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Das Individuum ist heute gefährdet

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Technisierung, Hedonismus, Flucht aus der Verantwortung, Bürokratisierung begünstigen die Vermassung und gefährden die menschliche Persönlichkeit. Der Mensch kann aber nur als Person, nicht als anonyme Arbeitsameise überleben.

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Technisierung, Hedonismus, Flucht aus der Verantwortung, Bürokratisierung begünstigen die Vermassung und gefährden die menschliche Persönlichkeit. Der Mensch kann aber nur als Person, nicht als anonyme Arbeitsameise überleben.

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Seit einiger Zeit ist in den westlichen Demokratien eine Müdigkeit zu erkennen, die zu einem dort bisher sehr untypischen Verhalten führte. Während für die westliche Kultur der Individualismus, das kritische Denken, die Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit kennzeichnend waren, machen sich jetzt Tendenzen bemerkbar, die zum Aufgeben alles dessen beitragen.

Die jüngste Entwicklung im Westen ähnelt auf bedrohliche Weise einer psychologischen Regression: das Verlangen nach Schutz, Geborgenheit, nach einem merkwürdig abstrahierten Vater macht sich bemerkbar. Der Begriff „Vater Staat" ist aufschlußreich, und es erhebt sich die Frage, ob nicht der Wunsch nach dem schützenden „Vater Staat" eine Ersatzhandlung für den Verlust des Vaterbildes, der Vaterfigur in der Familie, ja der Familie überhaupt, ist.

Auch der Glaube an Gott, an den allmächtigen „Vater unser, der Du bist", ist weitgehend geschwunden. Der von Alexander Mitscherlich beobachtete „Weg zur vaterlosen Gesellschaft" könnte in einem Verlangen nach dem großen Kollektiv seine gefährliche Kompensation finden.

Solche psychologische Symptome machen sich in der westlichen Gesellschaft immer deutlicher bemerkbar. Ein Grundelement der Demokratie, die Selbständigkeit des Individuums, gerät in Gefahr, freiwillig zugunsten bequemen Konsums und passiver schlaraffenländischer Illusionen aufgegeben zu werden.

Immer mehr wird die lebenslange Rente von Geburt an zum Hauptwunsch, um damit, möglichst nach allen Seiten abgesichert, ohne Risiko und vergnüglich die Zeit verbringen zu können - ein Verlangen, das unerfüllbar ist und in den Ruin führt.

Die enorme Technifizierung, der aus einer hochspezialisierten Zivilisation gewonnene Luxus, die immer größer werdenden organisatorischen Voraussetzungen des modernen Lebens und die zunehmenden sozialen Absicherungen ließen von zwei Seiten her eine schwere Bedrohung der individuellen Eigenständigkeit in den westlichen Demokratien aufkommen.

Die eine Seite: die technischen Grundlagen unserer Zivilisation und unseres Wohlstands benötigen ihrerseits große Apparate, die weitgehend zentralistische Tendenzen haben. Die Bedrohung von der zweiten Seite ist noch gef ährlicher: sie kommt aus der Müdigkeit und luxuriösen Verwöhntheit der meisten Bewohner westlicher Demokratien. Das Verlangen nach weiterer Erhöhung des Wohlstands, nach stets raffinierteren Bequemlichkeiten, nach der Erfüllung auch der absurdesten Wünsche und Launen, sie bringen die Bevölkerung allzu leicht zu einem Verzicht auf jede individuelle Eigenständigkeit, die mitunter auch Härte gegen die eigenen Wünsche voraussetzt.

Der Mangel an existentieller Herausforderung innerhalb der hedonistischen Wohlstandswelt des Westens läßt den Willen zur eigenen Persönlichkeit, zur Selbstverwirklichung in Freiheit verkümmern. Man beginnt, einverstanden damit zu sein, daß riesige Beamtenapparate- des Staates, der Krankenkasse, der Pensionsversicherungen, Gewerkschaften, aber auch großer Industriekonzerne mit sozialen Fürsorgen — eine scheinbare Schutzverpflichtung übernehmen, für die man die individuelle Eigenständigkeit leichthin aufgibt.

Kommen die westlichen Demokratien auf dem Weg ihrer hochentwickelten Zivilisation aus anderer Richtung zu einer ähnlich totalen bürokratischen Situation wie die Kommunisten in ihren Staaten? Führt die Verbindung von Technokratie, ohne die unser Wohlstand nicht mehr möglich ist, und der sozialen Leistungen des Staates (oder der Fabriken, Firmen, sonstigen Wirtschaftseinheiten) zu einer beamtlichen Großversorgung wie sie in der kommunistischen Gesellschaft üblich ist — nur vielleicht in westlicher Luxusaufführung...?

Die Abschaffung des geschichtlichen Wissens und zumindest die Fragmentierung der Kulturgeschichte läßt in Unkenntnis, daß die gesamte Entwicklung der heutigen westlichen Welt aus den jetzt so oft lächerlich gemachten Grundsätzen der humanistischen Haltung erfolgte.

Nicht nur die griechischen Väter der Physik und Mathematik, natürlich jene der Demokratie, stammen aus diesem kulturellen Denken, auch die römischen Organisatoren eines Weltreichs, die Begründer der justinianischen Rechtsordnung, ebenso Koperni-kus, Galilei, die späteren großen Physiker bis zum Göttinger Kreis, nicht zu reden von so vielen unter jenen Philosophen, die das Streben der Menschen beeinflußt haben, sie lebten und bildeten dessen Grundsätze.

Daß sie sich als zu schwach erwiesen, ihre Grundsätze stärker durchzusetzen, die bestimmenden Persönlichkeiten der Politik mehr zu verpflichten, als die Geschichte dies ausweist, und ihre Gedanken und Ideale weiter zu popularisieren, als wir es feststellen können— dies gehört zum Grundmotiv der Tragödie der Menschheit.

Es ist zu verstehen, daß eine Haltung, die den Menschen als Individualität sieht, als einzelne Persönlichkeit, in einem Zeitalter der „Massen" als gegenwartsfremd verschrien wird. Das Phänomen der beinahe unendlich vielen, die in so kurzer Frist als fordernde Staatsbürger, als Öffentlichkeit auftraten, mußte eine Weltanschauung, die sich zuerst mit dem Zusammenleben dieser einzelnen beschäftigte, als überholt erscheinen lassen.

Man hat sich inzwischen an diese „Massen" gewöhnt, es ist längst Alltag geworden, in ihnen zu leben. Der Reiseverkehr ist ein Massenverkehr geworden. Auto, Flugzeug, Bahn sind Massentransportmittel, Zeitungen, Radio, Fernsehen dienen als Massenmedien der Masseninformation, Bücher - freilich meist nicht die besten — kommen in Massenauflagen heraus, Schulen und Universitäten haben mit einem Massenandrang fertig zu werden.

Gerade während der letzten Jahrzehnte - gewiß eine kurze Frist angesichts der Weltgeschichte — merkte man, daß aus dieser Masse Menschen hervortreten mit Problemen, die Probleme von einzelnen sind.

Die Philosophen, Psychologen, Politiker stehen oft staunend vor der Tatsache, daß es mit der Masse der „schlichten, einfachen Bürger", dem ungebildeten Stimmvieh einer fälschlich so bezeichneten heilen Welt, nicht mehr weitergehe wie bisher. Diese einfache bäuerliche Bevölkerung war freilich in der feudalen und großbürgerlichen Epoche nie als Masse hervorgetreten, bildete aber zu Beginn der neuen Ära den überwältigenden Anteil der konservativen Massenparteien.

Weder lassen sich die „Arbeitermassen" führen und verführen wie bisher noch die schlichte Landbevölkerung mit den bisherigen Sprüchen anziehen und in Gefolgschaft halten.

Was Max Frisch nach dem Zustrom mediterraner Gastarbeiter in die Schweiz formulierte, ließe sich für das gesamte Massenzeitalter gegenüber den Politikern, Technikern und der Wirtschaft sagen: Ihr rieft Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.

Die bürgerlich-industriellen Kreise mußten erkennen, daß sie sich auf die Dauer keine Arbeitsameisen heranziehen konnten, und die revolutionären radikalen Politiker, daß das mobilisierte Proletariat nicht aus einem Heertroß stets kollektivberauschter Massen bestand. Nach einer Ubergangsphase chaotischen Durcheinanders und verschwimmender Bilder zeigte sich, daß tatsächlich Menschen kamen, und zwar keineswegs sehr neue Menschen, sondern solche mit bekannten dringenden Problemen.

Wenn wir uns der Lebenswerte unserer westlichen Demokratien nicht bewußt sind, beginnen Verzweiflung und Leichtfertigkeit einander zu steigern. Dann kann es geschehen, daß unser großer westlicher Luxusdampfer untergeht - trotz aller Lichter und der laut spielenden Musik an Bord.

Der Schritt von der liberalen Demokratie zu einer wertorientierten Demokratie, bei voller Bewahrung ihrer Liberalität, wird zu unserer Aufgabe, soll sich die liberale Demokratie nicht in widerspruchsvollem Hedonismus und damit in neurotischer Selbstverneinung auflösen. Der kommunistischen „Volksdemokratie" wäre eine liberale westliche „Wertdemokratie" gegenüberzustellen.

Wenn wir nicht müde Zeugen eigener Selbstauflösung sein wollen, bleibt uns nicht erspart, den Mut zu einer Erziehung zu fassen, die Informationen über Werte gibt und das Einüben einer Haltung lehrt, die diese Werte verwirklicht. Es gilt, den Unterschied zwischen Manipulation und Erziehung (wobei die Erziehung Entscheidungen offen läßt) deutlich zu sehen und damit der Furcht so vieler Persönlichkeiten in den liberalen Demokratien, andere zu erziehen, zu beseitigen.

Da ich mit einigen persönlichen Sätzen abschließen will, möchte ich sagen, daß mir über alle jene Werte der Kultur hinaus, die immer von Zeit und der Geographie abhängig sein werden, einige Evidenz-Werte der Evangelien und der Paulusbriefe für die Kultur entscheidend zu sein scheinen.

Wenn die Gesetze, die Ordnungen, die Werte zusammenbrechen oder durch ihre übermäßige Zahl einander aufheben, bleibt der Boden nur dort fest, wo man innerhalb der festgestellten Relativitäten die einfachen Werte von Nächstenliebe und metaphysischer Sinnhaftigkeit zu verwirklichen versucht. Auf diese Weise kann am Ende einer zivilisatorischen Entwicklung der Anfang des Urvertrauens wieder gefunden werden.

Es mag sein, daß die Evangelien und die Paulusbriefe ein Maß an Liebe, Langmut und Verzeihen verlangen, das überhaupt nicht aufgebracht werden kann. Wenn hier zuviel verlangt wird, dann aber in einer Richtung, die zum Zusammenleben der Menschen in Frieden führen würde. Nicht jene Eigenschaften, die destruieren, sondern jene, die kultivieren, werden gefordert. Sie sind Kultur.

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