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Kalter Wind für Wirtschaftswunderleute

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Bilanzziffern der deutschen Börse mögen für die Bevölkerung oft zu abstrakt sein. Was der einzelne indes hautnah zu spüren bekommt, ist — weit mehr noch als der relativ glimpfliche Preisanstieg — die viel tiefer einschneidende, den Lebensstandard kraß bedrohende Arbeitslosigkeit: Aber nicht bloß der kleinere oder größere persönliche Wohlstand sind gefährdet, sondern auch die Existenzen einer erschreckend hohen Zahl ganzer Familien. Zum Sommeranfang zählte die Bundesrepublik mehr als eine Million Arbeitslose und weit mehr als 800.000 Kurzarbeiter, dazu eine marktbedingte Abwanderung von rund einer halben Million Gastarbeitern. Schwindsuchtssymptome, die seit Jahrzehnten unbekannt sind.

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Bilanzziffern der deutschen Börse mögen für die Bevölkerung oft zu abstrakt sein. Was der einzelne indes hautnah zu spüren bekommt, ist — weit mehr noch als der relativ glimpfliche Preisanstieg — die viel tiefer einschneidende, den Lebensstandard kraß bedrohende Arbeitslosigkeit: Aber nicht bloß der kleinere oder größere persönliche Wohlstand sind gefährdet, sondern auch die Existenzen einer erschreckend hohen Zahl ganzer Familien. Zum Sommeranfang zählte die Bundesrepublik mehr als eine Million Arbeitslose und weit mehr als 800.000 Kurzarbeiter, dazu eine marktbedingte Abwanderung von rund einer halben Million Gastarbeitern. Schwindsuchtssymptome, die seit Jahrzehnten unbekannt sind.

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Bezogen auf den Jahresdurchschnitt (so meint man bei der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg), muß das Wirtschaftswunderland der fünfziger und sechziger Jahre 1975 mit rund einer Million Bürgern ohne Arbeit rechnen. Die Bundesregierung hat kürzlich ihre Durchschnittsschätzung der Zahl der Beschäftigungslosen für dieses Jahr offiziell noch mit 900.000 angegeben. Das „Institut der Deutschen Wirtschaft“ in Köln veröffentlichte vor wenigen Tagen eine Hochrechnung, wonach die Arbeitslosenstatistik heuer bei 5,4 Prozent liegen wird.

Zudem spiegelt der Rückgang der Bestellungen von Gütern bei der Industrie um 17 Prozent das Tempo wider, mit dem sich die Wirtschaft auf Talfahrt befindet. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres ging der Außenhandel um 13 Prozent bergab. In früheren Jahren wirkte der Export eher antizyklisch: er konnte eine sinkende Binnennachfrage weitgehend ausgleichen. Zum erstenmal nach dem Krieg erlebt die Bundesrepublik, daß das Durchsacken bei den Ausfuhren voll auf die Binnenwirtschaft zurückschlägt. Der Wind bläst diesmal den Deutschen mit Exporteinbußen von solcher Heftigkeit ins Gesicht, daß sich diese durch kein wie auch immer forciertes Hochpäppeln der inländischen Nachfrage mehr wettmachen lassen. Die deutsche Wirtschaft, die sich wegen nicht allzugroßer Bodenschätze oder weitläufiger Agrarstrukturen naturgemäß primär an der Industrieproduktion ausrichtet, ist denn auch vom Weltexport abhängiger als die meisten anderen Länder. Der diesjährige Außenhandel wird sich aber voraussichtlch gegenüber dem Vorjahr im Durchschnitt um ein weiteres Abfallen zwischen 8 und 9 Prozent einpendeln. Dieses förmliche Delirium macht das Deutsche Wirtschaftsinstitut in erster Linie für die Rezession verantwortlich. Die Experten der unternehmerorientierten Anstalt sprechen von einer „importierten Rezession“. Ein Alibi für die Bonner Regierung, die monatelang selbst so viel über „importierte Inflation“ klagte? Oder eine verklausulierte Aufforderung, endlich mit spürbaren Steuererleichterungen die Investitionen anzuregen?

Der Aufschwung wurde von der Regierung und dem ihr nahestehenden Bundesbankpräsidenten Karl Klasen seit fast einem Jahr für spätestens Frühsommer 1975 so gut wie zugesagt. Freilich mit den handfesten Irrtümern zweckoptimistischer Berufspropheten. So hatten sich die Teilnehmer der sogenannten „Konzertierten Aktion“, bestehend aus den Spitzen von Regierung, Wirtschaft, Banken und Gewerkschaften, schon Anfang Juni in Bonn zu einem Treffen eingefunden, um, wie ursprünglich geplant, nach der langen Nacht der Flaute das Morgenrot zu feiern. Doch der Champagner blieb im Keller, ebenso wie die Konjunktur.

Die Bilanz nach 15 Monaten Bonner Wirtschaftspolitik unter Kanzler Helmut Schmidt zeigt einen Ablauf nahezu permanenter Widersprüche des Kabinettschefs in seinen Voraussagen über einen bevorstehenden Konjunkturfrühling. Inmitten der tiefsten Depression, zumindest seit 1945, warnt Schmidt neuerdings vor den inflationären Gefahren eines zu jähen weltweiten Anstieges der Wirtschaftskurve. Auch das klingt sehr verwirrend — und doch wird darin das Dilemma jeder Politik deutlich:

Denn Konjunkturen entwickeln sich nur im Zeitlupentempo, und selbst massive Wachstumsspritzen wirken frühestens erst nach einem Jahr.

Das eigentliche Drama der deutschen Wirtschaft spielt sich vor dem für den einzelnen freilich zuwenig faßbaren, enorm wachsenden Schuldenberg der öffentlichen Kassen ab, der heute fast 250 Milliarden, also etwa 4000 DM pro Kopf der Bevölkerung beträgt. Davon wird allein in diesem Jahr der Staat die Löcher in seinen Tresoren mit Krediten von fast 30 Milliarden Mark flicken müssen. Gewiß kein dauerhafter Ausweg, denn die Staatsverschuldung hat sowohl haushaltsrechtliche als auch wirtschaftliche Grenzen. Aber die Rezession reißt immer tiefere Krater. Die Steuereinnahmen fallen geringer aus, als noch vor Monaten erhofft. Und die Ausgaben für die Ankurbelung der Wirtschaft und zur Überwindung der hohen Arbeitslosigkeit klettern weiter hoch.

Obendrein wird die Investitionsbereitschaft der Unternehmer durch politische Forderungen wie paritätische Mitbestimmung nach DGB-Muster und sogar Investitionslenkung kräftig gebremst. Zusätzlich steckt ihnen der Ölschock noch in den Gliedern. Die schlechte Absatzlage im Inland sowie der heftige Rückschlag auf den Auslandsmärkten im ersten Halbjahr 1975 verschreckten ebenfalls. Überkapazitäten, schlechte Ertragslage, hohe Sozialbelastungen und politische Unsicherheit lassen sich mithin als Haupthindernisse einer gesteigerten Investitionsfreude ausmachen. Auch Aufwendungsprämien halfen da bisher nicht.

In der Bauwirtschaft herrscht nach wie vor Superflaute. Die stärksten Einbrüche muß der Wohnungsbau verzeichnen. Die Branche war mit ihrer Kapazität in den vergangenen Jahren weit über das Ziel hinausgeschossen. Ein ungesunder Boom hatte Strukturschwächen überdeckt. Der mörderische Preiskampf bewirkt einen bisher ungehemmten Ertragsrückgang. Die Initiativen zu Investitionen sinken ständig. Für den Spätsommer hat die Bundesregierung dieser Tage eine Unterstützung der Bauwirtschaft, hauptsächlich durch öffentliche Aufträge, in Aussicht gestellt. Altbaumodernisierung und Förderung des Eigentumswohnbaues dürften dabei die Schwerpunkte bilden. Indes hat der Hauptverband der deutschen Bauindustrie seine schon seit Monaten erhobene Forderung nach einem 10-Milliarden-DM-Pro-gramm wiederholt. Der mit am lautesten stöhnende Wirtschaftszweig verlangt außerdem die Abschaffung der Grunderwerbssteuer.

Am Himmel der deutschen Automobilindustrie zeigen sich zwar vereinzelt Schwalben; von einem Sommer, den sie machen sollen, kann jedoch keinesfalls die Rede sein. Selbst der gelegentlich beschworene „begrenzte Autofrühling“ erscheint angesichts der verhaltenen Nachfrage auf den In- und Auslandsmärkten als eine zu euphorische Bezeichnung. Gewiß, die Zulassungen fabrikneuer Autos deutscher Produktion stiegen im ersten Halbjahr 1975 im Verhältnis zu den ersten sechs Monaten des Vorjahres leicht an. Einige Firmen stellten nach Kurzarbeitsphasen sogar wieder Beschäftigte ein. Dabei spielte freilich die Investitionsförderung Gewerbetreibender für Bestellungen vor dem 30. Juni eine gewisse Rolle. Außerdem schlagen bei Lastwagen und Bussen auch Aufträge aus Nahost zu Buche. Doch der anfangs so freudig begrüßte, bescheidene Aufwärtstrend der Inlandsnachfrage gut bei näherer Betrachtung nur einigen Fahrzeugtypen. Vor allem aber der Export von Personen- und Kombiwagen lag in der ersten Hälfte dieses Jahres trotz gewisser partieller Steigerungen insgesamt um 30 Prozent unter den Vorjahresbilanzen. So sank die Produktion von Personen- und Kombikraftwagen im ersten Halbjahr 1975 mit 1,55 Millionen Einheiten um 11,1 Prozent unter die Vergleichsdaten des letzten Jahres.

Das deutsche Auto läuft und läuft noch längst nicht über den Berg: Wie die Industriesparte ihre Zukunft selbst einschätzt, wird an den bisher nie gekannten, nun geradezu ängstlich hochgeschraubten Garantiefristen für die Wagen ersichtlich.

Der Maschinenbau, einst ruhmreiches Wahrzeichen deutscher Leistungsfähigkeit, gerät zusehends in größere Schwierigkeiten. Bei diesem wichtigsten Lieferanten von Ausrüstungsgütern zog die mit Juni ausgelaufene Investitionszulage so gut wie überhaupt nicht. Da der bisherige Exportanteil der Branche 44 Prozent betrug, wirkte der Einbruch auf den Auslandsmärkten besonders stark. Überall in der Welt drosseln Unternehmer ihre Investitionen. Maschinen „Made in Germany“ sind immer weniger gefragt. Nach bisherigen Berechnungen wird sich der bundesdeutsche Maschinenbau 1975 mit einem Produktionsrückgang von etwa 5 Prozent abfinden müssen.

Schlecht steht es auch um die Stahlindustrie. Noch bis vor einem Jahr war sie der strahlende Konjunkturheld mit Wachstumsrekorden. Doch nach dem Hoch von 1973 und

1974 kam die Baisse. Die Preise verfielen. Denn wo man nicht baut, wo weniger Autos und Maschinen produziert werden, wird Stahl überflüssig. Die deutsche Stahlindustrie geriet voll in den Niedergangssog des Binnen- und des Weltmarktes. Die Auftragseingänge in den ersten fünf Monaten dieses Jahres waren um 35 Prozent niedriger als im Vorjahr. Die Stahlindustrie zählt gegenwärtig rund 60.000 Kurzarbeiter. Das sind etwa 18 Prozent aller in diesem Wirtschaftszweig Beschäftigten.

Als Folgewirkung wiederum erschreckt die Lage im größten deutschen Industriezweig, der Chemie, besonders. Auf sie frißt sich die Rezession in anderen Bereichen, vom Auto- bis zum ölgeschäft, schlechthin zermürbend durch. Die tiefste Kerbe schlug auch hier der Export. Noch bis Anfang dieses Jahres gingen die Geschäfte relativ gut. Doch seit einigen Monaten herrscht Ebbe im Auslandsgeschäft. Umsatzrückgänge gibt es vor allem bei Kunst-

Stoffen, Farben und Lacken. Die Riesen der Branche, BASF, VEBA-Che-mie und Bayer, mußten Kurzarbeit anmelden.

Die Elektroindustrie meldet im bisherigen Jahresverlauf einen Auftragsschwund von 13 Prozent aus dem Inland und 18 Prozent aus dem Ausland. Einem zehnprozentigen Produktionsminus stehen vorerst 7 Prozent weniger Beschäftigte gegenüber.

Die Textil- und Bekleidungsindustrie sitzt bereits zwei volle Jahre im Wellental. Auch ihr konnte die Investitionsprämie nicht helfen. 1974 war ein besonders schlechtes Jahr. Konjunkturelle und strukturelle Schläge potenzierten einander buchstäblich. Viele Betriebe mußten schließen. Arbeitsplätze gingen verloren, und Kurzarbeit wurde geradewegs zur Regel. Für 1976 hoffen die Textilökonomen zaghaft auf Besserung. Bis dahin wird freilich noch so mancher in der Branche auf der Strecke bleiben.

Die deutschen Wertpapierbörsen haben neuerlich starke Kursverluste gemeldet. Finanzexperten führen die Baisse vor allem darauf zurück, daß die Bundesregierung, die erst nach den letzten großen Landtagswahlen von ihren Aufschwungversprechen für den Sommer abgerückt ist, nun im kommenden Winter mit mindestens so vielen Arbeitslosen rechnet wie zu Anfang 1975. Daran kann die für den Jahreswechsel erhoffte internationale Tendenzwende nichts Entscheidendes ändern, auch wenn vorerst die relative soziale Sicherheit der Arbeitslosenunterstützung und die verhältnismäßig stabilen Verbraucherpreise anderen EG-Ländern noch als Vorbild erscheinen. Denn schon droht eine neue Ausgabenflut: Die Bundesanstalt für Arbeit muß weit mehr Arbeitslosengelder ausbezahlen, als noch vor Monaten erwartet. So sieht sich Finanzminister Hans Apel gezwungen, im Herbst einen Nachtragshaushalt einzubringen, der zwischen sieben und acht

Milliarden Mark liegen wird, aber zunächst weder neue große Investitionen noch mehr Arbeitsplätze hervorzaubern kann: Der Nachtragshaushalt wird knapp die Einnahmelücken durch die Steuerausfälle der Beschäftigungslosen und das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit decken.

Indes lanciert das Bonner Kabinett gegenwärtig Pressemeldungen, wonach die Regierung fest entschlossen ist, schon Ende August oder Anfang September in Absprache mit den übrigen EG-Ländern der Konjunktur mit einem neuen milliardenschweren Ankurbelungsprogramm auf die Sprünge zu helfen. Um diese Zeit nämlich sollen auch exaktere Informationen über die Entwicklung in den Vereinigten Staaten vorliegen.

Das Kölner „Institut der Deutschen Wirtschaft“ hat jetzt Berechnungen vorgelegt, wonach das bundesdeutsche Bruttosozialprodukt im laufenden Jahr um 3,5 Prozent — in absoluter Zahl: um 20 Milliarden Mark — sinken wird. Noch zu Jahresbeginn hatte das „Institut für Wirtschaftsforschung“ in München, zunächst aus Köln unwidersprochen, ein zweipro-zentiges Wachstum der Volkswirtschaft kalkuliert. Das Investitionsvolumen der deutschen Wirtschaft wird nach den Schätzungen der Kölner Experten im Vor Jahres vergleich heuer um 6 bis 6,5 Prozent rückläufig sein. Für die Industrieproduktion sagt die Anstalt eine Verringerung um rund 7 Prozent voraus. Die Binnennachfrage soll weitgehend konstant bleiben, könnte also mithin das Außenhandelsdefizit nach wie vor nicht ausgleichen. Die Preissteigerungen werden im Jahresdurchschnitt auf 5 bis 6 Prozent geschätzt. Ein schwacher Lichtblick: Das Realeinkommen der Privathaushalte wird 1975 der Kölner Wirtschaftsstudie zufolge doppelt so stark als im letzten Jahr, nämlich um 3,5 Prozent, wachsen.

Über die nächsten Lohnrunden hört man aus dem Bonner Kabinett Widersprüchliches: Während Regierungssprecher Armin Grünewald für den kommenden Herbst einen „Spielraum“ in der Lohnpolitik prophezeite, bemerkte der Bundeskanzler vor kurzem in einer Rede vor Bremer Arbeitern düster, die Weltwirtschaft befinde sich schließlich in der tiefsten Rezession der letzten 30 Jahre ...

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