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Osteuropäische Bilanz

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Mit dem Sturz des Staatspräsidenten Novotny in der Tschechoslowakei und der Unterbrechung der Sitz- und Vorlesungsstreiks der Warschauer Studenten durch Polizedgewalt in Polen scheint die politische Entwicklung in diesen beiden kommunistischen Ländern zu einem vorläufigen Abschluß gelangt zu sein. Ohne die Möglichkeit eines erneuten Ausbruchs der oppositionellen Kräfte auszuschließen — vor allem in Polen ist ein Aufflackern der Unruhen durchaus möglich — und ohne die Bedeutung der Geschehnisse herabzusetzen, scheint es geboten, eine nüchterne Bilanz zu ziehen und eine Ausschau auf die weitere Entwicklung zu versuchen.

Blick aus dem Westen

Im Westen stellt sich vor allem die Frage nach den Auswirkungen der Vorgänge in Osteuropa auf die kommunistischen Parteien der freien Welt und auf die protestierende Jugend des Westens. Es gab gewiß Demonstrationen zugunsten der Warschauer Studenten. Vergleicht man aber die Zahl der Teilnehmer mit der anderer Kundgebungen, so zum Beispiel die etwa 300 Teilnehmer an der Berliner Kundgebung vom 13. März mit den ungefähr 10.000, die sich am Berliner Kongreß für Vietnam vom Februar beteiligt hatten, erscheint das Mißverhältnis so groß, daß von einem tiefgreifenden Eindruck der Zusammenstöße zwischen den polnischen Studenten und der Polizeikräfte auf die sogenannte „revolutionäre” Jugend kaum die Rede sein kann.

Wahrscheinlich haben auch weder die Ereignisse in Prag noch die in Warschau die kommunistischen Parteien der freien Welt zu einer Gewissenserforschung veranlaßt. Die Parteizentralen haben keinen Grund, sich von einer Beeinträchtigung ihrer Aussichten zu fürchten.

Die „Bruderparteien”

Die kommunistischen Parteien des Westens, mindestens in Frankreich und in Italien, haben die Isoliertheit, in der sie durch die Politik Stalins und die Reaktion des Westens gera ten waren, bereits vorher durchbrochen. Durch den sowjetisch-chinesischen Ideologiekonflikt hat sich die Überzeugung verbreitet, daß vor allem die westlichen kommunistischen Parteien ihren revolutionären und verschwörerischen Charakter verloren und sich dem konstitutionellen Weg der Machtergreifung verschrieben haben. Eine ähnliche Respektabilität beanspruchen auch die süd- und zentralamerikanischen Parteien wegen ihrer scharfen Ablehnung des von Fidel Castro und dem verstorbenen Kommandant Ernesto Che Guevara verherrlichten Guerillakriegs — eine Einstellung, die auch von Moskau gebilligt wird. Immer glaubwürdiger können die kommunistischen Parteien ihre Unabhängigkeit gegenüber Moskau behaupten, auch wenn sie sich mit der Moskauer Linie identifizieren wie zuletzt auf der Budapester Tagung. Insbesondere der Auftritt der rumänischen KP-Führung hat der Meinung Auftrieb gegeben, daß sich eine kommunistische Partei auch von Nationalinteressen leiten lassen kann, obwohl sie in der Ideologiegemeinschaft bleibt und die Sache des Weltkommunismus auf ihre Weise fördert.

Nach dem Führungswechsel in Prag können dann jetzt die kommunistischen Bewegungen Vorschußlorbeeren beanspruchen: eine der Bruderparteien betreibe doch eine „Demokratisierung” des kommunistischen Systems, wobei sie der bereits eingeleiteten Erneuerung der Wirtschaftsordnung einen weiteren Auftrieb gibt und diese sogar auf die Innenpolitik ausdehnt. Daß eine kommunistische Partei den Beweis zu erbringen scheint, sie könne sich von den klassischen, das heißt diskreditierten Formen der Proletariatsdiktatur losreißen, wäre geeignet, den Abscheu zu löschen und den abträglichen, vom polnischen Regime wegen seines Vorgehens hdn- terlassenen Eindruck wettzumachen. Die Sowjetunion aber könnte hoffen, daß dem „Antikommunismus” ein neuer Schlag versetzt wurde.

Ist Optimismus begründet?

Allein, diese Vorgänge haben im Westen überschwenglichen Optimismus, zugleich aber eine gewisse Sorge wegen einer möglichen sowjetischen Intervention ausgelöst. Die Besorgnis scheint bereits widerlegt zu sein.

Kann man mindestens sagen, der Optimismus sei begründet? Nur die Zukunft kann über diese Frage entscheiden.

Es gibt manches in der Tschechoslowakei, das zur Nachdenklichkeit stimmen könnte. Hier handelte es sich um den Kampf zwischen zwei Parteiflügeln, an dem die Bevölkerung am Anfang überhaupt nicht und erst gegen Ende etwas mehr beteiligt war. Die Beobachter der großen Versammlung vom 20. März (zwei Tage vor dem Rücktritt Novotnys) hatten den Eindruck, daß sich diese in der geschickten Hand der Vertreter des fortschrittlichen Flügels befand und daß bereits fast eine Stimmung des Konformismus herrschte (Michel Tatu, in „Le Monde” vom 22. März 1968). Im Unterschied zum 17. Juni 1953 und Oktober 1956 war die gegen den etablierten Konservatismus aufbegehrende Gruppe nicht zu Massendemonstrationen als Druckmittel auf den Gegner versucht. Die siegreiche Gruppe hat die Vorgänge mit sicherer Hand gesteuert.

Novotny und der Breschniew-Besuch

Die Ereignisse sind in größeren Zügen bekannt. Der erste und vielleicht entscheidende Fehler wurde von Novotny bereits begangen, als er — zum Unterschied von Ulbricht und später Ceausescu oder sogar Tito — beschloß, sich nicht mit den Reformbestrebungen auf dem Gebiet der Wirtschaft zu identifizieren, sondern sich sogar davon zu distanzieren. Auf die Schwierigkeiten bei der Durchführung der Wirtschaftsreform reagierte aber die Partei für Novotny ungünstig. Aus Gründen, die hier nicht näher erörtert werden können, wählten die Kader die Flucht nach vom.

Damit die Partei Recht behält, muß ein Verantwortlicher für die Schwierigkeiten gefunden werden. So wurde Novotny — ähnlich wie Rankovic in Jugoslawien — zum Opfer. Den letzten Anstoß gab der Prager Besuch Breschniews am 8. Dezember 1967. Breschniew hatte nach Anhören der beiden Flügel erklärt, er wolle sich nicht in innere Angelegenheiten einer Bruderpartei einmischen. Breschniews „Neutralität” trug entschieden zur Schwächung der Front um Novotny bei (schon 10 Tage später hatte das Überlaufen Hendrychs die Machtverhältnisse im ZK-Präsidium geändert), ohne jedoch der Sowjetunion den Makel der Undankbarkeit den Getreuesten gegenüber anzuheften.

Dresdner Hintergründe

Auch im Dresdner Treffen der Kommunistenführer des Ostblocks (ohne Rumänien) sind geschickte Züge zu entdecken: Die Bonner Regierung sollte für den Austausch der diplomatischen Beziehungen sowohl einen hohen Kredit und außerdem den schmerzlichen Preis eines weiteren Verlustes der deutschen Positionen zahlen, ohne sich der deutschen Wiedervereinigung zu nähern. Weiter sollte die angebliche Beunruhigung in den Nachbarländern der CSSR dazu beitragen, daß Nüchternheit in die Reihen der von Freiheitsrausch Ergriffenen zurückkehrt und der KP der CSSR die Wiederherstellung der Kontrolle erleichtert wird. Für Ulbricht stellte die gleiche angebliche Beunruhigung eine Schützenhilfe gegenüber andersdenkenden Parteigenossen dar. Dagegen wurde die Lage in Polen ausgeklammert, denn für Gomulka wäre diese Schützenhilfe eher nachteilig gewesen.

Die neue Führungsgruppe in der CSSR hat nun die Macht an sich gerissen und wird ihre Gegner vollständig beseitigen können und müssen. Ihr Handeln wird nur von dem diktiert, was sie für wünschenswert, vorteilhaft, möglich und notwendig hält, nicht aber von einem Druck der öffentlichen Meinung, die der Möglichkeit einer Selbstgestaltung beraubt ist. Die neuen Männer haben sich erneut zur notwendigen „Führungsrolle der Partei” und zu den sozialistischen Grundsätzen bekannt. Nur die Methoden zur Gewährleistung der einen und zur Verwirklichung der letzteren sind verschieden. Sie sind humaner nur im Vergleich zum Stalinismus, und die Reformfreudigen glauben tatsächlich an ihre Wirksamkeit.

Das Dilemma, das alle kommunistischen Regime plagt und das jeder nach den bestehenden Gegebenheiten anders anzupacken versucht, bleibt: Ohne Mitwirkung der Bevölkerung ist das System zum Scheitern verurteilt. Versucht man aber, ihr politisches Interesse zu wecken, dann werden Kräfte aufgerufen, die sich gegen das Regime stellen.

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