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Die skeptische Jugend des Ostens

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Was denkt die Jugend im sogenannten Osten? Was hält sie von der Praxis ihrer Regierungen, was von der marxistischen Theorie? Von seiten eines westlichen Antikommunismus, der zu einer Dämonisierung des Ostens neigt, ist immer wieder — teilweise sogar in Buchform — die These vertreten worden, es würde dem Kommunismus gelingen, die Jugend zu „indoktrinieren“, wie es so unschön heißt. Man traut da dem Kommunismus geradezu hypnotische Kräfte zu und malt das Schreckgespenst einer kollektiven Zwangsneurose an die Wand, deren

Opfer die Jugend im Osten werde.

Wer je selbst im Osten war, der weiß, daß die Wirklichkeit ganz anders aussieht. In Wirklichkeit bereitet gerade die Jugend den kommunistischen Regimes — auch in der Sowjetunion — Sorgen, da sie so wachen Geistes, so kritisch und so wenig autoritätsgläubig ist. Als vor einigen Jahren eine Gruppe mutiger polnischer Soziologen die Ergebnisse einer modernen Meinungsumfrage unter den Warschauer Studenten veröffentlichte, ergab sich, daß auf die Frage „Sind Sie Marxist?“ nur 1,8 Prozent mit eindeutig „Ja“, 34,1 Prozent „entschieden nein“, weitere 33,7 Prozent „eher nein“, 11,4 Prozent „eher ja“ und 17,2 Prozent „keine Meinung“ geantwortet hatten. Wenn man bedenkt, daß in den kommunistischen Staaten die Theorie des Marxismus ein Pflichtfach der Schulen darstellt und die Jugend sich mit den Gedanken von Karl Marx — oder was so als Marxismus verkündet wird — so vertraut machen muß wie mit dem Einmaleins, so ist das als ein schlechthin erstaunliches Ergebnis zu werten. Man ist inzwischen denn auch etwas vorsichtiger geworden mit dem Veröffentlichen von soziologischen Umfragen

Für den „undogmatischen Sozialismus“

Im Osten im allgemeinen und in Polen im besonderen, hat aber alles seine zwei Seiten. Dieselben Warschauer Studenten erklärten sich nämlich zu rund 70 Prozent entschieden dafür, daß die Welt einen sozialistischen Weg einschlagen solle. Man bekannte sich dabei zu einer Art realistischem, undogmatischem Sozialismus, unter dem man vor allem ein gemeinwirtschaftliches System mit Verstaatlichung von Engros- und Außenhandel, großen

Die Optimisten irren.

Festzuhalten ist: Was hier dem Kommunismus vorgeworfen wird, ist, daß er zuviel Vertrauen in die Natur des Menschen habe. Der Kommunismus sagt: Ändert materielle Verhältnisse, schafft die Ausbeutung und das Privateigentum ab, dann „werden die Menschen gut“. Das setzt voraus, daß die Menschen ursprünglich gut waren und nur durch die Verhältnisse verdorben worden sind. Daran scheint unser Student aber nicht zu glauben, sondern er sieht im Gegenteil die landwirtschaftlichen Gütern und Schwerindustrie sowie eine Ersetzung des privatkapitalistischen und staatlichen Unternehmers durch ihre Unternehmen selbst verwaltende Arbeiterräte versteht, bei strikter Wahrung der bürgerlichen Freiheiten.

Eine Veröffentlichung aus der DDR unserer Tage läßt nun den Schluß zu, daß das, was hier von den Warschauer Studenten gesagt wird, offenbar auch für die Studenten in Ost-Berlin und der DDR gilt. Gemeint sind die als „rororo- aktuell“-Bändchen erschienenen

Ost-Berliner Vorlesungen von Professor Robert Havemann — „Dialektik ohne Dogma?“ —, in denen sich dieser alte Kommunist vor 1250 eingeschriebenen Hörern mit einigen Grundfragen des Marxismus auseinandersetzte, was ihm den Verlust seines Lehrstuhls und den Ausschluß aus der SED eintrug. Am Schluß des Bändchens findet man auch noch die — nach einer Bandaufnahme hergestellte — Wiedergabe von drei Seminarstunden, in denen Havemann auf Fragen der Studenten antwortete. Und mit diesen Fragen wollen wir uns hier etwas beschäftigen.

Huxley und der „gute Mensch"

Zum besseren Verständnis des Problems, über das hier diskutiert wurde, muß vorausgeschickt werden, daß Professor Havemann — darin ein orthodoxer Marxist — immer wieder die These aufgestellt hatte, daß „das Gute oder Böse im Menschen überhaupt erst durch das gesellschaftliche Leben entsteht“, woraus folgt, daß nach einer Beseitigung des Bösen in den gesellschaftlichen Verhältnissen — nach Marx und Havemann: des Privateigentums — die Menschen moralisch gut würden. In einer kommunistischen Gesellschaft würde es also keine Diebe und Räuber mehr geben können. An diesem Punkte hakten nun die skeptischen Studenten ein: „Sie haben offenbar so viel Vertrauen in den Menschen, daß Sie Zustände ähnlich denen, die Huxley in seinem Buche ,Schöne neue Welt’ schildert, nicht für möglich halten“, lautet ein erster Einwand. (Huxley hat in diesem Buch eine Zukunftswelt geschildert, die derjenigen von Orwells „1984“ verwandt ist und in der etwa die Menschen im Reagenzglas gezüchtet werden.)

Gefahr, daß eine solche unrealistische Ansicht von der Natur des Menschen erst recht das Böse in ihm entfessle und so zu Zuständen führe, wie sie Huxley geschildert hatte.

Warum sind die Zuchthäuser noch da?

Genau dasselbe meinte ein anderer Student: „Bei der Bildung Ihres Moralbegriffs und bei der Vorstellung von der moralischen Gesellschaft der kommunistischen Zukunft gehen Sie von einem bestimmten

Menschenbild aus. Sind die Annahmen über die Natur des Menschen so zwingend, daß die bei dem Versuch, den (kommunistischen) Endzustand zu erreichen, auftretenden politischen Konsequenzen verantwortet werden können?“ Gemeint ist damit: Darf man im Vertrauen auf die Wandlung des Menschen durch eine Wandlung der Verhältnisse den Stalinismus Ulbrichts in Kauf nehrpen? Besteht eine „zwingende“ Garantie, daß man über Ulbricht schließlich zum „guten Menschen“ kommt?

Deutlicher sagte es ein anderer: „Macht die sozialistische Moral nicht eine Aufhebung der Zuchthäuser und Gefängnisse in ihrer bisherigen

Und wir im Westen?

Klar allerdings haben diese Studenten auch das humanistische Element im Marxismus erkannt, und was sie ihm vorwerfen, ist nicht, daß er „unmoralische“ Produktionsverhältnisse wie den Kapitalismus beseitigen will, sondern daß er es mit teilweise inhumanen Mitteln tun will, die allein offensichtlich nicht zum humanistischen Ziele führen;

Form notwendig? Die Prügelstrafe in der Schule wurde als zweifelhaftes Erziehungsmittel erkannt und abgeschafft. Aber die Zuchthäuser bleiben.“ Es ist klar, wodurch die tiefe Skepsis dieser Studenten gegenüber der marxistischen These von der Wandlung des Menschen durch eine Wandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt ist: durch den Anschauungsunterricht, den sie seit Jahren in der DDR genießen. Hat man hier nicht weitgehend das Privateigentum abgeschafft und die zum Bösen verleitenden kapitalistischen Verhältnisse gewandelt? Aber wo bleibt der gute Mensch? Wieso braucht man noch mehr Zuchthäuser als zuvor, während doch die Menschen hätten besser werden sollen? Also stimmt entweder die marxistische Theorie nicht oder es ist das, was in der DDR geschehen ist, nicht das, was Marx gemeint hatte.

daß der Humanismus nicht nur eine Frage der Gesellschaftsordnung ist und man überhaupt gut daran täte, das ganze Problem nüchterner, realistischer, relativistischer zu sehen und den Kommunismus seines Religionscharakters zu entkleiden, ihn zu entmythologisieren.

Nun gibt es im echten Marxismus gewiß nicht nur dieses humanisti sche, „menschliche“ Element. Aber — und das ist wohl das Entscheidende — diese Ost-Berliner Studenten fühlen sich offensichtlich durch das Humanistische im Marxismus angesprochen und aufgerufen, gegen alles Unmenschliche zu protestieren, das im Namen des Marxismus verkündet oder praktiziert wird.

Wer freilich diese Fragen der Ost-Berliner Studenten aufmerksam liest, der spürt, daß diese an Marx geschulten jungen Menschen auch Fragen an den Westen zu richten hätten, recht unangenehme Fragen vielleicht; stellt sich doch das Problem des Humanismus, des Guten und Bösen in Mensch und Gesellschaft gewiß auch bei uns. Wüßten wir Antworten, solche Fragen nach der Zukunft und der Moral einer auf dem Privateigentum aufgebauten Produktionsordnung zu befriedigen? Kümmert sich unsere akademische Jugend mit derselben Intensität um die Zukunft unserer Gesellschaftsordnung? Bewegt sich unsere Auseinandersetzung mit dem Kommunismus auf dem Niveau der Ost- Berliner Studenten? Wäre es nicht gegeben, den über die Mauer geworfenen Ball aufzufangen und zu weiterem dialektischem Spiel zurückzuwerfen, in welcher Form auch immer? Und dabei nach Antworten zu suchen, die uns gemeinsam weiterbringen? Es waren immerhin 1250 eingeschriebene Hörer

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