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Nicht nur Garaudy...

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Das Kesseltreiben gegen den französischen KP-Starphilosophen, Roger Garaudy, ist international so bekannt geworden, daß es keiner breiteren Erörterung bedarf. Der Fall Garaudy ist im übrigen eher ein Symptom, ja nur ein Apropos und ein knallender Startschuß zum ideologisch-philosophischen Großreinemachen in Sowjeteuropa. Die „Laus der Deviation“ hat sich tief im Pelz der Sowjetideologie eingefressen und sie droht enorme Schäden anzurichten. Deswegen wurde eine großangelegte philosophische „Entlausungskampagne“, wenn man will eine ideologische Inquisition, in den letzten Tagen des Jänner 1970 gestartet. Als Chefinquisitoren betätigen sich sowjetrussische und bulgarische Spätanbeter des reformierten, dennoch stalinistisch infizierten „wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus“, mit M. B. M i t i n und Todor Pawloff an ihrer Spitze.

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Das Kesseltreiben gegen den französischen KP-Starphilosophen, Roger Garaudy, ist international so bekannt geworden, daß es keiner breiteren Erörterung bedarf. Der Fall Garaudy ist im übrigen eher ein Symptom, ja nur ein Apropos und ein knallender Startschuß zum ideologisch-philosophischen Großreinemachen in Sowjeteuropa. Die „Laus der Deviation“ hat sich tief im Pelz der Sowjetideologie eingefressen und sie droht enorme Schäden anzurichten. Deswegen wurde eine großangelegte philosophische „Entlausungskampagne“, wenn man will eine ideologische Inquisition, in den letzten Tagen des Jänner 1970 gestartet. Als Chefinquisitoren betätigen sich sowjetrussische und bulgarische Spätanbeter des reformierten, dennoch stalinistisch infizierten „wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus“, mit M. B. M i t i n und Todor Pawloff an ihrer Spitze.

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Mit einem bemerkenswerten Artikel in der Moskauer „Pravda“ am 27. Jänner d. J. wurde „Schuß frei!“ gegeben. Auf den ersten Plätzen der Kreml-Abschußliste figurieren außer Garaudy der Pole Leszes Kola-kowski, der Tschechoslowake Julius Strinka sowia die vier jugoslawischen Parteiphilosophen Gojo Petrouic, Rudi Supek, Predrag Vranicki und Mihajlo Markovic.

Die als Zielscheiben freigegebenen osteuropäischen Professoren verkörpern eine eigene philosophische Schule mit einem großen Gelehrtenanhang. Sie lehnen Moskaus dominierende Rolle im Weltkommunismus ab.

Mit dem polnischen Denker, Leszefe Kolokotüski, dürften die Apostel der russischen Gegenreformation verhältnismäßig ein leichteres Einschüchterungsspiel haben. Kola-kowski kämpft schon seit geraumer Zeit gegen den „albernen, unsinnigen Dogmatismus“. Er sagt unter

anderem: „Es gibt keine alleinige, treue marxistische Interpretation einer bestimmten Philosophie oder Literatur.“ Er steht geistig am nähe-sten zum deutschen Philosophen Ernst Bloch, der von den meisten sowjetdeutschen und sowjetrussischen Kollegen einfachheitshalber „Renegat“, „Verräter“, „Lügner“ und „Krimineller“ genannt wird, da er nach sowjeteuropäischer Auffassung „revisionistische Ansichten“ vertritt. Welch ein Kontrast: die genannten jugoslawischen Professoren halten Bloch für einen der „scharfsinnigsten Interpreten des Marxismus“. Der tschechoslowakische Marxist Julius Strinka hat den Haß gewisser bulgarischer und sowjetrussischer Philosophen damit auf sich gezogen, daß er ihr stalinistisches Konzept als puren Dogmatismus abgelehnt hatte. Eine parteiamtliche Abfuhr erteilte ihm der linientreue Sowjetphilosoph W. S. Molotsow im Namen der Gekränkten. Seitdem

wurde wiederholt ein ideologisches Zielschießen mit Giftpfeilen auf Strinkas Kopf veranstaltet. Die größte Gefahr droht den „vier Heiligen“ Marx, Engels, Lenin und Stalin von seifen der vier jugoslawischen Unheiligen. Wer sind eigentlich diese vier mutigen Philosophen?

Aufstand gegen die Großen Vier

Professor Gajo Petroviä ist der Chefredakteur der Agramer Zeitschrift „Praxis“, die sechsmal im Jahr erscheint. Mit Professor Rudi Supek hat er mehrere philosophische Werke publiziert, von denen „Philosophie und Marxismus“ das bekannteste war (Agram 1965). Weil Petrovid an den Studentenunruhen im Juni 1968 beteiligt war, wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Schon im Juni 1963 fiel er am philosophischen Symposium zu Dubrovnik mit seinen liberalen Ansichten auf, wo er begeistert verkündete: „Ein Individuum wird nur durch seine freie Tätigkeit zu einer freien Person“ und: „Es kann keine freie Gesellschaft ohne freie Personen geben und auch keine freie Person ohne eine soziale Gemeinschaft.“ Er war schon vor drei Jahren der Ansicht, daß nur die jugoslawischen Philosophen das marxistisch-leninistische Konzept der Philosophie „erneuert“ haben. Anläßlich des Budapester Symposiums Anfang Oktober 1966 opponierte Professor Petrovid offen gegen die rein stalinistischen Machinationen der sowjetrussischen und bulgarischen Kollegen. Damit präsentierte er sich für Molotsows Schießbude als willkommene Zielscheibe. Darauf replizierte er mutig:

„Kritik über .sozialistische' Apologetik ist keine generelle Kritik des Sozialismus und Resolutionen des Zentralkomitees sind überhaupt keine Philosophie ... Wir müssen uns bemühen, die Fragen zu beantworten, die Marx offengelassen hat . . . Die Philosophie besitzt nicht das Recht, jemanden wegen seinen Fehlern zu tadeln und schuldig zu sprechen.“ Und dergleichen mehr. Wenn das keine Ketzerei für waschechte Marxisten-Leninisten Moskauer Prägung ist! Petrovic lehnte es ab, daß die marxistische Philosophie ein Handlanger der Partei in inneren Machtkämpfen sei, und verurteilte die Anbetung der „vier Heiligen“. Er sagte rund heraus, daß außer den vier Großen auch andere „originelle marxistische Denker“, wie etwa Ernst Bloch, existieren, die von Stalin in den Hintergrund gedrängt worden seien. Professor Rudi Supek ist der im Kreml unbeliebteste von den Jugoslawen. Seine lange Studie in der „Praxis“ (1965) mobilisierte die konservativen Abwehrkräfte im ganzen Sowjeteuropa. Schon allein ihr Titel war provokativ: „Mehr über die Alternative: stalinistischer Positivismus und kreativer Marxismus.“ Von der jetzigen sowjeteuropäischen Führerschaft ist 5upek nicht gerade begeistert: „Von Leuten, die aus den Bauernlumpen in die Limousine htaüberwechselten, kann man die Lösung der humanistischen Probleme des Sozialismus nicht erwarten.“ Solche Führer haben „ihren eigenen Sozialismus aufgebaut — zum Beispiel in der Sowjetunion —, der nicht genug attraktiv für friedliebende Menschen ist“.

„Konfuse Gesellen!'* Der Agramer Philosophieprofessor, Predrag Vranicki, der ebenfalls Mitredakteur bei der Zeitschrift „Praxis“ ist, erregte bereits Anfang 1962 Aufsehen mit seinem Buch: „Die Geschichte des Marxismus.“ Das 600 Seiten starke Werk ist stark antisowjetisch, enthält eine scharfe Kritik der sowjetischen Philosophen, die er als konfuse Gesellen hinstellt. Er spricht von einer „unbeholfenen

ideologischen Maschinerie“. Die russischen Theoretiker haben keine blasse Idee davon — nach Professor Vraniöki —, was Dogmatismus und Revisionismus aktuell bedeuten. Für die lebenden Sowjetkollegen ist die Welt einfältig-einfach: alles, was aus dem früheren Etalinistischen Konzept übrigblieb, gehöre ins Fach des Dogmatismus, was den momentan gültigen Sowjetideen opponiert; sei Revisionismus.

Der Professor der Belgrader Universität, Mihajlo Markovic, ist der einzige Serbe zwischen den jugoslawischen Philosophen, die das Mißfallen der Sowjetkollegen auf sich konzentrierten. Seine Bücher und zahlreiche Studien, Essays haben ihm das Epitheton ornans „Provokateur“ in Sowjeteuropa eingebracht. Kein Wunder bei einem Philosophen, der offen seine Meinung niederschrieb: „In allen sozialistischen Ländern existiert eine mehr oder minder getarnte Form der Ausbeutung der Arbeiter.“ In seinem Werk „Die Idee der Revolution“ bezeichnete Markovi6 als „Ausbeutung“ die hohen Bezüge und Privilegien der Machthaber, sowie ihre „unbegrenzte Macht“. Er bezog Stellung gegen die Berufspolitiker in kommunistischen Ländern und sagte über die gewöhnlichen Sterblichen: „Die meisten Leute haben eher den Status eines Objekts als eines Subjekts.“ Er plädiert ebenfalls für den weiteren Ausbau der Arbeiterselbstverwaltung. Von den „Hohenpriestern“ des Kommunismus wagte er sogar Lenin zu kritisieren. „In dieser neuen Gesellschaft wurden wirkliche Revolutionäre oft in Kerker gesteckt; die einzige Änderung war, daß die Ankläger ausgewechselt wurden“ — so der aggressive Professor. „Früher war er ein Kapitalist, heutzutage Ist er (der Ankläger) ein Kommunist!“ ... „Revolution ist etwas viel tieferes als eine Ansammlung von Macht.“ Seiner Ansicht nach haben sogar Lenin, Trotzkl und Bucharin den Sinn und den Inhalt der sozialistischen Revolution „inkorrekt interpretiert“: „Es ist nicht wahr, daß jede Opposition der KP gegenüber zerstört werden muß.“

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