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Wollen und Wirklichkeit in der Volksdemokratie

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„Was im Krieg die Erhaltung der Armeen bedeutet, das bedeutet jetzt die Erhaltung des unproduktiven Heeres der versteckten Arbeislosen, jener Leute, die, sei es infolge der Unfähigkeit der Führung oder infolge Fehlens des eigenen guten Willens, überhaupt nicht oder schlecht arbeiten, aber ein hohes Einkommen beziehen.“ Diese Worte, die der sozialdemokratische Abgeordnete des Prager Parlaments, Hochschulprofessor Dr. Macek, dieses Jahres über Arbeitsmoral in der Tschechoslowakei niederschrieb, haben eine böse Aktualität behalten. Täglich mehren sich die strengen Maßnahmen, zu denen sich die Prager Zentralämter gezwungen sehen, um die Erfordernisse der Wirtschaft und des praktischen Lebens mit den Konsequenzen der inneren Umwälzungen einigermaßen in Einklang zu bringen. Wie weit ist doch das Wollen und Versprechen von der Wirklichkeit in der Volksdemokratie entfernt, wie sie sich heute dem Bürger des einst so gesegneten böhmischen Landes darstellt. Schon verschweigen die Minister in ihren Reden nicht mehr den Ernst der Lage, in die die tschechoslowakische Wirtschaft geraten ist.

Der große Mangel an Arbeitskräften, mit dem die tschechoslowakische Wirtschaft seit 1945 zu ringen hat, ist zum Teil bedingt durch die Ausweisung von fast vier Millionen Einwohnern, unter denen sich ein höher Prozentsatz wertvollster Facharbeiter befand, Aber das ist nicht der einzige Grund. Der Strukturwandel innerhalb der tschechischen arbeite nden Bevölkerung hat grundsätzliche Bedeutung erhalten. In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der Arbeiter um 216.000 abgenommen, während gleichzeitig die der Angestellten sich in ständigem Wachsen befindet; die Zahl der Staatsangestellten hat sich in diesem Zeitraum um fast 100.000 erhöht, allein die Staatsbahn beschäftigt heute um 70.000 Menschen mehr als vor dem Krieg. Im Herbst des vorigen Jahres fehlten in der Landwirtschaft 60.000 Kräfte, in der Bauwirtschaft fast ebensoviel, je 8000 im Bergbau und in der Forstwirtschaft; — .Zahlen, die sich nach der etwaigen Aussiedlung der noch verbliebenen 200.000 Sudetendeutschen und nach Freilassung der noch immer in tschechoslowakischer Gefangenschaft befindlichen rund 10.000 deutschen Kriegsgefangenen noch wesentlich erhöhen werden.

Trotz der Gewichtigkeit dieser Probleme ist ein anderes von noch größerer Bedeutung: das rapide Absinken der Arbeitsleistung gegenüber dem Vorkriegsstand. Als von 1946 auf 1947 die Belegschaft im Steinkohlenbergbau von 42.322 auf 55.338, im Braunkohlenbergbau von 28.547 auf 34.423 stieg, erhöhte sich zwar die Produktionsziffer ein wenig, aber es nahm die Zahl der Feierschichten ganz wesentlich zu: hatte die letztere zum Beispiel im Mährisch-Ostrauer Revier 1937 7,58 Prozent betragen, so war sie 1947 auf 23,1 Prozent emporgeschnellt. Im Bergbau gibt es dafür noch am ehesten Erklärungen. Aber der Prozentsatz der versäumten Arbeitsstunden der normal 11,2 Prozent beträgt, steigt in den Hütten- berieben auf 14 Prozent und erreichte im Mai 1948 — nach einer Mitteilung des Industrieministers Kliment — einen Rekord in der Textilindustrie mit 25 Prozent. Weit niedriger sind diese Zahlen in der Slowakei, wo der Durchschnitt nur 4,3 Prozent ausmacht. Auch die weitgehende Verstaatlichung der Wirtschaft konnte diesen Prozeß nicht verhindern, sie hat ihn sogar anscheinend gefördert: während die versäumten Arbeitsstunden in den Privatbetrieben 9 Prozent ausmachen, erreichen sie in den Verstaatlichten Betrieben 1 2,5 Prozent.

Die Artikel in der tschechischen Presse untersuchten die Gründe dieser Erscheinung: „Gerade den jungen Leuten ist die Tragweite der Verstaatlichung und der sich daraus ergebenden Pflichten nicht zum Bewußtsein gekommen“, stellte eine dieser kritischen Stimmen fest, eine andere klagte: „In der Schule erzählt man den Kindern, wie man Betriebsausschüsse wählt und welche Rechte diesen zustehen; nur von den bürgerlichen Rechten wird ständig zu den jungen Leuten gesprochen, niemand getraut sich aber von den bürgerlichen Pflichten zu sprechen.“ Auch das unausgeglichene Lohn- und Preisniveau wurde verantwortlich gemacht: die Arbeitswoche beläuft sich für manche Arbeiterkategorien auf etwa drei Tage. Ein Bergarbeiter braucht nicht länger zu arbeiten, da er an drei Tagen genug für die ganze Woche verdient.

Seitdem die freie Meinungsäußerung in der Presse völlig verstummt ist, sehen sich die führenden Politiker selbst zurir Reden gezwungen. Staatspräsident Gottwald sagte schon kurz nach seiner Wahl zu einer Bergarbeiterabordnung: „Im Mai konnte der Zweijahresplan im Bergbau wieder nicht erfüllt werden…, eine wesentliche Verringerung der Feierschichten ist unerläßlich. Die Verantwortlichen dürfen sich nicht fürchten, gegen die Faulen einzuschreiten.“ Noch schärfere Worte fand Ministerpräsident Zapotocky vor der Vollversammlung des Zentralrates der Gewerkschaften. Unter anderem führte er als Beweis für den Mißbrauch der Sozialgesetze an, daß 1937 die Bezirkskrankenkassen in Böhmen und Mähren an Krankenunterstützung'196 Millionen Tschechenkronen auszahlten, 1947 waren es 1610 Millionen; auf einen Versicherten entfielen vor zehn Jahren 93, im Vorjahr 1699 Tschechenkronen.

Bisher versuchte man zwei Auswege aus »dieser Krise: den Fraueneinsatz und die Arbeits brigade n. In der Regel vermochte aber der Einsatz der Frauen und der sogenannten Ärbeitsbrigaden den Ausfall, der wettzumachen war, nicht annähernd zu ersetzen; zuletzt würden kaum 50 Prozent der normalen Arbeitsleistung erreicht. Von 94.000 Arbeitskräften, die während des ersten Halbjahres des Zweijahresplanes zusätzlich gewonnen wurden, waren 55.000 Frauen, in einem Monat waren von den neueingestellten Arbeitskräften sogar nur 7700 männliche gegenüber 12.700 weiblichen. An der Gesamtarbeitsleistung sind die Frauen — im Durchschnitt aller Wirtschaftszweige — mit 27 Prozent beteiligt; am höchsten ist der Anteil der Frauen in der Textilindustrie mit 29,2 Prozent, erreicht aber auch in der Eisenindustrie 18,7 Prozent.

Das Sinken der Arbeitsmoral ist selbstverständlich keine für die Tschechoslowakei typische Entwicklung der Nachkriegszeit. Aber ihr haften hier einige Besonderheiten an. Es sind zu große Veränderungen vollzogen worden, nicht aus sozialer Planung, sondern in leidenschaftlicher politischer Aktion: Die Verteilung des deutschen Eigentums bringt manche unberechenbare Wirkung hervor: ein Bergmann, der über Nacht Besitzer eines Zinshauses in Falkenau geworden ist, geht nicht mehr gerne in den Schacht, und eine Textilarbeiterin, die nun eine herrliche Villa bewohnt, arbeitet nicht gern eine 48stündige Arbeitswoche durch. Man hat dem ganzen Volk einen eindringlichen Anschauungsunterricht erteilt, wie man leicht und mühelos zu Reichtum und Besitz gelangen kann. — Jetzt nützt es nur wenig, zu predigen, daß Arbeit die Quelle alles Guten und aller Rechte ist.

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