6793857-1971_01_04.jpg
Digital In Arbeit

Kann man heute noch Kommunist sein ?

19451960198020002020

Allein schon die Fragestellung, die als Titel eines Buches des französischen Kommunisten Garaudy aufscheint, ist ein Zeichen dafür, daß es mit der inneren Sicherheit, die die Mitglieder der kommunistischen Partei Jahrzehnte hindurch zur Schau stellten, endgültig vorbei ist. Sie war eigentlich schon vorbei, als Chruschtschow am XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 Stalins Verbrechen offenlegte und damit zugleich das Dogma zertrümmerte, daß die Parteiführung immer den richtigen Weg geht, gewissermaßen unfehlbar ist. Mit dem Überfall der Sowjetunion auf die Tschechoslowakei im August 1968 aber wurde noch ein weiterer Schritt getan. Bewies der XX. Parteitag, daß die Parteiführung dem Irrtum ebenso unterworfen ist, wie alle anderen menschlichen Einrichtungen es sind, so wurde durch den Überfall auf die Tschechoslowakei der sowjetische Kommunismus als solcher für eine Fehlentwicklung angesehen und als Panzerkommunismus von den Kritikern der Sowjets an den Pranger gestellt. Der Kommunismus ist nur zu retten, so urteilen die kommunistischen Intellektuellen des Westens, wenn er sich der wissenschaftlichen Entwicklung anpaßt und vor allem ein menschliches Antlitz erhält.

19451960198020002020

Allein schon die Fragestellung, die als Titel eines Buches des französischen Kommunisten Garaudy aufscheint, ist ein Zeichen dafür, daß es mit der inneren Sicherheit, die die Mitglieder der kommunistischen Partei Jahrzehnte hindurch zur Schau stellten, endgültig vorbei ist. Sie war eigentlich schon vorbei, als Chruschtschow am XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 Stalins Verbrechen offenlegte und damit zugleich das Dogma zertrümmerte, daß die Parteiführung immer den richtigen Weg geht, gewissermaßen unfehlbar ist. Mit dem Überfall der Sowjetunion auf die Tschechoslowakei im August 1968 aber wurde noch ein weiterer Schritt getan. Bewies der XX. Parteitag, daß die Parteiführung dem Irrtum ebenso unterworfen ist, wie alle anderen menschlichen Einrichtungen es sind, so wurde durch den Überfall auf die Tschechoslowakei der sowjetische Kommunismus als solcher für eine Fehlentwicklung angesehen und als Panzerkommunismus von den Kritikern der Sowjets an den Pranger gestellt. Der Kommunismus ist nur zu retten, so urteilen die kommunistischen Intellektuellen des Westens, wenn er sich der wissenschaftlichen Entwicklung anpaßt und vor allem ein menschliches Antlitz erhält.

Werbung
Werbung
Werbung

Der vielleicht bekannteste unter diesen IntellektueMen, die die Humanisierung des Kommunismus predigen, ist Roger Garaudy. Der heute Siebenundfünfzigjährige, Professor der Philosophie an der Sorbonne und führender Ideologe der kommunistischen Partei Frankreichs, wurde wegen seiner kritischen Äußerungen nach dem sowjetischen Überfall auf die CSSR aus der Partei, der er seit 1933 angelhört, ausgeschlossen. In seinen beiden Büchern „Die große Wende des Sozialismus“ und „Kann man heute noch Kommunist sein?“ versucht er, neue Wege des Kommunismus aufzuzeigen.

Für Garaudy begann alles Unglück in der Sowjetunion mit Stalin, in dessen Ära der autokratische Voluntarismus an Stelle dessen trait, was Lenin als „das Wecken der schöpferischen Kräfte“ bezeichnete. Am 20. Dezember 1938 führte das Stalin- Regime das „Arbeitsbuch“ ein. Es wurde den Werktätigen verboten, den Arbeitsplatz zu wechseln. Wer zu spät kam, wurde mit Kündigung, wer unerlaubt von der Arbeit fernblieb, mit Gefängnis bestraft. An Stelle der Klasse trat die Partei, an Stelle der Partei trat der Apparat, an Stelle des Apparates trat der Füh- rüngskader. Die Massenorganisationen, vor allem die Gewerkschaften, wurden zu „Transmissionsriemen“ für die Direktiven von der Spitze zur Basis umfunktioniert. Wegen der kapitalistischen Einkreisung des Sowjetstaates könne, so lautete die offizielle Version, das marxistische Ziel vom allmählichen Absterben des Staates nicht verwirklicht werden. Das Plenum des ZK vom Februar und März 1937 stellte fest, daß sich „mit dem weiteren Vormarsch des Sowjetstaates der Klassenkampf im Staate immer mehr verschärfe“. Die Folge davon war eine Serie von Prozessen, durch die nahezu die gesamte alte Garde vernichtet wurde. Von 1936 bis 1939 kamen mehr als eineinhalb Millionen Parteimitglieder und an die zehn Millionen Sowjetbürger in Gefängnisse oder Lager. Ein großer Teil der Opfer dieser Verfolgung ging zugrunde.

Die dogmatische Entartung des Marxismus richtete Verwüstungen in allen Wissenschaftszweigen an. Die Relativitätstheorie, die . Quantenphysik und die Kybernetik wurden als „philosophischer Idealismus“ und die Psychoanalyse als „bourgeoise Wissenschaft“ abgetan. In der Kunst war die Lage noch schlimmer. Sie wurde als eine „schöpferische Methode des sozialistischen Realismus“ proklamiert.

Tito — ein Mörder und Faschist

Nach dem zweiten Weltkrieg entsandte Stalin seine Polizeiorgane in die besetzten Länder, um die dortigen kommunistischen Führungsstäbe zu köpfen. Den Satelliten wurde die mechanische Anwendung des sowjetischen Vorbildes aufgezwungen, obwohl sie andere Strukturen und historische Entwicklungen besaßen.

Als 1948 Jugoslawien dem autoritären Dogmatismus die Stirn bot, wurden seine führenden Männer als „konterrevolutionäre Agenten, Spione, Mörder und Faschisten“ apostrophiert. Das gleiche geschah zwanzig Jahre später in der CSSR, wobei Breschnjew noch weiterging als Stalin, der in Jugoslawien wenigstens nicht mit seinen Armeen einfiel.

Der XX. Parteitag im Jahre 1956 schien eine Wende zu bringen, doch konzentrierte Chruschtschow seine Kritik auf den stalinistischen „Personenkult“. Stalins Hauptwerk aber, „Fragen des Leninismus“, blieb im wesentlichen gültig. Damit aber blieb auch das Grundprinzip des bürokratischen Zentralismus konserviert, daß nämlich der Staat alles steuern und lenken müsse und keine Rücksicht auf das revolutionär Subjektive nehmen Jcönne. Dies aber führte zwangsweise zur „dogmatischen Deformation“ und zur „Degeneration des Sozialismus“.

Die Reformer in der CSSR versuchten, diese Entwicklung aufzuhalten und eine „Partei neuen Typs“, wie sich Italiens KP-Chef Togliatti ausdrückte, zu schaffen. Sie hoben die Zensur auf, schufen das System von „Arbeiterräten“ in den Betrieben und änderten die Parteistatuten. Es sollte keine Doppelfunktionen in Staat und Partei mehr geben. Ferner wurden die Rechte der Minderheit anerkannt, sich in der Parteipresse zu äußern. Die geheime . Wahl der Parteileitungen auf allen Stufen und die Sicherung der Kontrollen durch die Veröffentlichung der Rechenschaftsberichte des ZK waren weitere wichtige Punkte in den neuen Statuten. Breschnjew hatte dafür nur ein Anathema und bezeichnete die Reformen der tschechoslowakischen Genossen als eine „Verneinung des demokratischen Zentralismus und Aufgabe der führenden Rolle der Partei“, obwohl Lenin einstens gefordert hatte (er forderte viel, doch realisierte er wenig von seinen Forderungen), daß der demokratische Zentralismus die Demokratie nicht abschaffen dürfe.

Schlittert Sowjetunion in Militärdiktatur?

Die Moskauer Konferenz im Juni 1968 (im Anschluß an den CSSR- Uberfall) zerstörte den Mythos vom monolithischen Block der kommunistischen Staaten. Waren bei der Konferenz im November 1960 noch 81 kommunistische Parteien in Moskau vertreten, so fanden sich dieses Mal die Vertreter von nur acht Parteien ein. Dem Dokument, das beschlossen wurde, stimmten die italienischen Kommunisten überhaupt nicht zu und die spanischen nur mit Vorbehalt. Kein einziges entscheidendes Problem konnte gelöst werden. Husák durfte die CSSR-Frage nicht anschneiden, und die chinesischen Führer wurden mit den gleichen Ausdrücken verurteilt wie seinerzeit die jugoslawischen: Faschistische Clique, Verbündete des Imperialismus, Mörder und Antikommuni- Sten. Am schlimmsten aber war, daß durch die Moskauer Konferenz der italienischen und französischen KP

die Möglichkeit genommen wurde, einen demokratischen Weg zum Sozialismus zu finden.

Voll Sorge stellt Garaudy fest, daß die Sowjetunion nach drei Generationen, die im Sozialismus herangewachsen sind, noch immer die „ideologische Unterwanderung“ durch die kapitalistische Welt befürchtet. Seiner Meinung nach kann aber ein militärisch-bürokratischer Block auf die Dauer anderen kein Modell auf- zwinigen, das sich nur mit Hilfe von Polizei und Armee aufrechterhalten läßt. Wenn der bürokratisch-militärische Block bleibt, dann schlittert die Sowjetunion zwangsläufig in einen reaktionären Neo-Bonapartis- mus und eine Militärdiktatur. Einen Wechsel hält Garaudy nur durch eine Palastrevolution wie am XX. Parteitag oder durch eine Explosion für möglich.

Das neue Bündnis

Wie aber sieht nach Garaudys Ansicht der neue demokratische Weg aus? Grundsätzlich hält er an der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln fest, weil nach Meinung Garaudys durch das Privateigentum das Gebot des Profits, des Wachstums um des Wachstums willen und die Entfremdung der Werktätigen von der gesamten Gesellschaft eingeführt Wird. Allerdings hält Garaudy die Identifizierung des kollektiven Eigentums an den Produktionsmitteln mit dem Staatseigentum für verfehlt, weil der Staatsapparat zum Verwaltunigsap- parat wird und somit jegliche Initiative von außen her zerstört. Nun besitzt Garaudy keine genauen Vorstellungen über die Führung von Betrieben. Er spricht von Mischformen. Beispielsweise erwähnt er die von Lenin vorübergehend eingeführte

„Arbeiterkontrolle", durch die der Unternehmerschaft gewisse Produktionsmittel verblieben, doch den Werktätigen das Recht auf das Eigentum und die Verfügung über den Mehrwert überlassen wurde. Garaudy weist ferner auf das jugoslawische Beispiel hin (Verfassung von 1963), demzufolge die Belegschaft den Betrieb im Namen der Gesellschaft leitet, doch gibt er zu, daß der auf Selbstverwaltung beruhende Sozialismus nicht verwirklicht wurde.

Derzeit haben nach Meinung Garaudys die Arbeiter und Intellektuellen weder an den Entscheidungen im Betrieb noch an der Verteilung des Mehrwertes Anteil (was nicht stimmt, da die Gewerkschaften zumindest bei der Verteilung des Mehrwertes mitsprechen). Deshalb glaubt Garaudy, daß die Zukunft ein strategisches Bündnis zwischen Arbeitern und Intellektuellen bringen werde, und verwendet dafür den Marxschen Ausdruck vom „Gesamtarbeiter“. Arbeiter und Intellektuelle werden nach Garaudy künftig einen neuen „historischen Block“ bilden. Das Kugelgelenk zwischen Arbeitern und Intellektuellen ist die Schicht der hochqualifizierten Facharbeiter. Bei den Streiks und Demonstrationen im Mai und Juni 1968 hat sich nach Garaudys Meinung das Bündnis von Arbeitern und Intellektuellen zum erstenmal in Frankreich gezeigt.

Das Parlament 1st überholt

Im System der zentralistisch-bürokratischen Leitung wird die Gesellschaft als Maschine betrachtet, weshalb die schöpferische Rolle sowie die Initiative des Individuums nichts zählen. Im Zeitalter aber, in dem die Wissenschaft und ihre schöpferische Entwicklung zur treibenden Kraft werden, ist jene Methode die wirksamste, aber auch rentabelste, die der Forschung die maximalste Entwicklungsdynamik sichert. Unzeitgemäß ist nach Garaudys Meinung auch die formale Demokratie als Kennzeichen des bourgeoisen Regimes. Sie macht nämlich halt vor dem Tor, wo das Reich der Unternehmer beginnt. Deshalb kann auch das Parlament nicht mehr die Rolle eines Motors im politischen Leben spielen. Aber auch Barrikadenaktionen können diese Rolle nach Ansicht Garaudys nicht verwirklichen, wobei ihm offensichtlich der Zusammenbruch der französischen Revolte im Frühsommer 1968 als Warnzeichen diente. Da es außer der KP keine Klassenpartei mehr gibt, ist auch der parlamentarische Kampf unwesentlich geworden. Die wichtigsten Funktionen erhalten Gewerkschaften und Berufsorganisationen. Für den Abgeordneten darf es keinen Blankoscheck mehr geben, vielmehr muß der Gewählte absetzbar sein, falls der Termin zur Verwirklichung der Versprechen nicht eingehalten wird. Ein regelmäßiger Dialog zwischen Regierten und Regierenden garantiert die Rechte der Minderheit. Für die KP selbst schlägt Garaudy vor, daß es keine hauptberuflichen Parteifunktionäre mehr geben soll. Abgesehen von einer kurzen beruflichen Freistellung zur Durchführung von begrenzten Aufgaben sollen die Funktionäre Berufen nachgehen. Das würde die Rotation schnell und obligatorisch machen und den Kontakt der Funktionäre mit der Außenwelt sichern.

Der kommunistische Christ

Die derzeitige Praxis der kommunistischen Parteien ist nach Garaudys Ansicht weder demokratisch noch wissenschaftlich, da die Wissenschaft die freie Konfrontation der Methoden und der Hypothesen fordert. Auch muß jedes Land seine eigene Form des Kommunismus finden. Der Marxismus darf keine „offizielle Philosophie“ haben, weder eine idealistische noch eine materialistische, und er darf weder religiös noch atheistisch sein. Dem Marxismus ist der Stellenwert einer wissenschaftlichen Erkenntnismethode und eines revolutionären Kampfmittels zuzuweisen und nicht der eines politischen Dogmas: „Wenn heute viele Christen ihren Glauben so leben, daß dieser sie nicht von irgendeiner revolutionären Aufgabe abhält und sie der KP beitreten wollen, ist, sofern sie loyal ihre Aufgaben in der Partei erfüllen, keinerlei Diskriminierung denkbar: Ein solcher Christ sollte in jede beliebige Führungs- posiition -aufsteigien können.“ Zweifellos predigt Garaudy einen Kommunismus mit menschlichem Antlitz und stellt damit auch eine Alternative zur Diskussion. Allerdings schafft er die grundsätzlichen Zweifel an den kommunistischen Modellen nicht aus der Welt. Es gibt nämlich in der Wirklichkeit kein einziges kommunistisches Modell, das auch nur annähernd den Menschen die Freiheiten und den wirtschaftlichen Aufstieg der westlichen Demokratien sichert. Auch Jugoslawien als das beste kommunistische Modell bleibt gegenüber den westlichen Demokratien weit zurück. Das CSSR-Modell, das, well nicht realisiert, nun zum Traummodell erhoben wird, sah letztlich Freiheiten vor, die keineswegs die Freiheiten in den westlichen Demokratien erreichten. Was aber die Abschaffung des Privateigentums betrifft, so müßte erst ein kommunistisches Modell gefunden wenden, das eine bessere Entfaltung der wirtschaftlichen Möglichkeiten gewährleistet. Wenn Garaudy immer wieder behauptet, wie wenig die kapitalistische Wirt- schafitsreform imstande ist, das Zeitalter der Computer und der Kybernetik zu bewältigen, dann muß es doch nachdenklich stimmen, daß die kapitalistischen USA 42.000, Westeuropa 13.000 und die Sowjetunion 4000 Computer besitzt. Westdeutschland beispielsweise, das nach den USA an der Spitze liegt, hat mit 4000 Computern die gleiche Anzahl wie die an Bevölkerung viermal so große Sowjetunion. Das soll nicht sagen, daß die sogenannten kapitalistischen Staaten alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme gelöst hätten. Fragen der Mitbestimmung und der Wertgleichsetzung von Arbeit und Kapital sind noch völlig offen. Das Problem der Entfremdung aber kann kaum mit politischen und wirtschaftlichen Reformen aus der Welt geschafft werden, weil es größtenteils in den Bereich des Geistes und Gemütes gehört.

Solange sich der Kommunismus in seiner Verwirklichung bisher fast nur als Panzerkommunismus offenbart, solange er die Rede-, Presse-, und Religionsfreiheit unterdrückt, solange er die Reformversuche aus seinen eigenen Reihen brutal niederringt, solange er den eigenen Intellektuellen kritischer Äußerungen wegen den Prozeß macht und sie in Arbeitslager oder Irrenhäuser steckt, solange er den Dualismus in der Welt als eine böse und kriegerische Wett des Kapitalismus und eine gute und friedfertige Welt des Kommunismus simplifiziert, solange kann ein Mensch, der Charakter besitzt und seine fünf Sinne beisammen hat, kein Kommunist sein.

„Die große Wende des Sozialismus“ von Roger Garaudy. Molden-Verlag, Wien-München-Zürich 1970.

„Kann man heute noch Kommunist sein?“ von Roger Garaudy. Rowohlt- Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1970.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung