organisation die Leistungsfähigkeit des Volkes hebt, indem sie Teile des Landes, die sonst nur in Tagen oder Wochen zu erreichen wären, in Stunden verbindet. Mit Sicherheit für ausländische Kapital gegen Angriffe von oben, für inländisches Kapital gegen Angriffe von unten, mit der Ausnützung der Goldgrube des Fremdenverkehrs bei billiger Währung und mit Arbeit, die sich in Gütern und nicht in Geldscheinen widerspiegelt, könnte sich in einem anderen Winkel der Erde das Wunder des Aufstiegs Oesterreichs in einem Jahrzehnt wiederholen. Wird sich dieses „wenn“ der Wirtschaft in ein „ist“ verwandeln?

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