6838969-1975_32_03.jpg
Digital In Arbeit

„In Helsinki das Begräbnis Osteuropas“

19451960198020002020

„Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ Wer von Ihnen, wer von uns, hat diese Losung nicht schon gehört. Noch heute können Sie sie auf jeder beliebigen sowjetischen Broschüre und auf jeder Nummer der Zeitung „Prawda“ finden. Aber niemals haben die Führer der kommunistischen Revolution in der Sowjetunion diese Worte ehrlich angewendet... Im Unterschied zu allen Ländern des Westens erhält unsere Arbeiterklasse nur das, was man ihr gewährt. Sie empfängt nur Almosen. Sie kann nicht einmal die einfachsten Interessen des Alltagslebens verteidigen, und der kleinste Streik wird als Konterrevolution betrachtet.

19451960198020002020

„Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ Wer von Ihnen, wer von uns, hat diese Losung nicht schon gehört. Noch heute können Sie sie auf jeder beliebigen sowjetischen Broschüre und auf jeder Nummer der Zeitung „Prawda“ finden. Aber niemals haben die Führer der kommunistischen Revolution in der Sowjetunion diese Worte ehrlich angewendet... Im Unterschied zu allen Ländern des Westens erhält unsere Arbeiterklasse nur das, was man ihr gewährt. Sie empfängt nur Almosen. Sie kann nicht einmal die einfachsten Interessen des Alltagslebens verteidigen, und der kleinste Streik wird als Konterrevolution betrachtet.

Werbung
Werbung
Werbung

Dein hier Anwesenden brauche ich nicht zu erläutern, daß es in unserem Lande nach der Revolution niemals freie Gewerkschaften gegeben hat und sie auch heute nicht gibt. Es bleibt den Führern der britischen Tilade Unions überlassen, das unwürdige Spiel zu spielen, diese Pseudo-Gewerkschaften zu besuchen und sich in Saunas auf die Gegenbesuche einzustimmen. Aber AFL/ CIO, die „Amerikanische Föderation der Gewerkschaften/Kongreß der Industriegewerkschaften“ hat sich niemals diesen Illusionen hingegeben. Niemals hat die amerikanische Arbeiterbewegung sich blenden lassen und Sklaverei für Freiheit hingenommen. Und dafür danke ich Ihnen heute im Namen aller unserer Unterdrückten!

' Aber ebenso wie wir uns mit Ihnen als Verbündete empfinden, besteht auch ein anderes Bündnis. Auf den ersten Blick ein befremdliches, überraschendes, aber, wenn man es überlegt, ein ebenso sehr begründetes und verständliches Bündnis. Es ist die Allianz unserer kommunistischen „Führer“ und Ihrer Kapitalisten. Diese Allianz ist nicht neu: Über fünfzig Jahre hinweg beobachten wir, wie die Geschäftswelt des Westens die sowjetisch-kommunistischen Führer und ihre unfähige Wirtschaft unaufhörlich mit Gütern und Technologie unterstützt.

Wenn heute die Sowjetunion mächtige Armee- und Polizeikräfte besitzt, in einem Lande, das nach zeitgenössischem Standard bettelarm ist, und wenn sie diese Kräfte zur Unterdrückung unserer Freiheitsbewegung in der Sowjetunion einsetzt, dann müssen wir ebenfalls danken, aber diesmal müssen wir dem westlichen Kapital danken...

Das ist es, was menschlichem Verstand fast unverständlich bleiben muß: Diese brennende Profitgier, die keine Vernunftgrenzen mehr kennt, keine Grenzen der Selbstbeherrschung, bar jeglichen Gewissens, die nur Geld raffen will...

Ich möchte Sie daran erinnern, mit welchem System es der Westen zu tun hat: Es ist ein System, das mittels eines bewaffneten Aufstandes an die Macht kam; das die verfassunggebende Versammlung auseinandertrieb. Es ist ein System, das ohne jedes gerichtliche Verfahren mit den Gegnern abrechnete; das die Streiks der Arbeiter unterdrückte; das das Dorf so unerträglich ausplünderte, daß es die Bauern zu Aufständen trieb, die es dann blutig unterdrückte. Es ist ein System, das die Kirche vernichtete; das zwanzig Gouvernements des Landes in den Hunger trieb...

Es ist das System, das als erstes in der Welt Konzentrationslager eingeführt hat. Es ist das System, das im zwanzigsten Jahnhundert als erstes das Verfahren der Geiselnahme eingeführt hat.

Ein System, das als erstes, vor Hitler, die Aufforderungen zur angeblichen Registrierung eingeführt hat. Das heißt, daß sich diese und jene zur Registrierung zu melden hatten Und wenn sie zur Registrierung kamen, dann führte man sie zur Liquidierung. Bei uns gab es damals, rein von der Technik her, noch nicht die Gaskammern. Bei uns wurden Kähne benutzt; in diese Kähne wurden die Menschen zu Hunderten, zu Tausenden hineingepfercht, dann versenkte man die Kähne.

Es ist das System, das den Genozid der Bauernschaft eingeführt hat: Fünfzehn Millionen Bauern wurden zur Liquidierung verschleppt. Es ist das System, das die Leibeigenschaft wieder eingeführt hat, durch das sogenannte „Paß-Regime“. Es ist das System, das in Friedenszeit in der Ukraine eine künstliche Hungersnot hervorgerufen hat. Sechs Millionen Menschen starben an Hunger in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933 am Rande Europas! Sie starben in Europa, und Europa hat es nicht bemerkt.

In den letzten dreißig Jahren wurde dem Totalitarismus mehr preisgegeben, als irgendein Land in der Geschichte nach einer Niederlage aufgeben mußte. Wir, im Osten, konnten das lange nicht verstehen. Schon breitet sich die Denkweise aus: wie kann man nur am schnellsten nachgeben. Nur damit eine gleich wie geartete Befriedung einkehre.

Eine Ihrer führenden Zeitungen erschien nach dem Ende in Vietnam sogar mit der Balkenüberschrift: „Gesegnete Stille“... Ich kann, wenn ich aus der Ferne auf diese furchtbare vietnamesische Tragödie sehe, nur sagen: Eine Million Menschen wird einfach liquidiert. Und vier bis fünf Millionen werden in Konzentrationslager kommen. Und was in Kambodscha vor sich geht, wissen Sie ja — Völkermord.

Im Westen schlägt im Moment alles in eine Anklage gegen die Vereinigten Staaten um. Jetzt hört man im Westen viele Stimmen, die sagen: „Amerika, das ist deine Schuld!“ Ich muß heute hier Amerika ganz entschieden verteidigen. Ich muß sagen, daß die Vereinigten Staaten von Amerika von allen Ländem des Westens am wenigsten Schuld daran haben. Amerika hall Europa, den Ersten und Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Amerika half Europa, aus zwei Nachikriegszer-störungen wieder aufzuerstehen. Fünfundzwanzig Jahre hintereinander stand es als Schirm da, der Europa verteidigte, während gleichzeitig die europäischen Länder ihre Groschen zählten und überlegten: Wie können wir uns um die Bezahlung unserer Armee drücken? Aber dies nimmt nicht die Schwere der Verantwortung von den Schultern Amerikas. Der Gang der Geschichte, ob Sie es wollen oder nicht, hat Sie zur führenden Weltmacht gemacht. Ihr Land darf nicht mehr provinziell denken, Ihre politischen Führer dürfen nicht mehr nur an ihren Staat denken, an ihre Partei.

Die Sowjetunion nutzte schon bisher die Entspannung für ihre Interessen aus, nutzt sie weiterhin aus und wird sie auch in Zukunft ausnutzen! Die Sowjets haben gemeinsam mit China eifrig an der Entspannung mitgewirkt und dabei so nebenbei drei Länder Indochinas kassiert. Nun kann man allerdings erwarten, daß zum Trost China eine Pingpong-Truppe hierher schicken wird. Die Sowjetunion hat schon Flieger geschickt, die früher einmal den Nordpol überflogen haben.

Dies ist ein typisches. Schauspiel. Ich erinnere mich noch sehr genau an das Jahr 1937, als Tschakalow, Baidukow und Beljakow heldenmütig den Nordpol überflogen und im Staat Washington landeten. Dies war genau in jenem Jahr, als Stalin mehr als 40.000 Menschen monatlich erschießen ließ! Und Stalin wußte, was er tat. Er schickte Flieger und rief bei Ihnen jenen leichtgläubigen Jubel hervor.

Und ferner sagt man: „Wir können nicht ignorieren, daß Nordvietnam und die Roten Khmer das Abkommen gebrochen haben. Aber wir sind bereit, in die Zukunft zu blicken!“ Was heißt das? Es heißt: Laßt sie die Menschen liquidieren, aber wenn diese Gewalttätigen, diese Räuber, diese Henker uns die Entspannung vorschlagen, werden wir mit Vergnügen die Entspannung mit ihnen eingehen. Das ist genau das, was Willy Brandt einmal gesagt hat: „Ich wäre sogar mit Stalin auf Entspannungskurs gegangen“. Das heißt, zur selben Zeit, als Stalin 40.000 Menschen im Monat liquidierte, wäre Brandt gerne mit ihm auf Entspannungskurs gegangen...

Da sagt man, die sowjetischen Führer hätten sich von ihrer menschenfeindlichen Ideologie losgesagt. Nein, in keiner Weise haben sie sich losgesagt. Da sagt 'man, im Kreml gebe es „Linke“ und „Rechte“, und dort gehe ein Kampf vor sich, und wir müßten uns so verhalten, daß wir nicht den „Linken“ schaden. Alles Phantasien. Gewiß, es gibt dort einen gewissen Kampf um die Macht, aber im wesentlichen sind sie sich alle einig. Alle werden so handeln, wie die Partei ihnen befiehlt. Das ist unser System.

In ihm wird jeder Gedanke unterdrückt, der nicht dem Willen des Staates entspricht.

Das ist ein System, in dem entlarvte Henker von Millionen Menschen, wie zum Beispiel Molotow und andere kleinere, niemals vor Gericht gestellt wurden und jetzt mit hohen Pensionen in höchstem Komfort leben ... Das ist ein System, in dem nicht einmal die eigene Verfassung auch nur einen Tag eingehalten wurde.

Und was sind die Unterschriften dieser Menschen wert? Wie kann man sich auf deren Unterschriften auf Dokumenten der Entspannung verlassen?...

Was folgt aus dem allen? Ist Entspannung notwendig oder nicht? Sie ist notwendig wie die Luft zum Atmen! Das ist die einzige Rettung für den Erdball, daß an Stelle eines Weltkrieges die Entspannung kommt. Aber es muß eine echte Entspannung sein...

Meiner Meinung nach genügen schon drei Hauptmerkmale: Das erste Merkmal wäre: Es muß abgerüstet werden, nicht nur in bezug auf den Krieg, sondern in bezug auf jegliche Gewaltanwendung; es darf kein Apparat zur Kriegführung mehr zurückbleiben, aber auch nicht zur Gewaltanwendung. Nicht nur jene Waffen müssen beseitigt werden, mit denen Nachbarn vernichtet werden, sondern auch jene Waffen, mit dengn die eigenen Landsleute unterdrückt werden ... Das ist keine Entspannung, wenn wir heute hier mit Ihnen die Zeit angenehm verbringen können, während in den psychiatrischen Kliniken gerade die abendliche Visite ist und zum dritten Mal am Tage Injektionen verabreicht werden, die das Gehirn und schließlich den ganzen Menschen zerstören.

Als zweites Merkmal der Entspannung möchte ich folgendes nennen: Sie darf nicht auf Lächeln gegründet sein. Feste Garantien müssen gegeben sein, daß die Entspannung nicht eines Nachts oder eines Morgens abgebrochen wird... Aber dafür ist notwendig, daß es eine Kontrolle über die andere Seite gibt, die in den Entspannungsprozeß einbezogen ist. Eine Kontrolle durch die öffentlichkeit, durch ein freies Parlament. Solange es eine solche Kontrolle nicht gibt, gibt es auch keine Garantie...

Und die dritte einfache Bedingung ist: Was soll das für eine Entspannung sein, wenn die menschenfeindliche Propaganda weiterbetrieben wird, das, was man in der Sowjetunion stolz den „ideologischen Krieg nennt? Nein: wenn Entspannung, dann wirkliche Entspannung, Der ideologische Krieg muß beendet werden.

Die Sowjetunion und die kommunistischen Staaten verstehen es, Verhandlungen zu führen. Sie wissen, wie man so etwas macht: Lange nichts preisgegeben, aber dann am Schluß ein ganz klein wenig Konzessionen machen. Und schon erhebt sich Jubel: Sie geben nach!

Nehmen wir die europäische Sicherheitskonferenz der 35 Länder. Zwei Jahre lang führte man qualvolle Verhandlungen, strapazierte man die Nerven und machte dann Konzessionen: Einige Frauen aus den kommunistischen Ländern dürfen jetzt Ausländer heiraten, und einigen Journalisten wird es jetzt erlaubt sein, irgendwo ein wenig herumzureisen. Sie konzedieren ein Tausendstel des natürlichen Rechts, das überhaupt von Anfang an hätte außerhalb jeglicher Verhandlung stehen müssen — und schon herrscht große Freude im Westen.

In diesen zwei Jahren, während die Verhandlungen geführt wurden, verstärkte sich in allen Ländern Osteuropas der Druck. Und just in diesem Augenblick sagt der österreichische Bundeskanzler: „Wir müssen uns beeilen, es ist Zeit, jetzt diese Vereinbarung zu unterschrieben.“

Die Vereinbarung in Helsinki bedeutet das Begräbnis Osteuropas. Sie bedeutet: Westeuropa wird endgültig unterschreiben, daß es völlig damit einverstanden ist, daß Osteuropa auch in Zukunft unterdrückt werde. Und Österreichs Bundeskanzler glaubt, wenn das Massengrab über Osteuropa zugeschüttet wird, dann werde an seinem Rande Österreich unversehrt weiter bestehen.

Wir haben aus unserem ganzen Leben dort im Osten die Lehre gezogen, daß es nur eines gibt, was man der Gewalt entgegensetzen kann: Festigkeit! Die kommunisti-. sehen Führer respektieren nur Festigkeit und verachten und verlachen jene, die ihnen die ganze Zeit über nachgeben... Nur Festigkeit macht es möglich, dem Angriff des kommunistischen Totalitarismus zu widerstehen. Es gibt dafür viele historische Beispiele. Wir, die Dissidenten in der UdSSR, wir haben keine Panzer, wir haben keine Waffen, wir haben keine Organisation, wir haben nichts, unsere Hände sind leer. Wir haben nur das Herz und die Kraft, die daraus wächst, daß wir ein halbes Jahrhundert lang in diesem System durchgehalten haben. Und als wir in uns die Festigkeit fanden, zu stehen und standzuhalten, hielten wir auch stand. Und wenn ich heute hier vor

Ihnen stehe, dann nicht durch die Gnade des Kommunismus... nicht dank der Entspannung, sondern nur dank der eigenen Festigkeit und Ihrer festen Unterstützung..

Heute gehen in der Welt zwei wichtige Prozesse vor sich. Der eine Prozeß ist der, von dem ich Ihnen erzählt habe — er dauert schon mehr als dreißig Jahre. Das ist der Prozeß der kurzsichtigen Konzessionen, der Prozeß des Aufgebens, in der, Hoffnung, daß der Wolf schon satt werde, Und der zweite Prozeß, den ich für den entscheidenden halte, ist jener, der unter der gußeisernen Schale des Kommunismus in der Sowjetunion nun schon seit zwanzig Jahren vor sich gel\t, der Prozeß der Befreiung des menschlichen Geistes. Es wachsen neue Generationen heran, die unerschütterlich im Kampf mit dem Bösen sind, die nicht auf prinzipienlose Kompromisse eingehen, die lieber alles verlieren: Lohn, Unterhalt und selbst das Leben, nur um nicht ihr Gewissen opfern, nur um nicht ein Geschäft mit dem Bösen eingehen zu müssen...

Ich rufe Sie heute alle auf: Laßt uns gemeinsam überlegen und gemeinsam uns bemühen, wie wir das Verhältnis zwischen beiden Prozessen in Ordnung bringen können. Wann immer Ihr unseren Verfolgten helft, verteidigt Ihr nicht nur jene, sondern Euch selbst und Eure Zukunft ...

„Innere Angelegenheiten“ gibt es nicht mehr auf unserem eng gewordenen Planeten... Die kommunistischen Führer warnen Sie: Mischt Euch nicht in unsere inneren Angelegenheiten ein, laßt uns unsere Bürger in Ruhe unterdrücken... Ich aber sage Ihnen: Bitte, mischt Euch, soviel Ihr könnt, in unsere inneren Angelegenheiten ein...!

Ich möchte dazu aufrufen, daß Amerika seine Vertrauensseligkeit prüfen möge, und daß es jenen Superklugen, die mit den Errungenschaften einer angablich höheren Gerechtigkeit spielen — sei es aus einem entstellten Weltbild heraus, sei es aus Kurzsichitigkeit oder sei es aus Gewinnsucht —, nicht gelingen möge, Sie mit der lügnerischen Parole des Kampfes für Frieden und für allgemeine Gerechtigkeit zu verführen und auf den falschen Weg zu führen. Sie versuchen nämlich, Ihr herrliches, Ihr kraftvolles Land zu schwächen und abzurüsten angesichts einer solch schrecklichen Macht, wie sie die Weltgeschichte noch nie gekannt hat.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung