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Schlosser ist gleich Akademiker?

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Die neue tschechoslowakische Wirtschaftspolitik zeigt, nachdem man in den letzten 15 Jahren so ziemlich in alle nur möglichen Sackgassen, die es gab, hineingelaufen ist und kompliziert wieder herausfinden mußte, erste Lichtblicke. Und als eben der Hauptexponent der Wirtschaftsreform, Prof. Ota Sik, aus der Sowjetunion zurückkehrte, konnte er stolz erklären, daß auch die Sowjets einige Grundsätze des neuen Prager Systems übernehmen wollten; so sei die Tschechoslowakei in Studium und Durchführung der Kombination „Plan—Markt“ am weitesten gekommen. Sik warnte allerdings gleichzeitig davor, erste Ansätze einer eigenen Initiative in der Tschechoslowakei als „Profit Jägerei“ zu brandmarken.

Damit legte Sik den Finger auf eine sichtbare Wunde, die mehr als nur eine Übergangsschwierigkeit darstellt. Im direkten Zusammenhang damit, also im Bestreben, die Eigeninitiative der Arbeiter, der Betriebsführungen und ganzer Kollektive zu aktivieren, steht natürlich eine neue Lohngestaltung, deutlicher ausgedrückt: die Entnivellierung der Löhne. Andere Schwierigkeiten tauchen aber ebenfalls im Anfangsstadium auf: die neue Form der Parteikontrolle und die modifizierte

Aufgabe der Gewerkschaft; die Zusammenhänge von neuen Löhnen mit den Preisen, die radikale Heraufsetzung der Großhandelspreise, ohne daß nach Möglichkeit die Kleinhandelspreise betroffen werden sollen; letztlich aber auch die Schwierigkeiten der hochindustrialisierten Tschechoslowakei im Rahmen der Koordinierungsmaßnahmen der Ostblockländer.

Entnivellierung der Löhne

Schon ein erster Blick auf die allgemeine Lohnsituation zeigt, daß die Differenzierung minimal ist: 60 Prozent der Bevölkerung verdient zwischen 1000 Kcs und 1800 Kcs, 25 Prozent haben ein Einkommen, das zwischen 1800 und 3000 Kcs liegt, und nur 1,5 Prozent beziehen monatlich mehr als 3000 Kcs. In der Schwerindustrie allein ergibt sich ein eher noch schematischeres Bild: 7,7 Prozent haben Einkünfte bis zu etwa 1000 Kcs monatlich und 4,5 Prozent mehr als 2500 Kcs. 45 Prozent haben Einkünfte zwischen 1000 und 1600 Kcs.

Ein anderes Beispiel zeigt diese Situation vielleicht noch drastischer: Nimmt man den Lohn eines ausgelernten Schlossers mit der Indexzahl 100 an, so verdient ein Ökonom mit abgeschlossener Mittelschulbildung

78, ein Techniker mit abgeschlossener Mittelschulbildung 91, während Techniker und Ökonomen mit abgeschlossener Hochschulbildung gerade das Einkommen des Schlossers erreichen.

Nach den neuen Planungen soll es zwar nicht revolutionär anders werden, spürbar aber wäre eine Entnivellierung zweifellos. Darnach soll bei der Indexzahl des Schlossers von 100 ein Ökonom mit abgeschlossener Mittelschulbildung 110, ein Techniker im gleichen Ausbildungsgrad 120, ein Ingenieur-Ökonom (mit abgeschlossener Hochschulbildung) 125 und ein Ingenieur-Techniker 140 erhalten.

Keine Gleichmacherei

Um das Teilgruppen der Bevölkerung schmackhaft zu machen — anderen muß man dies ganz gewiß nicht! —, gibt es natürlich dazu eine publizistische Begleitmusik. So schreibt etwa die deutschsprachige „Volkszeitung“: Mit dem Jahre 1967 wird der Gleichmacherei in der ganzen Wirtschaft zu Leibe gerückt, und die Theorie von dem „gleichen Magen aller“ sollte nicht als marxistisches Prinzip bezeichnet werden und die weitere Entwicklung behindern.

In dieser Entwicklung meldet sich verständlicherweise auch die Gewerkschaft zu Wort, die bisher zwar kein Schattendasein führte, aber zu Aufgaben eingesetzt war, die nach westlichen Begriffen nicht unbedingt in den Aufgabenbereich einer Gewerkschaft gehören. Sie verweist darauf, daß man nur zaghaft an eine Entnivellierung der Löhne gehe, daß die Arbeiter und Angestellten in den ersten acht Monaten des Jahres 1966 nicht das geringste von einer Entnivellierung und einer Lohnerhöhung gespürt hätten. Auch in den fünf Jahren zwischen 1961 und

1965 sei das Durchschnittseinkommen der Arbeiter und Angestellten nur von 1382 auf 1430 Kcs gestiegen, das seien in fünf Jahren gerade 5,3 Prozent! Dabei sei die Industrieproduktion der Tschechoslowakei in den ersten acht Monaten des Jahres

1966 — der erste große Lichtblick nach langen Jahren der Sorgen! — um nicht weniger als 7,6 Prozent gestiegen!

Nun fehlt es natürlich auch nicht an Gegenargumenten: Man verweist darauf, daß diese Entwicklung keineswegs auf Mehrarbeit oder bessere Arbeit der bisherigen Arbeiter zurückzuführen sei; bei den zentral geleiteten Betrieben wurden wohl in diesem Zeitraum um 451 Millionen Kcs mehr Löhne, Gehälter und Prämien ausbezahlt — allerdings überwiegend für neu eingestellte Arbeiter, während auf die Erhöhung der Löhne und Prämien nur 3,7 Prozent entfallen; für die neueingestellten 61.000 Arbeiter und Angestellten wurden 73 Prozent aufgewendet.

„Entgegen aller Logik des neuen Systems“

Es fehlt in dieser Situation natürlich auch nicht an Warnungen der Partei. „Entgegen aller Logik des neuen Systems“ — wurde bei der Mitte Dezember stattgefundenen ZK-Tagung erklärt — würden die Betriebe noch zu viel Investitionen, neue Arbeitskräfte, hohe Importe und übersteigerte Zuwendungen für Löhne fordern. Gleichzeitig sprach man von dem schleppenden Tempo der Entnivellierung und den noch sehr problematischen Beziehungen der Betriebsleitungen zu den (zentralen Prager) Generaldirektoren. Diese letzteren beschneiden selbst ihre Vollmachten zu sehr und beschäftigen sich zu wenig mit ihrer Hauptaufgabe, der Arbeit für langfristige Planungen.

Natürlich befaßte man sich auch mit der Kontrolle der Partei über die Wirtschaft, auch eine recht problematische und heikle Angelegenheit. Schon im Oktober kam KP-Sekretär und Staatspräsident Novotny ausführlich auf die Wirtschaftsreform und Parteikontrolle zu sprechen und erklärte, die Kontrolle der Partei bleibe auch im neuen Wirtschaftssystem ungeschwächt aufrecht — entgegen einer anscheinend weithin verbreiteten Meinung. Die Partei werde zwar keineswegs „jeden Werkdirektor bei der Hand nehmen“, aber sie werde die theoretischen und praktischen Grundsätze der Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft in der Tschechoslowakei festigen und deren Durchführung überwachen.

Die Gewerkschaft ihrerseits nahm aber nicht nur zur Lohnfrage Stellung, sondern auch zu ihrer neuen gewerkschaftlichen Situation allgemein: Die Gewerkschaft werde sich künftig mehr um die Interessen der einzelnen kümmern, das „übertriebene Streben nach einem maximalen Bruttoeinkommen oder Gewinn“ könne das Arbeitsmilieu ungünstig beeinflussen.

Gemeinsam mit der heiklen Preisentwicklung (Anheben der Großhandelspreise um rund 20 Prozent), der benachteiligten Situation gerade der hochindustrialisierten Tschechoslowakei innerhalb der COMECON-Länder wird der Wunsch nach mehr und neuen Initiativen in der Wirtschaft — und damit im Zusammenhang die Entnivellierung der Löhne — das wirtschaftlich wie wirtschaftspolitisch heikelste Problem darstellen. Es ist aber nicht zu umgehen, da es tatsächlich ein Kernproblem ist. Aber wie eine Verstaatlichung relativ leicht anzuordnen und durch-zuexerzieren war, während eine gewünschte und gewiß sehr bescheidene Reprivatisierung nicht so begeistert aufgenommen wurde, wie man dies erwartete, wird auch eine Entnivellierung nicht so leicht durchführbar sein, wie dies vorerst aussieht. Denn entnivelliert wird immer nur eine Minderheit — und die Mehrheit wird schimpfen.

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