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Einmarsch in den Wohlstand

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Der Tourist und auch der Journalist, der sich während 14 Tagen in Spanien aufhält, um sich ein „umfassendes Spanienbild“ an Band von Augenschein in Großstädten, Entwicklungszentren und Tourismusknotenpunkten, untermauert und erweitert durch Gespräche mit publicitybewußten Offiziellen und Offiziösen, zu verschaffen, wird befriedigt feststellen, daß in Spanien innerhalb von wenigen Jahren der' Wohlstand ausgebrochen ist. Nach dem deutschen Wirtschaftswunder also nun ein spanisches. Nur ohne Marshallplangelder... Dafür aber mit einer Touristenflut-von jährlich mindestens 14 Millionen Sonnenhungriger und mit Lopez Rodo, Vater des Entwicklungsplanes und derzeit prominentestes spanisches Opus-Dei-Miitgüied. 1964 setzte er seinen ehrgeizigen Plan in Marsch, gestützt auf ein weiches Devisenpolster aus Tourismusboom und Überweisungen der spanischen Gastarbeiter, die dem Land einen Zah- lungsbilanzüberschuß von 296,2 Millionen Dollar beschert hatten.

Ins Blaue geplant?

Ziel des Plans ist, allgemein aus- gedrückt, die möglichst schnelle Hebung des Lebensniveaus unter Beobachtung der wirtschaftlichen Stabilität und der sozialen Dynamik. Zu diesem Zweck begann eine Industrialisierung ohnegleichen, die den Export ankuibeiln und Spanien zum Selbstversorger auf verschie denen Gebieten machen sollte. Spaniens Volkswirtschaf Her — sofern sie nicht zur Equipe des Entwicklungsplans gehörten — warnten vergeblich vor der dadurch bedingten Importlawine, der Vernachlässigung der Landwirtschaft durch die Abwanderung von Arbeitskräften in Großstädte und Entiwick- lungszentren, in denen der Landbevölkerung neben höheren Löhnen ein modernes Leben winkte. Heute sieht man ein, daß die Kritiker nicht ganz unrecht hatten, und man läßt sie, dank der in diesem Jahr gewährten Pressefreiheit, zu Wort kommen. Was sie zu sagen haben, klingt nicht übermäßig ermutigend, aber auch nicht niederschmetternd.

Die Planziele, so behaupten sie, seien teils zu hoch, teils zu niedrig gesteckt. Als Wachistumsrate für das Bruttonationalprodukt sind sechs Prozent vorgesehen, aber bereits 1962 betrug das Wachstum zehn Prozent. Die Wachstumsrate wurde absichtlich niedrig gehalten, um keine Inflation zu verursachen. Trotzdem hat sich zumindest ein Inflatiönchen eingestellt. Im ersten Jahr des Entwicklungsplans stiegen die Lebenshaltungskosten laut offizieller spanischer Statistik um 13,5 Prozent, im Vorjahr um 9,4 Prozent. Die OECD verbucht auf dem spanischen Konto für 1964 auf dem am schwersten in Mitleidenschaft gezogenen Sektor, den Lebensmitteln, eine 25prozentige Preiserhöhung; ein unerwünschter

Rekord, der zustande kam, weil die Importschleusen zu schnell geöffnet und der Nachholbedarf des spanischen Konsumenten groß war. Preis- und damit Inflationsbremsan hatte man in die ungeheure Maschinerie des Plans kaum eingebaut. Heute versucht man es mit Einschränkungen der Kredite, die vor allem vom Bauwesen exzessiv in Anspruch genommen wurden, was ein Baufieber zur Folge hatte. Im Wohnungsbau — vor allem im spekulativen, der sich in einem Überangebot von Luxuswohnungen zu für den durchschnittlichen Wohnungssuchenden Spanier unerschwinglichen Phantasiepreisen äußerte (zehn- bis dreißigtausend Peseten in Madrids modernstem Viertel an der Avenida dėl Generalisimo) — wurde das Plansoll haushoch übertroffen.

Spanische „Kinderkrankheiten"

Verschiedentlich versuchte man die Inflation in Spanien verschämt als einen allgemeinen Prozeß der europäischen wirtschaftlichen Entwicklung hinzustellen. Die Kritiker dieser Theorie entlarvten sie als eine Entelechie der Technokraten, mit der sie die Unterlassungssünde einer gerechten Analyse der sektorialen Nachfrage verhüllen wollten. Wenn eine zu große Spannung zwischen Angebot und Nachfrage besteht, kommt es unweigerlich zu einer Ge- samitinflation. Die Gesamtnachfrage aber über eine Einkommens-Politik zum Zweck der Lohnbremsung zu drücken, ist nichts weiter als eine Entkräftung der Gründe für die Inflation. Auf was es in Spanien ankommt, ist eine Kontrolle der Akku- mulaitionsquellen des Kapitals, in anderen Worten also das Verhindern einer hemmungslosen Gewinnspekulation.

Ein weiterer Grund des spanischen Inflatiönchens ist die im Plan stiefmütterlich behandelte Landwirtschaft, in der 37 Prozent der Bevölkerung tätig Sind. Obzwar in den letzten Jahren großartige und erfolgreiche Bewässerungs- und Kolonisationprojekte durchgeführt wurden — wie zum Beispiel der so oft als Musterbeispiel bemühte Plan Badajoz —, ist das hervorstechendste Merkmal der spanischen Agrikultur ihre Rückständigkeit. Sie ist erklärlich aus dem Protektionismus der Großgrundbesitzer, der den freien Wettbewerb nicht aufkommen läßt. Hohe, staatlich bestimmte Festpreise, wie zum Beispiel der Getreidepreis, unterstützen zwar den Kleinbauern, mästen aber gleichzeitig mühelos das Bankkonto des Latifundienbesitzers. Eine echte Landreform könnte hier Abhilfe schaffen, doch dürfte sie in Anbetracht der Tatsache, daß der Großgrundbesitz eng mit den Finanzoligarchien verbunden ist, nur grüne Theorie bleiben.

Die Durststrecke ist überwunden

Trotz dieser ungewollten Entwicklung der spanischen Gesamtwirtschaft — die in Spaniens Zeitungen mit dem entschuldigenden Wort „Kinderkrankheiten“ bedacht wird — hat es das Land in erstaunlich kurzer Zeit herrlich weit gebracht. Der auffallendste statistische Beweis dafür ist die von 1959, dem Stabilisierungsjahr der Peseta, bis heute erfolgte Verdoppelung des Stahlverbrauchs, der Elektrizität, des Zements und der Erdölprodukte. Außerdem: Pro Jahr werden 300.000 neue Arbeitsplätze geschaffen, der Emigrantenrückgang beträgt 27 Prozent.

Wirtschaftlich hat das Land die Durststrecke, die es bis zum Stabilisierungsplan und bis zum Anlaufen des Entwicklungsplans zu durchlaufen hatte, schon längst überwunden. Ergründen zu wollen, ob dies einzig und allein durch letzteren erreicht wurde — oder trotz des Plans, wie diejenigen behaupten, die den Aufschwung Spaniens nur als eine Folgeerscheinung von Tourismus, größerer Kapitalanlagefreudigkeit, Rationalisierung und Gastarbeiterboom auslegen —, hieße, sich jetzt, nach der ersten Halbzeit des Plans, in eine sinnlose Salbaderei einlassen. Darüber hinaus ist der Plan nur die erste Etappe des spanischen Eilmarsches in den Wohlstand; ein zweiter Plan ist bereits in Vorbereitung. Er soll die Strukturen berücksichtigen, also nach Produktionssektoren und nicht nach Regionen ausgeriehtet sein, und im großen und ganzen die Unebenheiten seines Vorgängers ausbügeln. Seinem Gelingen steht nichts im Weg, es sei denn die herbeigesehnte und gleichzeitig gefürchtete Assoziierung mit dem Gemeinsamen Markt, die man mit bundesrepublikanischer und französischer Fürsprache zu erreichen hofft.

Das im allgemeinen mehr denn je optimistische wirtschaftliche Bild Spaniens bedeutet aber noch nicht, daß die 32 Millionen Spanier gleichmäßig an diesem Aufschwung teilhaben. Es wäre falsch und bösartig, zu behaupten, daß es noch hungernde Spanier gibt. Höchstens einseitig ernährte, was jedoch nicht Frage des Einkommens, sondern der alten Vorliebe für Brot, Hülsenfrüchte und ähnliche stärkehaltige Nahrungsmittel sowie Eier ist.

Das andere Spanien

Der breite Wohlstandsgürtel aus Ferienorten, explosionsartig wachsenden Großstädten und industriellen Entwicklungszentren hat sein graues Gegenstück in dem vergessenen Ödland, den Hochebenen und Gebirgsnestern Extremaduras, Andalusiens und Asturiens, in den schmutzigen alten Arbeitervierteln im Weichbild der Millionenstädte. Steppe, Staub und Stein bestimmen einen Teil des Spanienbildes, das Jahrzehnte hindurch als schwarze Legende im Ausland umging und das mühevoll durch Fortschritt, Tourismus und geschickte Werbung abgetragen wurde.

Hin und wieder tauchen in der spanischen Presse Notizen auf über zum Verkauf angebotene Dörfer in Gegenden, in denen die Zeit stillsteht. Im Ausland werden sie als Kuriosität aufgegriffen, über deren Hintergründe sich keiner den Kopf zerbricht. Dabeii sind die sterbenden Dörfer das Symptom einer erschrek- kenden Entwicklung: der Landflucht, deren Ausmaß durch die Abwanderung von einer halben Million Landarbeiter in einer Zeitspanne von nur drei Jahren erkennbar wird. Nach offiziellen Ziffern sind 73 Prozent der Gemeinden von der Entvölkerung betroffen. Was in ihnen zurückbleibt, sind die Alten, die in der einheimischen Industrie oder als Gastarbeiter keine Aussicht auf Beschäftigung haben. Saisonale Arbeitslosigkeit, harte und schlecht bezahlte Arbeit in den stark feudalistische Züge aufweisenden Provinzen Süd- und Südwestspaniens, ertragsarmer Boden sind nicht allein die Gründe für den Zug nach der Stadt.

Wenn sie auch nicht allzuviel vom städtischen Wohlstand, von den Bildungs- und Vergnügungsmöglichkeiten abbekommen können, so wollen sie wenigstens davon kosten.

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