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Protest und Provokation

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Stoßen diese Studenten Europas ein dunkles Tor auf in eine unbekannte Zukunft? Wohin führt dieser Toreingang? Wer drängit nach hinter diesen verlorenen Haufen unserer Überzivilisation? Worin liegt der Unterschied zwischen Demonstrationen, Gewaltanwendung, Teach ins, Si-ins, Happenings in West und Ost, in Peking, San Franzisko, Warschau, Paris, Belgrad und West- Berlin?

Noch niemals war die Generation der Erwachsenen mit dem stets lauten Aufbegehren der jungen Generation einverstanden. In unserer Gegenwart haben wir durch den Aufbruch der Berufsrevolutionäre neuer Art zur Genüge erfahren, daß es neben dem „Apparat“ im kommunistischen Eurasien das „Establishment“ im Westen (Errichtung, Einrichtung, Festsetzung, Institut, Geschäft, Firma, das Personal, die Sollstärke) gibt. Einhellig dürfte die Jugend in West und Ost überzeugt sein, daß sie mit den vorhandenen Einrichtungen im beginnenden dritten Jahrtausend nicht mehr ihr Auslangen finden wird: Modernste Technik und Steinzeiitrelikte machen den Menschen der Gegenwart noch lange nicht zum wirklichen Herrn der Gestaltungskräfte. Hinzu kommt: Diese Jugend hat überwiegend aus dem Sieg oder aus der Fülle irgendeines Wirtschaftswunders gelebt; sie weiß nur, was gut, notwendig, angenehm und gewinnbringend wäre. Den mühsamen Weg bis zu den Errungenschaften hat man dieser Jugend überwiegend niemals erklärt, oder gar in der Praxis beigebracht. Denn auch die sowjetische Hetzpeitsche mit dem Soll — „damit es Euren Kindern und Enkeln besser gehe!" — war und ist im Grunde ebenso ernst gemeint, wie die elterliche Nestwärme im Westen, die das „arme, kleine Piperl“ bis in die dreißiger Jahre umhegt, füttert, gegen alle rauhen Winde des Alltags abschirmt usw.

Die neue „Internationale“ der studentischen Revolutionäre hat seit den Kinderkreuzzügen des 13. Jahrhunderts bis zur „Revolution der Zwölf- bis Vierzehnjährigen“ im Budapester Oktoberaufstand 1956 ihre Vorbilder. Wie läßt sich diese heutige Bewegung deuten, die gegen die Grundfesten der gesellschaftlichen Ordnung in West und Ost Sturm laufen möchte? Sollte man die Aufmärsche und die neuen Bastillestürme „net amai ignorieren“, wie der Wiener sagt? Sollte man (wie in Warschau oder zunächst in Belgrad) gnadenlos und ohne Rücksicht gegen die Aktivisten durchgreifen? Soll man auch mit Mittelschülern über Mitsprache debattieren, die bis zur Lehrerkonferenz und bis zur Notengebung und dergleichen reicht? Die Internationalisierung dieses stu- dentiisch-revoltiemäßigen Platzregens wird durch den amerikanischen Staatsbürger Rudi Dutschke aus der DDR in Preußisch-Berlin ebenso symbolisiert, wie durch Daniel Cohn- Bendit, den bundesdeutschen Stipendiaten im revolutionär ausgeglühten Paris. In Wien selbst sind es westdeutsche Kommilitonen, oder Kurse im fernen Ausland, die den österreichischen Anlernlingen die neueste Barrikadentechnik und Straßenkampfmethoden beibringen möchten.

Was will man mehr? Natürlich ist die Arbeiterschaft Frankreichs oder Deutschlands nicht einfach solidarisch mit Heißspornen, deren Bekenntnis im Zusammenstoppeln radikalster Thesen aller Zeitströmungen seit 1789 besteht. Bevor diese Jugend semesterweise ganze Hochschulen außer Betrieb setzte und die Gesellschaft schockierte, hatte sich der intellektuelle Nachwuchs allerdings selbst ideologisch geschockt. Es gibt auch nicht wenige unter den verständnisvollen Erwachsenen, die eine Bereinigung, eine Verlebendigung eine bessere Kontrollierbarkeit des Establishment wünschen und im Innersten gegen diese reglementswidrige „Schockwirkung“ der Studenten nichts einzuwenden haben. Auch für sie entsteht jedoch schon rein medizinisch die Frage: Wie oft und wie lange kann man eine Schockbehandlung ansetzen, die dann auch noch die gewünschten Ergebnisse, nämlich Besserung zur Folge haben soll? Die Neurologie und Psychiatrie geben auf diese Frage ziemlich genau Auskunft.

Massenhysterie? Eine sehr trok- kene, 1965 in Moskau erschienene Broschüre, die Fragen des künftigen Wirtschaftsaufbaues in der Sowjetunion behandelt, wendet sich gleich auf der ersten Seite gegen die extreme Jugend- und Studentenbewegung im heutigen England und schreibt: „Indem die Trotzkisten die politische Unerfahrenheit der Jungarbeiter ausnützen, versuchen sie deren Bewußtsein mit dem Gift des Opportunismus zu vergiften. Diese Beispiele müssen auch für den Neo- trotzkismuä griffbereit seih. So werben, laut einer Erklärung des Journals „Marxism Today“, Nr. 3, 1965, die Trotzkisten für ihre Gruppen Jugendliche im Alter von 15 bis 16 Jahren an, wobei sie auf ihren revolutionären Enthusiasmus und die Unkenntnis der Geschichte des Kampfes von W. J. Lenin, unserer Partei gegen den Trotzkismus in den zwanziger Jahren spekulieren. Indem die Trotzkisten die Jugend mit Versprechen verführen, wonach sich die Revolution in England jetzt vollenden werde, mißbrauchen sie einen gewissen unerfahrenen Teil der Jugend für ihre enge sektiererischen, spialtierischen Ziele im Kampf gegen die Avantgarde der Arbeiterklasse — die Bruderpartei …“

Es geht also im Grunde um eine ideologische Kraftprobe zwischen Moskau und Peking. Im Mai 1968 warnte ein Moskauer Aufruf Sibi-

riens Hochschuljugend vor maoistischen Abenteuern. Die Jugend soll lieber studieren, sie gehöre sowieso zu einer privilegierten Gruppe, bilde die künftige Führungsauslese. Während Warschau widersetzliche Studenten relegierte, Belgrads Polizei anfangs durchgriff, geschieht an den Universitäten der Sowjetunion gegenwärtig nichts — es sei denn, daß man vervielfältigte jugoslawische und tschechoslowakische Zeitschriften und Studentenaufrufe, die von Hand zu Hand gehen, als „nichts“ bezeichnet.

Jugend Osteuropas — gibt es die denn überhaupt? Schon in der Sowjetunion klaffen die Unterschiede zwischen einem jungen Großrussen, der die imperiale Aufgabe seines Sowjetreiches ganz anders empfindet als zum Beispiel ein Armenier, ein Lette, ein Tad- schike desselben Überstaates. Zu schweigen von den Spannungsunterschieden zwischen der sowjetischen Jugend und der jungen Generation in den Volksdemokratien Europas! Und was soll man nun gar zu der chinesischen Jugend und ihrer „Kulturrevolution“ sagen? Was denken und wollen die jungen Tschechen, Slowaken, Magyaren, Polen, Serben, Rumänen, Bulgaren? Diese Jugend will sich selbst. Die aufgepfropften ideologischen Triebe werden zum Teil abgeworfen; man weiß wieder, was nationale Geschichte ist. Der große Fehler des Kreml nach 1945 bestand in dem Versuch, dem damaligen Geschlecht Ostmitteleuropas das nationale Selbstbewußtsein, die Autonomie des eigenen Staates, der eigenen Kultur abzustreiten.

Massenbewegung? Massenhyste- rie? Man wird zugeben, daß sich die Studenten in Warschau, Prag oder Belgrad „ähnlich“ verhalten wie ihre Altersgenossen im Westen. Und trotzdem stehen sie „anders“ vor ihren Lebensfragen. Eines aber ist gewiß: Der Student ist zum neuen Typ des Revolutionärs geworden. Der Student hat keinen Posten zu verlieren, niemand fragt ihn nach seinem Stipendium oder seiner Werkarbeit. Studenten bilden also wahrhaftig eine mobile Gruppe, die heute den Apolitismus der vergangenen 20 Jahre in Ost und West konzentriert aufholt. Sie fürchten alle zu spät zu kommen, sie stellen sich gegen zu viel Zwang oder gegen zuviel Freizügigkeit Während im Osten der Protest der jugendlichen Elite ein reales Risiko einkalkulieren muß, haben ihre westlichen Kommilitonen manchmal Mühe, die Ordnungshüter so zu provozieren, daß sie Gewalt anwenden und die gewünschte Publicity entsteht. Studenten und Jungarbeiter werden im Osten so pausenlos und ohne Maß indoktriniert, daß der Versammlungsschlaf wirklich den einstigen Kirchenschlaf ersetzt; sie wehren sich auf jede Art gegen diese Überdosis an ideologischer Selbstgefälligkeit, Selbstlob, Heuchelei. Im Westen aber verzeichnen wir die Rache der Schlüsselkinder an den Erwachsenen. Die Eltern haben diese Kinder mit Wohnungsschlüsseln, hohen Taschengeldern, Autos, Reisen und so weiter überschüttet — aber keine Nestwärme, keine geistige und seelische Nahrung gegeben. Die Kinder wuchsen auf „wie die Lilien auf dem Felde“. Die Eltern selbst vermieden nicht bloß jedes politische oder geistige Risiko, die Erwachsenen waren und sind bestrebt, dem Nachwuchs jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen und wundern sich jetzt, dafl diese Jungen selbst die Barrikaden errichten. Sie haben doch alles! Was fehlt ihnen denn?

Im zivilisatorischen Westen besteht der Konformismus der Jugend häufig im Nonkonformismus schlechthin. Die Demokratie muß demokratisiert werden, die Freiheit befreit! Die Jugend Osteuropas dagegen ist sich bewußt, daß ohne einen grundsätzlichen Konformismus gegenüber dem System keine Diskussion, keine Forderung, keine Reform möglich ist. Während also im Westen Trotzkisten, Anarchisten, Nihilisten, Utopisten aller Art mit jeder einzelnen Formulierung das eigene Establishment „wie mit Dynamit“ in die Luft jagen möchten, klingen die Formulierungen der studentischen Revolutionäre am „Westrand“ Osteuropas sehr viel vorsichtiger.

Protest, Provokation — beides eine Negation, der noch das Programm, die Position fehlt. Die Individualität bäumt sich gegen den Apparat, gegen Autorität, weist das Illusionäre jeder politischen Macht und zeigt, was man „den Mut zur Utopie" heißt. Damit kann es aber nicht getan sein. Unleugbar sind Opferbereitschaft und der Protest im Osten zukunftsträchtig. Der Westen aber wird noch zu beweisen haben, daß seine Jugend mehr kann, als bloß „die Wissenschaft des Zerstörens“ (Engels).

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