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Vom „Prager Frühling” zur „Breschnew-Doktrin”

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Vergeblich wartete die Welt nach dem Einmarsch der Sowjettruppen in die CSSR am 21. August 1968 auf Beweise für jene Behauptungen, mit denen der Kreml diese Invasion begründet hatte: Weder erfuhr man die Namen jener „aufrechten tschechoslowakischen Marxisten-Leninisten”, die den Kreml angeblich um die Rettung des Sozialismus in der CSSR gebeten hatten, noch zeigten die Sowjets Spuren einer vom „imperialistischen Lager” ferngesteuerten gewaltsamen Konterrevolution vor.

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Vergeblich wartete die Welt nach dem Einmarsch der Sowjettruppen in die CSSR am 21. August 1968 auf Beweise für jene Behauptungen, mit denen der Kreml diese Invasion begründet hatte: Weder erfuhr man die Namen jener „aufrechten tschechoslowakischen Marxisten-Leninisten”, die den Kreml angeblich um die Rettung des Sozialismus in der CSSR gebeten hatten, noch zeigten die Sowjets Spuren einer vom „imperialistischen Lager” ferngesteuerten gewaltsamen Konterrevolution vor.

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Es verstrichen 37 Tage, ehe Moskau mit einer völlig neuen Begründung der Invasion überraschte. Am 26. September 1968 verfocht der sowjetische Par- ‘teiideologe Kowaljow in der „Prawda” die These von der „beschränkten Souveränität” und dem „beschränkten Selbstbestimmungsrecht” kommunistischer Staaten.

Kowaljow geht davon aus, „daß jede kommunistische Partei vor ihrem Volk und auch vor allen sozialistischen Ländern, vor der ganzen sozialistischen Bewegung verantwortlich ist”. Daraus folgt für ihn: „Man kann die Souveränität einzelner sozialistischer Länder nicht den Interessen des Weltsozialismus, der revolutionären Bewegung der Welt entgegenstellen.” Kowaljow leitet dann die Beschränkung des Selbstbestimmungsrechtes ab. Diese These stützt sich freilich auf krasse Unterstellungen: „Die Schwächung eines Gliedes im Weltsystem des Sozialismus wirkt sich direkt auf die sozialistischen Länder aus, die sich demgegenüber nicht gleichgültig verhalten können. So verhüllten die antisozialistischen Kräfte in der CSSR mit dem Gerede vom Recht der Völker auf Selbstbestimmung im Prinzip die Forderung nach der sogenannten Neutralität, nach Austritt der CSSR aus der sozialistischen Gemeinschaft Aber die Verwirklichung der ,Selbstbestimmung’, eben der Abtrennung der CSSR von der sozialistischen Gemeinschaft, widerspräche den Grundinteressen dieses Landes und würde den anderen sozialistischen Ländern schaden. Eine solche .Selbstbestimmung1, deren Ergebnis gewesen wäre, daß die Truppen der NATO bis an die sowjetischen Grenzen vorgerückt wären, ist faktisch ein Anschlag auf die Lebensinteressen der Völker der sozialistischen Länder.”

Den Widerspruch zwischen diesen Thesen und dem Völkerrecht wischte Kowaljow kühn vom Tisch: „Nach marxistischer Auffassung können Rechtsnormen, darunter auch die Normen der gegenseitigen Beziehungen der sozialistischen Länder, nicht aus dem Klassenkampf der Gegenwart gelöst und formal ausgelegt werden. Jene, die von einer .Ungesetzlichkeit’ der Aktion der sozialistischen Bruderländer in der CSSR reden, vergessen dabei, daß es in einer Klassengesellschaft kein klassenloses Recht gibt und nicht geben kann.”

Mit anderen Worten: Völkerrecht und UNO-Charta gelten nicht für das

Verhältnis des Kremls zu seinen „Bruderländern”. Das ist der Kern der sogenannten „Breschnew-Doktrin”.

Breschnew persönlich bekräftigte diese These am 12. November 1968: „Wenn die inneren und äußeren dem Sozialismus feindlichen Kräfte die Entwicklung irgendeines sozialistischen Landes auf die Restauration der kapitalistischen Ordnung zu wenden versuchen, wenn eine Gefahr für den Sozialismus in diesem Lande, eine Gefahr für die Sicherheit der gesamten sozialistischen Staatengemeinschaft entsteht, ist das nicht nur ein Problem des betreffenden Landes, sondern ein allgemeines Problem, um das sich alle sozialistischen Staaten kümmern müssen.”

Das Machtgefälle zwischen der UdSSR und ihren Partnern im Warschauer Pakt weist naturgemäß dem Kreml die „sozialistische Pflicht” zur Entscheidung zu, wann und wo der Sozialismus mit Waffengewalt zu retten sei.

Peking- faßte die Kritik prominenter Kommunisten an diesen Thesen mit aller Schärfe zusammen: „Nach der Gangsterlogik der sowjet-revisionisti- schen Renegaten gibt es für andere Länder nur eine .begrenzte Souveränität’, während die Souveränität der Sowjetrevisionisten selbst keinerlei Grenzen kennt.”

Vergeblich führten die kommunistischen Kritiker der „Breschnew-Doktrin” gegen den Kreml sowjetische Dokumente ins Treffen. Etwa die „Belgrader Deklaration” vom 2. Juni 1955, die „volle Gleichberechtigung der sozialistischen Staaten” festlegt, jede politische Intervention gerade aus ideologischen Gründen verbietet und von Breschnew ausdrücklich bekräftigt worden ist. Oder die eindeutige Billigung unterschiedlicher Wege zum Sozialismus auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956. Oder die wiederholten Erklärungen, daß die Beziehungen zwischen kommunistischen Staaten und Parteien auf Gleichberechtigung, Souveränität und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten beruhen.

Der Eifer des Lobes für Alexander Dubcek hat zu oft übersehen, daß sich die tschechoslowakische Parteiführung in ihrem Programm vom 5. April 1968 auf „das Bündnis und die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den übrigen sozialistischen Staaten auf der Grundlage der gegenseitigen Achtung, Souveränität und Gleichberechtigung” festgelegt hatte.

Warum also CSSR-Intervention und Breschnew-Doktrin?

Im Jänner 1968 ersetzte die KPC einen der letzten regierenden Stalinisten, Staats- und Parteichef Antonin Novotny, durch Alexander Dubcek. Ihn beauftragte die Partei, die „Deformationen des sozialistischen Lebens” zu korrigieren, den „Gegensatz zwischen Worten und Taten, Mangel an QffenheiV-Phrasendrescherei’ und Bürokratismus” zu beenden, „unbegründete Repressionen” aufzuheben und dafür zu sorgen, daß nicht „alles von der monopolen Machtposition aus” gelöst werde.

Der von Dubček angekündigte „Kommunismus mit menschlichem Antlitz” jedoch alarmierte den Kreml. Bereits am 23. März 1968 äußerten die osteuropäischen KP-Führer in Dresden ihre „Besorgnis”, daß „antisozialistische Kräfte” die Entwicklung in der CSSR für sich ausnützen könnten. Prompt deutete die Moskauer „Prawda” ab diesem Zeitpunkt automatisch als „antisozialistisch”, was an der tschechoslowakischen Entwicklung vom sowjetischen System abwich.

Den Einfluß „nichtsozialistischer Auffassungen” diagnostiziertedassow- jetische Parteiblatt, als die KPC am 5. April 1968 die Pressezensur aufhob und freie Meinungsäußerungen mit dieser Begründung gestattete: „Einem werktätigen Volk, dem keine Ausbeuterklasse mehr diktiert, kann man nicht durch willkürliche Auslegung der Macht vorschreiben, worüber es informiert sein darf und worüber nicht, welche Ansichten es öffentlich aussprechen darf und welche nicht, wo es seine öffentliche Meinung geltend machen darf und wo nicht.”

Für ihren - offiziell von Moskau „erlaubten” - eigenen Weg zum Sozialismus erntete die KPC wachsende Zustimmung der Bevölkerung, Bewunderung unter den sogenannten Reformkommunisten in aller Welt und verschärfte Kritik des Kremls und seiner Satelliten. Schon Ende April 1968 vermerkte die „Prawda” angebliche Erscheinungen von „antikommunistischer Hysterie und Anarchie” in der CSSR.

Am 8. Mai konferierten im Kreml Breschnew, Gomulka, Ulbricht und Schiwkoff. Schlagartig setzte darauf im Ostblock eine Pressekampagne gegen den Kurs DubČeks ein: Seine Ansicht von sozialistischer Demokratie sei falsch und unwissenschaftlich, weil allein die „Diktatur des Proletariats” - nach sowjetischer Ideologie natürlich das sowjetische System - die „höchste Form der Demokratie” sei.

Die DDR-Zeitungen brachten in großer Aufmachung die Falschmeldung über die Anwesenheit amerika nischer Panzer in Prag. Die Sendungen des CSSR-Rundfunks wurden gestört. Der sowjetische Propagandachef Demitschew rief in der „Prawda” zu einer ideologischen Kampagne gegen die „revisionistischen Erfindungen” in der CSSR auf. Der ukrainische Parteichef Schelest erklärte, man dürfe „ausgedachte und nicht lebensfähige Modelle des Sozialismus nicht zulas- öib at tmä-iao aov tragn.

Am ll. Juli schrieb die „Prawda” das Leitmotiv für die flachste Rtihde des Kampfes. Man plane in der CSSR einen „Umsturz” und die „Restauration des Kapitalismus”. Doch die „gesunden Kräfte” könnten stets „auf das Verständnis und die volle Unterstützung des Sowjetvolkes” bauen.

Im „Warschauer Brief’ vom 15. Juli warfen die Parteichefs der UdSSR, der DDR, Polens, Ungarns und Bulgariens Dubcek vor, er verabsäume es, „konterrevolutionäre Tendenzen im Zaume zu halten”. Die KPC spiele nicht mehr die führende Rolle, die Demokratisierung richte sich gegen die Partei. „Wir werden es niemals zulassen, daß der Imperialismus auf friedlichem oder nichtfriedlichem Weg von innen oder von außen eine Bresche in das sozialistische System schlägt und das Kräfteverhältnis in Europa zu seinen Gunsten verändert.”

Dubcek antwortete, durch die „freiwillige Unterstützung des Volkes” sei die führende Rolle der KP in der CSSR stärker denn je. Doch diese Rechtfertigung nützte ebensowenig wie die Konferenzen Dubčeks mit den Ostblock- führem in Ciema und in Preßburg. Am 21. August rollten Sowjetpanzer über die CSSR-Grenze.

Moskaus Versuche, imperialistische Großmachtpolitik gegenüber „Bruderstaaten” ideologisch zu bemänteln, beendete der Parteiideologe Sowjetow im November 1968 mit brutaler Offenheit: „Die Solidarität mit dem Sowjetstaat und seine Unterstützung auf dem internationalen Schauplatz ist - ebenso wie früher - der wichtigste Bestandteil des proletarischen Internationalismus.”

„Zeigt ihnen, daß eure itommunen die Menschheit nicht einem eisernen Despotismus unterstellen werden. Zeigt ihnen, daß wirkliche Freiheit und Gleichheit nur unter den Bedingungen der Kommune möglich sind. Zeigt ihnen, daß die Gerechtigkeit solche Bedingungen erfordert, dann werdet ihr sie alle auf eurer Seite haben.”

Das schrieb Friedrich Engels. Dubcek gab Engels recht. Doch der Kreml schweigt diesen Satz tot. Denn er enthält das ideologische Todesurteil über die Breschnew-Doktrin.

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