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Aufschwung — eine Worthülse

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Noch ist unklar, wie es nach der schwersten Rezession in Deutschland seit Beginn der Dreißiger] ahre mit der Wirtschaft weitergehen soll. Die Folgen der Krise haben sich bisher kaum spürbar verringert. Von den mit Euphorie gepflasterten Irrtümern des Vorjahres ist im Wirtschaftsbericht der Bundesregierung denn auch nicht viel übrig geblieben.

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Noch ist unklar, wie es nach der schwersten Rezession in Deutschland seit Beginn der Dreißiger] ahre mit der Wirtschaft weitergehen soll. Die Folgen der Krise haben sich bisher kaum spürbar verringert. Von den mit Euphorie gepflasterten Irrtümern des Vorjahres ist im Wirtschaftsbericht der Bundesregierung denn auch nicht viel übrig geblieben.

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Daß das Hauptproblem Arbeitslosigkeit selbst bei Eintreffen des prognostizierten Wirtschaftswachstums heuer nicht in den Griff zu bekommen ist, machen die Hochrechnungen bereits jetzt deutlich. Doch auch die Arbeitsmarktvorausschau für die kommenden Jahre bleibt trotz der für 1976 erhofften Rekonvaleszenz des Welthandels düster. Nach dem Jahresbeginn hatte Regierungschef Helmut Schmidt in der Bundestagsdebatte über die Lage der Nation zwar wieder einmal, wenngleich schon etwas gedämpfter, den bevorstehenden Aufschwung angekündigt. Aber die Bundesrepublik krankt derzeit an der höchsten Arbeitslosenrate seit 1959. Anfang Februar hatten 1,351.000 Männer und Frauen keine Beschäftigung. Das sind 127.600 mehr, als noch vier Wochen zuvor. Zu den Erwerbslosen zählen allein 125.000 von den Arbeitsämtern registrierte Jugendliche. Hinter ihnen steht allerdings noch eine alarmierend hohe Dunkelziffer, weil die Statistik nur jene erfaßt, die schon einmal berufstätig waren. So tauchen beispielsweise alle Schulab-

gänger, die nirgendwo unterkommen, in keiner Erhebung auf. Aber sogar der offiziell ermittelte Prozentsatz wäre größer, wenn nicht viele Jugendliche mangels Arbeit oder Ausbildungsplatz eher unfreiwillig auf weitere, für die Praxis meist überflüssige Schulbesuche auswichen, um wenigstens kurzfristige, frustierende Uberbrückungs-Jobs zu vermeiden.

Mithin stieg die Arbeitslosenquote just innerhalb eines Monats, den die Regierung längst als Aufschwungsphase deklariert hatte, von 5,3 auf 5,9 Prozent. Am stärksten betroffen sind die Bereiche Handel und Verwaltung mit 278.000 Personen ohne Anstellung. In den Metall- und Elektroberufen gibt es 221.000 und in der Baubranche 177.000 Bürger ohne Verdienstmöglichkeit. Die Zahl der Kurzarbeiter beläuft sich auf 743.300. Damit sind insgesamt mehr als zwei Millionen Menschen ohne Dienstverhältnis oder zu Kurzarbeit verurteilt. Dieser Negativrekord seit nahezu zwei Jahrzehnten läßt sich nicht bloß auf den erneuten Wintereinbruch der letzten Wochen zurückführen. Denn

die Bilanz der durch rückläufige Investitionen und Pleiten seit 1970 gänzlich von der ökonomischen Bildfläche verschwundenen Arbeitsplätze beläuft sich nach Schätzungen des Instituts der deutschen Wirtschaft schon allein auf über eine Million. Daß mittlerweile die Zahl der offenen Stellen gegenüber Dezember leicht gestiegen ist, reicht kaum als Trostpflaster, am wenigsten für die Erwerbslosen selbst.

Die Hoffnungen auf eine heuer endlich einsetzende echte Erholung des Arbeitsmarktes sind denn auch allenthalben mehr als bescheiden geworden. Selbst der von der Bonner Regierung vorgelegte Jahreswirtschaftsbericht geht für 1976 von einer Million Arbeitsloser aus. Die Computer des Münchener IFO-Insti-tuts für Wirtschaftsforschung errechneten nahezu die gleichen Aussichten. Dabei ist in dieser Prognose bereits das von der Bundesregierung angepeilte vier- bis fünfprozentige Wirtschaftswachstum einkalkuliert.

Investitionsflaute

Der ersehnte Rückgang der Arbeitslosenstatistik und ein Steigen des Bruttosozialproduktes können freilich nur Wirklichkeit werden, wenn eine Bonner Regierung es erreicht, der Privatwirtschaft mehr Geldanlagen auf dem Inlandsmarkt schmackhaft zu machen. Sollte es allerdings bis 1979 nicht gelingen, eine von jetzt an im Vierjahresdurchschnitt gerechnete Investitionssteigerung von 9,5 Prozent herbeizuführen, dürfte die Arbeitslosigkeit noch stärker um sich greifen, als es das Kabinett in diesen Tagen voraussieht. Das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft hat jüngst sogar schon eine durchschnittliche strukturelle Arbeitslosenquote zwischen 3,5 und 4 Prozent für eine längerfristig vorhersehbare Zukunft er-

rechnet. Die Industrie wäre nämlich bereits heute in der Lage, aus dem Stand heraus mindestens 10 Prozent mehr zu produzieren, ohne einen einzigen Arbeitnehmer zusätzlich einzustellen. Diese brachliegende Kapazität muß die Wirtschaft zunächst auslasten. Doch das in den letzten Jahren latent mitgeschleppte Manko einer verfehlten oder überhaupt nicht vorhandenen Strukturpolitik für ganze Branchen, das die Arbeitslosigkeit zum großen Teil verursacht hat, läßt sich eben nicht im Blitzstart beheben. Außerdem kann das wirtschaftspolitische Ziel nicht „irgendein“ Arbeitsbeschaffungsprogramm sein, das lediglich vorhandene Kapazitäten ausnützt, sondern vielmehr ein qualifizierter Aufschwung, der eine weltmarktgerechte Ausweitung des Produktionspotentials und mehr Investitionen auf der Grundlage verbesserter Erträge mit sich bringt.

Heute muß es Schmidt vor jener freilich publizistisch vehement verdrängten Assoziation zur Wirtschaftskrise von 1966 grauen, die einst Ludwig Erhard veranlaßte, abzudanken. Der Unterschied zum Scheitern des damaligen Unions-Kanzlers, den die Sozialdemokraten wegen seiner Maßhalteappelle mit Spottiraden Übergossen hatten, be-

steht allerdings in der Tiefe der Malaise: 1966 fehlten in der Staatskasse knapp 3 Milliarden DM bei einem Haushaltsvolumen von 70 Milliarden. Der Etat für dieses Jahr offenbart ein Loch von unfrisiert weit mehr als 50 Milliarden bei einem Haushalt von etwa 170 Milliarden. 1975 nahm der Bund in einem einzigen Jahr fette 39 Milliarden Mark Schulden auf, fast dreimal so viel, als im gesamten Zeitraum von 1950 bis 1969. Zum „Ausgleich“ mußten zwischen Jänner und Dezember fast 10.000 Betriebe ihre Pforten schließen. Die Arbeitslosenziffern vor Erhards Sturz pendelten um die Halbmillionen-Marke; als sie weiter zu eskalieren drohten, trat der CDU-Kabinettschef zurück. 1975 lag die Durchschnittsquote der Beschäftigungslosen bei 1,2 Millionen, in der angeblichen Aufschwungsphase des Jahresbeginnes 1976 schnellte sie innerhalb weniger Wochen um die bereits genannten 127.600 auf 1,351.000 empor. Wen wundert's, daß der Begriff „Aufschwung“, mit dem Schmidt seit über einem Jahr in immer kürzeren Abständen und vor Landtagswahlen besonders suggestiv jonglierte, mittlerweile im Verständnis weiter Bevölkerungsschichten zur leeren Worthülse degeneriert ist?

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