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Kultur als Bereich der Werte

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Man ist in den Ländern des Westens und nicht zuletzt in Österreich sehr sonderbar mit dem Begriff Kultur umgegangen. Vor allem im 19. Jahrhundert hat die Entwicklung dazu geführt, daß unter Kultur langsam immer enger nur noch die Künste gemeint waren. Kultur wurde der Besuch philharmonischer Konzerte, der Oper, der Aufführungen in feierlichen Theaterpalästen. Man begann darunter die gehobenen Stunden mit Musik, Dichtung, Malerei zu verstehen, die mit dem Alltag nichts zu tun hatten.

Das Bürgertum war an dieser Auffassung von Kultur maßgebend beteiligt, da sich in den Kreisen der liberalen Kaufleute, vor allem nach der französischen Revolution, die Möglichkeit des freien Marktes und freien Handels beherrschend in den Vordergrund geschoben hatte. Der Alltag mitsamt seiner rauhen Wirklichkeit orientierte sich zunehmend nach den steigenden Umsätzen und der Anhäufung von Reichtum und Luxus. Die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg läßt dies sehr anschaulich erkennen.

Was man damals freilich nicht erkannte, war die Tatsache, daß die Blickrichtung auf die Wirtschaft immer ausschließlicher wurde und die Kultur schließlich als Alibi, als Ornament und Dekoration zu gelten begann. Sie sollte von den harten Praktiken des täglichen Lebens ablenken, sie verdecken, über sie erheben, eine Art Kompensation darstellen.

Ohne es zu wissen, folgte das Bürgertum damit den Gedanken seines heftigsten Kritikers, Karl Marx. Er sagte, die Wirtschaft sei das Primäre, die „Basis“, die den „Überbau“, die Kultur hervorbringe. Auf jeden Fall wurde im Bürgertum die Wirtschaft das Primäre. Während man an den Universitäten den philosophischen Idealismus lehrte, praktizierte man im geschäftlichen Alltag und in der privaten Wertordnung einen recht krassen Materialismus.

Die eigentlichen Substanzen der Kultur verloren ihre Geltung in der Realität: Religion, Wertbewußtsein, menschliche Rücksichtnahme, Nächstenliebe. Kultur absolvierte man am Abend und schließlich auch dann nur noch sehr selten oder gar nicht. Das Ergebnis sehen wir heute, es bestimmt die Situation im Westen.

Eine weitere Tatsache stellte sich unabweisbar heraus, daß trotz größter Anstrengung der Mensch nicht von Brot allein leben kann. Man suchte also nach „anderem“, aber statt sich der Kultur zu entsinnen und nach den eigenen Grundlagen zu fragen, kam es zu modernen Ersatzhandlungen.

An den lieben Gott im Himmel glaubte man nicht mehr, und die Vaterfigur in der von Auflösungserscheinungen bedrohten Familie verblaßte. Weder Gottvater, noch Familienvater - also schuf man als Ersatz den „Vater Staat“. Die Sprache verrät viel.

Dieser Vater Staat soll nun für alles verantwortlich sein, und unter seinem Blick jene „heile Welt“ entstehen, in der für jeden gütig gesorgt ist und die man mit dem Glauben an Gott verloren hat.

An das Jenseits glaubt man nicht, nun sollen wenigstens die Pension und soziale Absicherung für das Gefühl der Geborgenheit aufkommen. Nichts gegen Pension und Krankenkasse, beide sind unendlich wichtig - nur wäre nicht zu vergessen, daß sich dahinter noch eine Transparenz öffnet, die ausschlaggebend ist.

Weder der Staat noch irgendwelche Kollektive können jene Hilfe zum Bewußtwerden der eigenen Identität und der eigenen geistigen Orientierung geben, die im Erkennen der eigenen Kultur enthalten ist. Ich will nicht vom privatesten Erleben der Religion und ihrer Ausübung sprechen, jedoch um so entschiedener auf die Notwendigkeit hinweisen, im

Sinne der historischen kulturellen Entwicklung nachzudenken, auf welchem Boden wir eigentlich stehen und woher die geistige und reale Umwelt kommt, in der wir leben.

Ob wir das elektrische Licht aufdrehen, ob ich auf der Schreibmaschine tippe, mit jemandem telefoniere, ob wir vor dem Femsehschirm sitzen, mit der Bahn fahren, das Auto oder das Flugzeug benützen, ob wir Medikamente nehmen, uns röntgenisieren lassen - dies alles sind Besonderheiten unserer westlichen, christlichen Kultur.

In keiner anderen Kultur der Geschichte gab es eine ähnliche Entwicklung zu Wissenschaft und Technik. Die Möglichkeit dazu wurde durch eine bestimmte Art von Religion geschaffen, die Gott in den Himmel entrückte und dem Menschen die Natur zur Gestaltung freimachte. Bei den Griechen und Römern waren das Meer und die Flüsse erkenntnis und der eigenen Identität schon besser zurecht.

Die beiden großen Botschaften unserer Kultur an die Welt sind die Menschenrechte und die Wissenschaft, samt ihrer technischen Anwendung. Und es ist kein Zufall, daß diese beiden Botschaften nur gemeinsam zu gutem Sinn führen. Denn ohne Menschenrechte führen Wissenschaft und Technik zur Apokalypse, und die Menschenrechte allein ohne Hilfe der Wissenschaft und Technik bleiben der Garten für eine Elite, während Millionen Menschen verhungern.

Die schweren Rückschläge des Westens scheinen die hier lebenden Menschen reif zu machen, ihre Gedanken über die wirtschaftlichen Interessen hinaus auf kulturelle Elemente zu richten. Die bloße Aufmerksamkeit für Wirtschaft, Lebensstandard und Macht bescherte dem Westen die Situation im Iran und in anderen einst vom Westen abhängigen Bereichen. Eine fanatische Re- islamisierung ist die Folge.

Sollte man nicht - und zwar in einer friedlichen Form - an eine Rechri- stianisierung des Westens denken? Die Besinnung auf die christliche Kultur mit dem Blick auf die Werte des Neuen Testaments (nicht auf die Handlungsweise der einst oft militanten Kirche) würde sehr wohl das Maß für Tun und Lassen in der Weltpolitik geben, das jetzt noch so sehr fehlt.

Für den Alltag würde dies bedeuten, daß man Kollektiven gegenüber skeptisch wird, daß man neben den Annehmlichkeiten eines guten Lebensstandards sich nach jenen Werten orientiert, die über „das Brot allein“ (samt Kaviar und goldenem Besteck) hinausreichen. Sie bedeuten mehr als Lebensstandard.

Vor allem aber gilt es, die Verantwortung für Leben und Zukunft auf sich zu nehmen und nicht dem Staat und anderen Institutionen zu überlassen. Wer von Kind an nur an Sicherheit denkt, verabschiedet damit viel von seiner eigenen Vitalität, seiner Lebensfreude und seinen Chancen. In der Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit mit allem Risiko und aller Verantwortung entsteht erst jenes Lebensgefühl, das sagen läßt, man habe so sinnvoll gelebt, wie man es eben konnte, auch wenn vieles scheitert.

Götter, in den Bäumen wohnte Pan, an eine industrielle Verwertung war da nicht zu denken.

Wenn wir unsere demokratische Staatsform schätzen, dann haben wir ebenfalls das Erbe einer antik-christlichen Philosophie vor uns. Die griechischen Denker schufen dafür die Voraussetzungen, und das Neue Testament mit seiner Lehre von der direkten Beziehung des einzelnen zu Gott, für die nur das eigene Gewissen maßgebend ist, ließ jenen Individualismus entstehen, jenes Gefühl der persönlichen Freiheit, die den Königsweg der westlichen Kultur ausmachen. Man spricht heute erfreulich viel von den Menschenrechten - sie sind ein Ergebnis unserer christlichantiken Kultur.

Wer sich also klar darüber wird, daß er sich auf dem Boden und im Raum dieser Kultur befindet, daß er von Kind an von ihr umgeben ist, kommt mit dem Problem der Selbst

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