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„Nichts mit dem Sozialismus gemeinsam“

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Der in der Schweiz im Exil lebende tschechoslowakische Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftspolitiker Prof. Ota Sik hat an das Präsidium des ZK der tschechoslowakischen KP folgendes Schreiben gerichtet:

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Der in der Schweiz im Exil lebende tschechoslowakische Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftspolitiker Prof. Ota Sik hat an das Präsidium des ZK der tschechoslowakischen KP folgendes Schreiben gerichtet:

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Ihr seid heute — mit Zustimmung der entscheidenden fremden Macht — die politischen Repräsentanten der CSSR Allen Euren politischen Gegnern habt Ihr es unmöglich gemacht, daß sie sich gegen Attacken und falsche Beschuldigungen zur Wehr setzen können,

35 Jahre lang war ich Mitglied der kommunistischen Bewegung; ich bin nun eines der zahlreichen Opfer der gegenwärtigen reaktionären politi-

sehen Entwicklung in unserem Lande geworden. Ich betrachte es als meine Pflicht, noch einmal vor dem Antlitz der ganzen Welt, im Namen aller jener Menschen, welche für ihr progressives und reformistisches Bestreben, in der CSSR heute verfolgt werden, und besonders im Namen des ganzen Volkes, welches in seinem Lande wirtschaftlich und moralisch schwer zu leiden hat und sich nicht mehr frei äußern kann, zu protestieren.

Ihr bezeichnet die reformistische Bewegung, welche von den fortschrittlichsten und ehrlichsten Mitgliedern der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei geführt wurde, als opportunistische und konterrevolutionäre Aufwiegelung. Die Repräsentanten dieser Bewegung, welche so eng mit dem Denken und Fühlen des Volkes verbunden waren, bezichtigt Ihr antisozialistischer Absichten. Der Gipfel der Diffamierung ist jedoch darin zu sehen, daß nun die Schuld an der heutigen schrecklichen Wirtschaftslage in der CSSR den Wirtschaftsreformern in die Schuhe geschoben wird.

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Das sozialistische Grundziel war die allseitige Befreiung der arbeitenden Menschen, ihre Befreiung nicht nur von wirtschaftlichen Entbehrungen und von Ausbeutungen, sondern auch von politischer Unterdrückung und Entfremdung. Es sollten gesellschaftliche Bedingungen geschaffen werden, die eine rasche Entfaltung der Produktionskräfte garantiert hätten und auf deren Grundlage ein kultureller und humaner Aufschwung des ganzen Volkes möglich gewesen wäre. Früher haben die meisten von Euch eingestanden, daß ein solcher Aufschwung mit der alten und heute wieder praktizierten Form der sozialistischen Verhältnisse nicht erreicht werden kann. Es ist evident, daß dies im Rahmen des gegebenen Systems der Leitung, der Impulse und der Organisation der Produktion beim gegebenen Mechanismus der Auswahl und Vorbereitung der leitenden wirtschaftlichen und politischen Kader, bei der Nichtexistenz von Effektivitätskriterien der wirtschaftlichen Tätigkeit, bei der Beseitigung jeder technischen und qualitativen Initiative der ökonomischen Selbständigkeit und unternehmerischen Rolle der Betriebe nicht möglich ist. Ihr habt einst anerkannt, daß sich die Reform

nicht auf eine bloße Verbesserung des zentralen Planungssystems oder allein auf einen Austausch von Staatsfunktionären begrenzen dürfe, sondern daß grundlegende Änderungen des ökonomischen und politischen Systems, unter Beibehaltung seines sozialistischen Charakters, unerläßlich seien.

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Heute gebärdet Ihr Euch, als hättet Ihr niemals diesem Grundgedanken der ökonomischen Reform zugestimmt und als wären umfassende Reformen gar nicht vorbereitet gewesen. Ihr versucht heute, die jahrelang innerhalb der Partei und in der Öffentlichkeit geführte Diskussion, an der Hunderte der besten Köpfe unserer Wissenschaft und Praxis teilnahmen, einfach zu negieren.

Ihr versucht den Eindruck zu erwecken, als würde es genügen, lediglich die Leitung der Betriebe zu verbessern und die Schwierigkeiten zu überwinden. Ihr verschweigt aber, daß man ohne Schaffung eines wirklichen ökonomischen Interesses der Betriebe weder ihre Leitung noch die Arbeitsdisziplin verbessern kann. Die Leitung der Betriebe hängt nicht nur von der Auswahl und den Fähigkeiten der leitenden Personen ab, sondern vor allem von der Beschaffenheit der ökonomischen Bedingungen, unter denen die leitende Tätigkeit sich entfaltet. Ihr übergeht die Tatsache, daß mit der Reform diese Bedingungen geschaffen werden sollten, um damit die bisherige Art und Weise der Leitung, bei welcher nur quantitative, uneffektive und sehr oft formelle Ziele verfolgt wurden, zu überwinden. Wenn Ihr heute wieder glaubt, eine solche Änderung nur mit dem politischen Appell, mit der Mobilisation der politischen Kräfte und starken Worten erreichen zu können, also ohne Änderung der ökonomischen Bedingungen, so kann Euch niemand diesen Glauben abnehmen. Ihr wiederholt immer wieder, daß für die Realisation der ökonomischen Reform nichts Konkretes vorbereitet war. Ihr ruft nach „seriösen“ marxistischen Analysen des tatsächlichen wirtschaftlichen Zustandes und der Ursachen der Mißerfolge. Dem Volke habt ihr aber noch nicht gesagt, was nach Eurer Meinung an der mehr als lOOseitigen Analyse falsch war, welche ein Kollektiv unserer besten Wirtschaftsexperten im Sommer 1968 im Auftrag der Regierung ausarbeitete und weshalb dieses Dokument vor der Öffentlichkeit verheimlicht wird.

Husak spricht ständig von der Bedeutung der marxistischen Theorie, um die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus zu betonen; er ignoriert aber die Notwendigkeit einer dauernden wissenschaftlichen Erforschung der Volkswirtschaft, was ohne Benützung der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht möglich ist. Die Wirtschaftswissenschaft hat Husak nie besonders interessiert; trotzdem kann er sich heute, als erster politischer Repräsentant, nicht erlauben, die ungeheure Anstrengung einer großen Anzahl inländischer und ausländischer Ökonomen zu bagatellisieren. Alle oberflächlichen Argumente gegen die Ausnützung des Marktes im Sozialismus, die von Novotny jahrelang verwendet wurden, wiederholt Ihr jetzt und womöglich in noch primitiverer Weise. Die Funktion des Marktes konnte bei uns noch gar nicht praktiziert werden, und die Wirtschaftsmängel sind ein potenziertes Resultat der jahrzehntelangen administrativen und bürokratischen Leitungsmethoden, durch die der Markt praktisch liquidiert wurde. Die riesigen wirtschaftlichen Verluste, die dadurch entstanden sind, daß die Betriebe jahrelang nicht

im Einklang mit der Nachfrage produziert haben, daß sie nicht durch die Konkurrenz zu Qualitätsverbesserungen, zu Erfindungen, zu technischen Fortschritten, zu flexiblen Strukturänderungen, zur effektivsten Ausnützung der Produktionsfaktoren usw. gezwungen wurden, interessieren Euch allem Anschein nach überhaupt nicht.

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Wo der Markt nicht funktioniert, wo keine ökonomischen Kriterien existieren, kann ein planendes und leitendes Organ die effektivste Produktionsstruktur nicht einmal erkennen, geschweige denn perspektiv sichern. Es ist niederschmetternd, zu beobachten, wie ein jahrelanges intensives Bemühen, die Grundursachen der ständig steigenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten aufzudecken, durch einen brutalen, politischen Eingriff liquidiert worden ist. Und es ist deprimierend, wenn Menschen, welche sehr gut wissen, wie das Novotny-Regime die Entwicklung einer jeden ökonomischen Erkenntnis und besonders die Realisation aller neuen Ideen und Reformvorschläge unterdrückt hat, versuchen, heute die Reformer für die katastrophale Wirtschaftssituation verantwortlich zu machen, nur um den erzwungenen politischen Vorgang gegen sie zu rechtfertigen. Die Wiederbesetzung al!er wichtigen Macht- und ideologischen Positionen durch reaktionäre und konservative Personen sowie die Beseitigung der progressiv denkenden Menschen aus allen Funktionen in der CSSR werden zu einem Grundhindernis jeglicher Änderungen der absolut überlebten Formen der sozialistischen Gesellschaft werden. In der Presse der CSSR haben jetzt oberflächliche Propagandisten das Wort, welche sich in den Frühlingsmonaten des Jahres 1968 nicht getrauten, einen einzigen polemis&ien Artikel zu schreiben, obwohl die Möglichkeit zur Kritik der Reformen bestand. Eine Ideologie aber, die die öffentliche Auseinandersetzung und die Konfrontation mit der Wirklichkeit fürchtet, hat nichts mit dem wissen-

schaftlichen Sozialismus gemeinsam; Euer unablässiges Betonen, daß niemand wegen seiner politischen Ansichten und seiner Gesinnung verhaftet und verurteilt wurde, klingt wie ein Hohn. Genügt es nicht schon, daß die ehrlichsten und rechtschaffensten Kommunisten, denen es nicht um ihre Karriere ging, sondern in erster Linie darum, der sozialistischen Gesellschaft und dem Volke zu helfen, aus ihren Arbeitsstätten und aus den politischen Stellungen verjagt wurden?

Ihr könnt noch so laut verkünden, daß Ihr Euch damit nur von anti-

sozialistischen und opportunistischen Elementen befreien wollt, um den Sozialismus zu retten; nie könnt Ihr jedoch die tschechischen und slowakischen Nationen, noch weniger die Weltöffentlichkeit, von der Wahrheit dieser Behauptung überzeugen. Es ist eine zu alte Taktik. Sobald Ideen in der sozialistischen Gesellschaft auftreten, welche ihre Verbesserung und Modernisierung postulieren, aber dabei die subjektiven Interessen der Machthaber gefährden könnten, wird sofort der Vorwurf des Antisozialismus und der Konterrevolution erhoben.

Ein Opportunist war schon immer jener, der die wirklichen Lebensinteressen der Werktätigen seiner politischen Karriere und den Wünschen der Mächtigen geopfert hat. Ein jeder von den heute verfolgten tschechischen und slowakischen Intellektuellen hätte in den ehemaligen politischen Verhältnissen eine persönlich vorteilhafte Stellung und auch eine politische Karriere erlangen können, wenn es ihm allein darum gegangen wäre; es hätte trotzdem genügt, trotz dem bestehenden Unrecht in der Gesellschaft zu schweigen, konform sich den Wünschen der Mächtigen anzupassen und im rechten Augenblick verläßlich zu dienen. Daß der Großteil sich nie dem Regime von Novotny angepaßt hat, sondern im Gegenteil lange Jahre hindurch die Unzufriedenheit des Volkes zum Ausdruck brachte und nicht aufhörte, sich im Kampfe für die heranreifenden Reformen der Gesellschaft zu engagieren, zeugt davon, daß es alles andere als Opportunisten waren; sie gaben sich nlioht einfach mit einem Personenwechsel zufrieden, sondern kämpften um die völlige Beseitigung der Ursachen, das heißt der alten ökonomischen und politischen Bedingungen.

Ihr könnt heute Hunderte und Tausende dieser progressivsten Menschen beseitigen, zum Schweigen bringen und schikanieren; nie wird es Euch gelingen, sie zu Feinden des Volkes zu machen. Ihr könnt Per-

sonen, welche es ablehnten, einem antihumanen und undemokratischen Regime zu dienen, schmähen, beschmutzen und verleumden — unsere Nationen werden ihre Namen nicht vergessen. Ihr könnt das alte überlebte System, mit welchen Mitteln auch immer, machtmäßig festigen, es wird Euch nicht gelingen, immer größere wirtschaftliche Verluste und ein immer größeres Zurückbleiben der tschechoslowakischen gegenüber der westlichen Wirtschaft zu verhindern. In der Politik kann man leider die halsbrecherischsten Wendungen voll-

führen, besonders wenn sie von der notwendigen Macht unterstützt werden. Sind sie aber gegen die gesetzmäßige ökonomische Entwicklung gerichtet, so wirkt sich das auf dts Lebensniveau des Volkes negativ aus. Worin liegt der Wert des Respektierens der Realität, wenn es sich dabei allein um ein Unterwerfen unter die gegebenen Machtverhältnisse handelt, wobei die Notwendigkeit von grundlegenden ökonomischen Reformen völlig ignoriert wird und das erzwungene Aufgeben der unumgänglichen Reformen dem Volke als die „Rettung“ des Sozialismus präsentiert wird? Etwas anderes wäre die passive Akzeptierung der Machtverhältnisse; dies im Gegensatz zur aktiven Diskreditierung der großen und humanen sozialistischen Ideen durch eine Propaganda, die alle menschlichen Werte umstürzt und vor keiner Lüge und Demagogie zurückschreckt. Die Politiker, welche versuchen, den progressiven Geist und die ethische Kraft unserer Völker zu ersticken, erleichtern zwar die Aufgabe der Invasoren: aber das Denken und Fühlen des Volkes können sie nicht ändern. Auch wenn die Welt unter dem Druck der gegenwärtigen Machtverhältnisse gezwungen wird, zur Tagesordnung überzugehen und die verheißungsvolle tschechoslowakische Entwicklung vorübergehend zu „vergessen“, werden die großen Ideen, welche unser Volk inspiriert haben, nie mehr aus seinem Bewußtsein verschwinden. Die Kräfte der Befreiung der Tschechoslowakei sind im Wachsen begriffen. Noch so starke Diktaturen, von welchen Ideologien und Machtmechanischen sie auch immer getrasen werden, sind, wenn sie sich als Hindernis der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Nationen darstellen, beseitigt worden. Die ökonomische Notwendigkeit wird sich früher oder später durchsetzen, und auch die entsprechenden politischen Änderungen

werden sich im Sinne des tschechoslowakischen Frühlings in allen sozialistischen Ländern Bahn brechen. Dann werden alle Menschen rehabilitiert, welche in der heutigen Tschechoslowakei Verfolgungen ausgesetzt sind; die Ideen, für welche sie gekämpft haben, werden neu aufleben und realisiert. Dann endlich werden Bedingungen entstehen, die den lange ersehnten, freien, sozialistischen und humanen Aufschwung unserer Völker garantieren, für den sich ihre besten Söhne und Repräsentanten in diesem Jahrhundert eingesetzt haben.

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