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Digital In Arbeit

Kafka ersetzt Stalin

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„Der Sozialismus ist immer noch besser als arbeiten!“ — Diesen vielsagenden Witz raunten sich die Delegierten zum XIII. Parteikongreß der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei zu. Am Vorabend der Eröffnung dieser in den ersten Junitagen abgehaltenen Parteitagung spielte den bereits in der Moldauhauptstadt eingetroffenen Spitzenkommunisten die hervorragende Prager Jazzkapelle des

Karel Krautgärtner heißeste Rhythmen auf; zu der begehrtesten Lektüre der Kongreßdelegierten gehörten Hemingways Erzählungen, Krimis, die Werke von John Steinbeck und vor allem „Der Prozeß“ des großen Prager deutschsprachigen Visionärs Franz Kafka.' Aus allen diesen Einzelheiten geht schon hervor, daß sich seit dem letzten Parteitag in Prag, der im Dezember 1962 abgehalten wurde, schon rein im Äußeren viel geändert hat.

Die neue Generation

So schwebte allseits spürbar der Geist der Hauptfigur des Parteitagbestsellers — des Josef K. — an Stelle von Josip W. Stalin auf dem Parteitaggelände. Nüchtern und auf Endziel ausgerichtet, wohlvorbereitet wie immer, aber ohne das bisher gewohnteKlimbim rollte die Regie ab. Die Leute, die in den letzten vier Jahren die nicht nur lästig, sondern auch gefährlich gewordenen Altstalinisten gefeuert hatten, sind seit der Säuberung der eigenen Reihen nicht untätig geblieben. Man sprach nicht mehr davon, welche enorme Schäden die noch Übriggebliebenen aus dieser Parteigeneration durch eine schändlich schlechte Wirtschaftspolitik der Volkswirtschaft unseres nördlichen Nachbarlandes bereitet hatten, sondern man be-

Noch neuartiger war der nüchterne, zielbewußte Arbeitston. Vor dreieinhalb Jahren geisterte noch bei dem Kongreß überall hör- und spürbar Stalins Ungeist. In jenen Tagen führten noch jene Männer die Regie, und auch sie spielten die erste Geige, die als Stalins Musterschüler willig, ja sogar’ planübererfüllend die Schandprozesse der fünfziger Jahre in Szene gesetzt hatten. Von ihnen, die der Ver-

urteilung und Hinrichtung der höchsten katholischen Geistlichkeit, aber vor allem der eigenen einstigen Mitkämpfer Beifall geklatscht hatten, ist heute noch kaum einer in führender Position. Zum XIII. Parteitag waren sie — wenn sie auch noch bis jetzt nominell dem ZK angehört' hatten — nicht mehr als Delegierte, zugelassen, derm sie alle leben, wenig geachtet, aber sonst ungeschoren, das wohlinstallierte Leben eines Parteirentners.

schäftigte sich fast ausschließlich und auch nüchtern mit der Zukunft. Die alten Helden sind müde geworden oder sie haben sich in den letzten Jahren verbraucht, so daß man sie nicht mehr gebrauchen kann; an ihre Stellen sind Nachwuchskräfte aufgestiegen. Der Großteil der beinahe 1500 Delegierten gehörte der Nachkriegsgeneration an, die schon unter einem sozialistischen Regime aufgewachsen ist. Diese Jung- janitscharen der Tschechen und Slowaken wissen nur eines: Trotz unleugbarer Erfolge auf dem Gebiet der Industrialisierung krankt die Volkswirtschaft an jenen Fehlern, die nach Moskauer Muster in den letzten achtzehn Jahren dilettantisch begangen wurden, und sie spüren es, daß nur radikale Lösun

gen allen Fehlern abhelfen könnten. Es ist daher kein Wunder, daß der bedeutendste Vertreter dieser Generation, der junge und dynamische Volkswirtschaftslehrer Prof. Ota Šik, damit beauftragt wurde, das neue Wirtschaftssystem, das in vielem bisher als Tabu geltende Dogmen beiseiteschiebt, auszuarbeiten und dem Kongreß zur Beschlußfassung vorlegen zu lassen. Dieser Mann, der sich bei der Neuwahl der

Parteiführung weiterhin nur mit der Position eines einfachen Mitgliedes des Zentralkomitees begnügen mußte, hielt auch am Schlußtag der Parteitagung die klangvollste Rede. Er sprach das aus, was in der Debatte vor dem XIII. Parteikongreß besonders in den Intellektuellenblättern gefordert worden war, nämlich daß die wirtschaftlichen Reformen — mögen sie noch so kühn angelegt sein — zu keinen Erfolgen führen werden, wenn sie nicht mit politischen Reformen Hand in Hand gehen sollten. „Eine Demokratisierung unseres gesamten politischen Lebens scheint unumgänglich“ — ließ Professor Šik unter starkem Beifall verlauten.

Zu wenig Kartoffeln und Kraut!

Was bedeutet diese Demokratisierung? Einen weitgehenden Abbau des tödlichen Zentralismus. Bisher wollte man den althergebrachten marxistischen Maximen entsprechend alles zentralistisch lösen. Der Plan — von Prag aus befohlen und von Prager Zentralstellen dirigiert — war jener Fetisch, an dem zu rütteln sich niemand gewagt hatte. Was war die Folge? Man konnte wohl eine an die besten böhmischen Traditionen anknüpfende Schwerindustrie aufbauen, mit enormen Investitionen in der in der Masaryk- Republik als Kolonie behandelten

Slowakei eine moderne Industrie aus dem Boden stampfen — abei um welchen Preis! Die traditionellen Industriezweige — Textil-, Leder- und Glasindustrie —, die bis zur kommunistischen Machtergreifung immer an der Spitze der Weltproduktion zu finden waren, erfuhren einen noch nie dagewesenen Niedergang; wichtige westliche Märkte gingen an Konkurrenznationen unrettbar verloren; die Hausindustrie und das Gewerbe wurden brutal zerschlagen und schließlich die vollkolchisierte Landwirtschaft derart abgewirtschaftet, daß diese heute nicht einmal imstande ist, die beiden Hauptnahrungsmittel (Kartoffel und Kraut) in genügender Menge zu produzieren, um den Bedarf des eigenen Marktes der 14 Millionen decken zu können.

Dem abzuhelfen wird die neue Wirtschaftsreform, die mit dem 1. Jänner des kommenden Jahres voll anlaufen soll, angekurbelt. Daß natürlich dieser schweroperative Schnitt tiefe Auswirkungen für das gesamte soziologische Bild in der Tschechoslowakei mit sich bringen wird müssen, ist selbstverständlich. Die Vorfälle bei den Studentendemonstrationen in den letzten Maitagen in Prag, wo der akademische Nachwuchs bei einem Umzug Tafeln mit sich führte, auf denen die Borniertheit der heute noch herrschenden Schicht angeprangert wurde, wobei nicht einmal die Losung „Ewige Treue zum großen Vorbild der Sowjetunion“ geschont worden war, gab der Parteiführung einiges zu denken, genauso wie die Tatsache, daß in den vergangenen vier Jahren die Zahl der Parteimitglieder nur um 17.183 auf insgesamt 1,698.002 ansteigen konnte.

Sechs Hauptaufgaben

Davon hörte man natürlich in den offiziellen Reden bei dem zu Ende gegangenen Prager Parteikongreß reichlich wenig, obwohl sonst schonungslos Fehler aufgezeigt und die Möglichkeit zu einer Besserung klargelegt wurde. Der Bericht des Zentralkomitees, der vom wiedergewählten Ersten Sekretär Antonin Novotny vorgelegt wurde, zählte sechs, Hauptaufgaben,die der Partei als Lösung vorschweben, auf

Alįpjęrstę, jyurde die JIIotwend’igkeit einer Festigung der sozialistischen Gesellschaft, als zweite die grundlegende, Lösung der Wirtschaftspolitik verlangt. Drittens wurde mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die Partei die führende Kraft im Lande bleiben und deshalb gegen die Einflüsse der bürgerlichen Ideologien und „gegen liberalistische und dogmatische Tendenzen“ innerhalb der Partei angekämpft werden müsse. Die letztere Forderung war Punkt 4 der Hauptaufgaben, mit der dann organisch Forderung Nr. 5 folgt, nämlich: Verstärkung der führenden Rolle der KP auf allen Lebensgebieten. Schließlich wurde als Hauptaufgabe Nr. 6 auf außenpolitischem Gebiet der sowjetischen Generallinie alle Hilfe zugesagt. Diesen Forderungen entsprechend sind auch fünf Beschlüsse gefaßt worden. Im Sinne einer Dezentralisierung sollen in Zukunft die Nationalräte — die Gemeindeverwaltungen — größeren Einfluß als bisher auf politischem, aber vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet erhalten. Im zweiten Beschluß über die Landwirtschaft wird von diesem Wirtschaftszweig eine gesteigerte Produktion verlangt. Im dritten Beschluß wird den Künstlern eine Schaffensfreiheit zugebilligt, wenn von ihnen auch verlangt wird, daß sie in ihren Werken nicht eine L’art- pour-l’art-Tendenz verfolgen, sondern die Politik der Partei helfend unterstützen. Schließlich wird in einer außenpolitischen Resolution zur Lösung der Frage der europäischen Sicherheit die Einberufung einer Konferenz der Führer der kommunistischen Parteien Ost- und Westeuropas gefordert und an die Chinesen die Einladung ausgesprochen, sich mit den sowjetischen Genossen zur Lösung der Differenzen zu einer Aussprache bereit zu Anden.

Die rumänische Sensation

Überhaupt die Außenpolitik und vor allem das Verhältnis zu den anderen kommunistischen Parteien wurde bei dem Prager Parteitag stark unterspielt. Diejenigen Beobachter, die erwartet hatten, daß es am Rande des Prager Kongresses zu einer Konferenz der Spitzenfunktionäre des Weltkommunismus kommen könnte, mußten sich in ihrer

Erwartungen enttäuscht sehen. Wohl kam aus Moskau Mann Nr. 1, Breschnjew, und auch Mauerbauer Ulbricht unterbrach seine Karlsbader Trinkkur, um vom Prager Forum aus gegen Bonn seine Giftpfeile abschießen zu können; doch sandten die anderen osteuropäischen Bruderparteien nur ihre zweite oder dritte Garnitur; Chinesen und Albaner nicht einmal diese. Kädär fuhr anstatt zu einer Aussprache mit Breschnjew in Prag beinahe demonstrativ zu Tito, und auch Gomulka, Schifkoff und Ceausescu hatten im eigenen Wirkungsbereich wichtigere Probleme zu lösen, als Novotnys Gastfreundschaft zu genießen. Trotzdem lieferten die Rumänen durch ihren Abgesandten die einzige — allerdings wenig beachtete — poli

tische Sensation. Alexandru Bir- ladeanu (soeben aus Peking zurückgekehrt) torpedierte unüberhörbar die bei den anderen kommunistischen Rednern Moskau gegenüber zum Ausdruck gebrachte Unterwürfigkeit. Er sprach nämlich davon, „Rumänien verlange entschieden für jede Nation das Recht, selber über das eigene Schicksal entscheiden und sich selbständig den Weg nach eigenem Gutdünken zu einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prosperität wählen zu dürfen“.

Allerdings schloß sich die KP der Tschechoslowakei dieser Unabhängigkeitsforderung der rumänischen Bruderpartei nicht an. Sie will in außenpolitischen Belangen weiterhin getreuer Vasall der Sowjetunion sein und auch bleiben.

Die Wahl

In diesem Sinne brachten auch die Wahlen in die obersten Organe das geschickte Lavieren der Zentralisier zwischen reformfreudigerer Jugenc und den altwerdenden Dogmatikerr zum Ausdruck. Nur 66 Mitglieder des im Dezember 1962 gewählter Zentralkomitees durften ihren Plats im ZK weiterhin behalten, 22 — vornehmlich Altstalinisten — wurder entfernt, zwei zu Kandidaten zurückversetzt, weitere zwei in das

Kontroll- und Revisionskomitei delegiert. Fünf ZK-Mitglieder sine in den letzten dreieinhalb Jahrei verstorben. Somit hat das Zentral komitee, dessen Mitgliederzahl voi 97 auf 110 erhöht wurde, 44 neue Mitglieder. Weit stärker als im ZV wurde bei den Kandidaten für diese Körperschaft eine Rotierung durchgeführt. Hier, bei diesem Parteiorgan, dessen Mitgliederzahl voi bisher 50 auf 56 erhöht wurde, sine

gleich 36, also mehr als die Hälfte, junge Nachwuchskräfte, und nur 18 bisherige Kandidaten durften ihre Position beibehalten.

Nur wenige der einst führenden Kommunisten, die in den bösen Jahren der Stalin-Ära ihren Sitz im ZK mit einer Zelle in einem der vielen Gefängnisse vertauschen mußten, wurden nach ihrer Rehabilitierung jetzt in das ZK wiederaufgenommen. Der letzte am Leben gebliebene Hauptangeklagte des Slänsky-Prozesses, der ehemalige Finanzminister Dr. Eugen Lobt — übrigens mit einem prominenten österreichischen Politiker familiär verbunden —, fordert in der neuesten Nummer des seit jeher aufsässigen Organes des slowakischen Schriftstellerverbandes „Kultümy Život“ das Rollen der Köpfe. „Das allerwichtigste nach dem Kongreß“ — schreibt Löbl — „ist es, zu erreichen, daß eine Dynamik die Stagnation ablöst.“ Er legt auch klar, was er unter Dynamik versteht: die Entfernung der in Prag residierenden zentralistischen Wirtschaftsführer und eine Umgestaltung der gesamten Wirtschaft der kommunistischen Tschechoslowakei nach einem Muster, dessen Väter nicht schwer in Belgrad zu finden sind.

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