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Auf jeden Fall - die Ungleichheit

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Der „Epoche des, zufriedenen jungen Herrn“ (Ortega y Gassef) folgte zwanzig Jahre nach Beendigung des Krieges die Epoche des radikal unzufriedenen jungen Herrn. Die Väter der heutigen Revolutionäre sind in der Mehrzahl nicht autoritär, sondern liberal; sie waren darauf aus, erträgliche Lebensverhältnisse zu schaffen; jedem nach Möglichkeit das Seine zukommen zu lassen. Sie erwarteten keine Wunder. Sie wollten Wohlstand und Frieden für den Rest ihres Lebens. Sie hatten genug von hehren Prinzipien, Opfern und Entbehrungen für irgendwelche Verheißungen/ Sie waren bereit, zu arbeiten — aber nicht bereit, zu kämpfen.

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Der „Epoche des, zufriedenen jungen Herrn“ (Ortega y Gassef) folgte zwanzig Jahre nach Beendigung des Krieges die Epoche des radikal unzufriedenen jungen Herrn. Die Väter der heutigen Revolutionäre sind in der Mehrzahl nicht autoritär, sondern liberal; sie waren darauf aus, erträgliche Lebensverhältnisse zu schaffen; jedem nach Möglichkeit das Seine zukommen zu lassen. Sie erwarteten keine Wunder. Sie wollten Wohlstand und Frieden für den Rest ihres Lebens. Sie hatten genug von hehren Prinzipien, Opfern und Entbehrungen für irgendwelche Verheißungen/ Sie waren bereit, zu arbeiten — aber nicht bereit, zu kämpfen.

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Diese Väter sind den Söhnen zu schlapp und indifferent; die heimliche Sehnsucht nach Ideal und Vorbild, großen Zielen, Gesten und Taten können sie nicht befriedigen. Das ist das eine Motiv. Das andere der Aufstand gegen die Leistungsgesellschaft. Die Söhne wollen die Zivilisationsgüter erben oder geschenkt erhalten — nicht aber dafür arbeiten. Die linke Vision ist auch die Vision einer Gesellschaft, in der man alles haben kann, ohne dafür etwas bieten zu müssen.

Die Welt der jugendlichen Neolinken ist die alte romantische Welt des Knabenalters: Sie wollen spielen oder spektakuläre Taten tun, nicht aber acht Stunden täglich an einer Maschine stehen, an einem Schreibtisch sitzen, irgend eine banale und mühselige Kleinarbeit verrichten.

Es sind nicht die Atombomben und nicht Vietnam und nicht der Kapitalismus, denen die Revolte der Jugend wirklich zugrunde liegt. Völkermord und Elend hat es immer gegeben. Die Geschichte der westlichen Völker ist voll davon. Die Jugend ist der Wohlstandsgesellschaft überdrüssig. Der Aufstand gegen die Väter macht den Weg frei für den Über-Vater, der Anforderungen stellt, Opfer verlangt, zum Kampf ruft. Die goldenen zwanziger Jahre erzeugten in Deutschland bei einem großen Teil der Jugend Überdruß an Liberalität, Frieden und der verwirrenden Fülle des zivilisatorischen und kulturellen Angebots. Sie wünschte sich Disziplin, Ordnung, Befehle, Männergemeinschaft, Verschwörung. Das war es, was Hitler versprach — und nicht nur versprach. Man wird, ohne böswillig zu sein, vermuten dürfen, daß viele der heute Zwanzigjährigen, die sich für rote Kaderarbeit begeistern, zumindest am Anfang der dreißiger Jahre begeisterte SA-Männer und HJ-Leute gewesen wären.

Nun ist die neue Linke aber keineswegs eine auf Angehörige der jüngeren Generation beschränkte

Gruppe. Ihre politische Brisanz und Brillanz kann sie nur entfalten, weil es einen in jeder Altergruppe anzutreffenden Menschentyp gibt, der vorbestimmt ist, idealistische, utopische und rigoristische Ideen zu artikulieren und in Umlauf zu bringen, den Intellektuellen; und weil in jedem von uns ein solcher Intellektueller steckt.

Die Situation der Intellektuellen (hier gemeint im engeren Sinne: der Journalisten, Literaten, Philosophen) entspricht in einem wesentlichen Punkt der Situation des heutigen jungen Menschen: auch er urteilt, kritisiert und projektiert bar jeden Zwanges, seine Ideen in die Tat umzusetzen und ihre Konsequenzen verantworten zu müssen. Auch er kann sich an Visionen, Denkmodelle und Planspiele halten.

Die Faszination, der die Linke heute unterliegt und die sie selbst ausstrahlt, entspringt einer Quelle, die sowohl für das Jugendalter als auch für einen vorherrschenden Typ des Intellektuellen kennzeichnend ist: Dem ästhetischen Erleben der Welt. Die Revolution würde zumindest in unserer Hemisphäre als Schlüsselbegrifl nicht die Rolle spielen, die sie spielt, wenn ihrer Verehrung nicht die Begeisterung für das Extraordinäre, Dramatische, Spektakuläre zu Grunde läge. Die Liebe zum revolutionären Umsturz hat keineswegs nur bei den anarchistischen Revolutionären ästhetische Motive.

Insbesondere die studentischen Aktionen der sechziger Jahre zeigten, daß am Radikalismus der Linken ein gut Teil pure Lust an der Sensation, an knalligen Effekten, theatralischen Auftritten ist. Und auch auf den oberen Rängen des revolutionären Aktivismus ist mehr Snobappeal am Werk als die betonte Nüchternheit vortäuschen will: schon der manieri-stische Jargon unserer revolutionären Intelligenz ist verräterisch.

Sie spreizt sich und setzt sich nicht weniger in Szene als die konservativreaktionäre Schickeria, die gerne gut ißt, Sinn für Dekor und Pathos hat und die Demokratie für das Ende aller höheren Genüsse hält. Die Freuden der linken Ästheten sind im allgemeinen weniger kostspielig und eher spiritueller als sinnlicher Art. Ihr Luxus ist die zelebrierte Askese oder Schlampigkeit, sie demonstrieren Potenz durch gewaltige und gewalttätige, den Bürger recht schrek-kende Ideen, sie genießen Theorien und subtile Gedankengänge wie die Konservativen schwere Diners und gotische Madonnen. Mangels ausreichender finanzieller Möglichkeiten und mangels Teilhabe an der Macht muß bei den linken Intellektuellen die Lust an radikalen Formulierungen und universalen Versprechungen und die Genugtuung, dazuzugehören, viele andere Genüsse ersetzen. Aber ob man sich eine ständische Gesellschaft zurückwünscht, weil da alles zwischen ganz Arm und ganz Reich, ganz Machtlos und ganz Mächtig so schön gegliedert ist, oder ob man die permanente Revolution anstrebt, weil da immer etwas los ist: Bomben explodieren, Feuer lodern, Helden siegen oder untergehen — bleibt sich völlig gleich.

In beiden Fällen haben wir es mit Programmen zu tun, die politische Zustände oder Vorgänge nicht an ihrem humanen, sondern theatralisch-ästhetischen Effekt messen.

Da Konservative im allgemeinen nicht die Revolution verherrlichen können, feiern sie den Krieg als Vater aller Dinge oder den Kampf ums Dasein zwischen den Starken und Gesunden und den Kranken und Schwachen. „Wenn ein Staat zusammenbricht, verlieren Männer ihren Wert — auch diesen Zustand kann man Freiheit nennen“, schreibt Arnold Gehlen („Moral und Hyper-moral“, S. 110). „Der Krieg schafft — und sei es nur durch die Frage des Kommandos und der Verantwortlichkeit — neue Strukturen, die die Institutionen des Friedens sein werden. So entsteht also der Mensch bis hin zu neuen Traditionen, den zukünftigen Töchtern einer Gegenwart des Schreckens; so wird er legitimiert durch ein Recht, das täglich im Feuer des Kampfes entsteht“, prophezeit Jean-Paul Sartre in seinem Vorwort zu Fanons „Die Verdammten dieser Erde“.

Was Gehlen mit Sartre, Sorel mit Fanon verbindet, ist das Mißverständnis, die moralische Qualität eines politischen Programms lasse sich an den heroischen Stimmungen messen, die es beim Entwerfen oder

Betrachten auslöst. Verächtlich, da sie für linke oder rechte Inszenierungen des Welttheaters nichts hergeben, sind die Tugenden des Bürgers: Familiensinn, Streben nach Sicherheit und Ausgleich, nach vernünftigen und friedlichen Lösungen, „... aber alles, was Größe hat: Staat, Religion, Künste, Wissenschaften wurden außerhalb ihres Bereiches hochgezogen, und selbst die Wirtschaft nahm erst große Dimensionen an, als sie sich aus ihrem Verband gelöst hatte“ (Gehlen „Moral und Hypermoral“, S. 93). Das, was die Rechte von der Linken unterscheidet, ist tatschlich nur ein einziger Aspekt: die Vorstellung hier von der zu erhaltenden, weil naturgegebenen, dort von der zu beseitigenden, weil nur durch die Verhältnisse bedingten Ungleichheit der Menschen. Mit dem Zeitalter der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution beginnt im allgemeinen Bewußtsein die eine Vorstellung die andere abzulösen. In diesem Ubergangsfeld entsteht der Faschismus. Er ist — wie inzwischen oft festgestellt — nicht eine rechte Bewegung, sondern eine Bewegung, in der sich rechte und linke Elemente mischen.

Konservativ-institutionalistisches Denken verbindet sich mit progressiv-ideologischen Thesen, völkischständische und rassische Vorstellungen mit jakobinisch-republikanischen Postulaten: „Brechung der Zinsknechtschaft, „ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Der nationalsozialistische Volksgenosse wie der Sowjetbürger stehen unmittelbar dem allein und absolut herrschenden Führungskollektiv der Staatspartei gegenüber.

Wir befinden uns offensichtlich am Schluß dieser Übergangsphase, das heißt alle auf dem Postulat der vorgegebenen Ungleichheit beruhenden Gesellschaftsbilder laufen aus. Die Vorstellung von der natürlichen und daher endlich zu verwirklichenden Gleichheit ist eine Menschheitsidee geworden, gegen die keine völkischen, rassischen und ständischen Vorstellungen mehr durchzusetzen sind. Wir stehen mitten im Aufbruch eines Zeitalters eindeutig linker Fanatismen, linker Terrorismen, linker Diktaturen (einschließlich linker Militärdiktaturen). Die neuen Nationalismen — in den Entwicklungsländern, den Ländern im Einflußbereich der UdSSR und Chinas — sind linke Nationalismen. Gegenüber dieser weltweiten Bewegung einer radikalen, die Macht im Namen der Gleichheit und Brüderlichkeit anstrebenden Linken sind alle Noch- oder Neu-Konservativismen und -Faschismen Sekten abseits der Geschichte.

Natürlich wird es als Reaktion auf linksradikale Aktivitäten immer wieder konservative Gruppierungen geben, aber die schon heute entscheidende Polarisierung findet zwischen „Demokraten“ statt: jenen, die das Reich der Freiheit nur nach einer Schreckensherrschaft anbrechen sehen und jenen anderen, die Freiheit auch nicht für eine begrenzte Zeit außer Kraft gesetzt sehen möchten.

Aber mit der Freiheit aller geht die Rechnung tatsächlich nicht auf.

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