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Die Revolution des Kreuzes

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Die Geschichte der ersten vier Jahrhunderte unserer Ära ist die einer Revolution. Wenn man unter diesem Wort nicht irgendeinen politischen Vorfall, einen Aufruhr oder Staatsstreich, durch den dann eine Partei an die Macht kommt, sondern die Erneuerung der Ge-sellsdraftsbasis, die völlige Veränderung der Weltanschauung versteht, so gibt es kein Ereignis, das man mit größerer Berechtigung „Revolution“ nennen könnte, als jenes, das innerhalb von weniger als drei Jahrhunderten das Römische Reich den Christen zu eigen werden ließ. Wie wenig galt die Kirche im Jahre 30, als ihr Gründer in Jerusalem zwischen zwei Räubern als Volksaufwiegler gekreuzigt wurde! Sechs oder sieben Generationen später, im Jahre 315, zählt sie so viel im römischen Staatsleben, daß Konstantin es für nötig hält, sie in seine Politik ein-zubeziehen, und noch vor Ende des Jahrhunderts triumphiert sie endgültig unter Theodosius, der das Christentum zur Staatsreiiqion, zum Rückgrat seines Reiches macht.

Man wird sich nie genug über die Schnelligkeit dieses Erfolges und über die Talsache wundern können, daß kein wie immer gearteter Widerstand ihn zu hemmen vermocht hat. Die Machthaber der bestehenden Ordnung glauben, da sie sich über die Bedeutung dieser Revolution immer klarer werden, ihr mit Argumenten oder Gewalt begegnen zu können. Polemisten und Henker versuchen, jeder nach seiner Weise, ihr Hindernisse in den Weg zu legen. Aber es nützt nichts. Das Blut der Märtyrer wird, nach Tertullians berühmtem Wort, zur „Aussaat des Christentums“, und weder Celsus' Beweisführungen, noch die theologischen Spitzfindigkeiten des Synkretismus vermögen auch nur das Leiseste, gegen die unwiderstehliche Kraft, die die Kirche zu ihrem endgültigen Sieg führt.

Die Revolution des Kreuzes ist eine historische Tatsache. Sie ist sogar eine der größten realen Gegebenheiten der Geschichte, eine derer, die die Grundfesten der abendländischen Gesellschaft ausmachen. Die nachmalige Entwicklung unserer Ethik, unserer Gesetzgebung, unserer Literatur oder unserer Kunst bleibt unverständlich, wenn man der Erscheinung des „Neuen Menschen“, dem Auftauchen einer völlig neuen, von der der Antike grundlegend verschiedenen

Weltanschauung nicht die außerordentliche Wichtigkeit zumißt, die diesen Tatsachen gebührt.

Wieso ist gerade diese Revolution von Erfolg gekrönt gewesen? Wenn man über das historische Phänomen, „Revolution“ genannt, nachdenkt, kommt man unweigerlich zu dem Schluß, daß eine Revolution nur dann etwas erreichen kann, wenn drei Elemente sich verbinden: die Gegebenheit einer „revolutionären Situation“, das Auftauchen einer revolutionären Lehre und Kämpfer. Keines dieser drei Elemente würde allein genügen, eine Revolution herbeizuführen, selbst die Verbindung von zweien wäre unwirksam. Im Jahre 1934 zum Beispiel war Frankreich unstreitig in einer revolutionären Situation, die Kämpfer fehlten auch nicht, aber aus Mangel an einer Doktrin, einer machtvollen Idee, kam es zu keiner, weder politischen noch sozialen noch moralischen Umwälzung.

Dem Christentum kam bei seinem Eintritt in die Geschichte eine günstige Konstellation, nämlich das Vorhandensein dieser drei Elemente, zugute. Die Situation der antiken Welt war sdion an sich reif zur Revolution und wurde es von Tag zu Tag mehr: Anarchie, Partikularismus und Bürokratie schwächten die bestehende Ordnung, Finanzkrisen unterhöhlten sie, die Gesellschaft krankte an Lastern und Geburtenrückgang, Ehescheidungen gehörten zu den täglichen Dingen, und das öffentliche Moralbewußtsein, das den alten Glauben an Recht und Unrecht immer mehr verlor, tastete in einem Gewinn von orientalischen Geheimlehren und Aberglauben unsicher nach einer neuen Lehre. All das bot einen ganz besonders günstigen Boden für einen festen und zugleich menschlichen Glauben, für einen Glauben, der sowohl die angstvolle Frage nach dem Jenseits beantwortete, als auch die Erwartungen des sozialen Gewissens befriedigte. Die Grundsätze dieser wirklich revolutionären Lehre hatten nichts mit denen der antiken Welt gemein, sei es auf dem Gebiet der sexuellen Moral oder dem des Familienlebens, oder auf dem anscheinend unlösbarer Fragen, wie zum Beispiel der der Sklaverei. Sie hatte auf alles logische Antworten, die auf einer höheren Auffassung des Menschen basiert waren.

Und schließlich — oder vielleicht vor allem — hat das Christentum Gefolgsmänner von großem Wert zu seinen Diensten gehabt. Was ist denn ein Revolutionär, wenn nicht ein Mensch, der sich mit Leib und Seele einer Sache ergibt, bereit, ihr alles zu opfern, ein Mensch, der völlig der Zukunft lebt und alle Energie der Welt widmet, die er entstehen sehen will?

Durch zwölf Generationen, von Paulus zu Augustinus, sind dem Christentum Tausende solcher Männer und Frauen ununterbrochen zur Verfügung gestanden. Was die unternehmende Kühnheit der Apostel bei der ersten „Aussaat“ begonnen hatte, das setzten das Heldentum und die Opferbereitschaft der Märtyrer fort, während die Weisheit der Kirchenväter die Glaubenssätze auf konkrete Basen stellte und so den Anfang der künftigen Institutionen schuf.

Dem Zusammenwirken dieser drei Elemente verdankt das Christentum das Gelingen seiner Revolution.

Die Frage, die nun auftaucht und die kein Christ sich ohne ein gewisses Bangen stellen kann, ist folgende:

Warum erscheint uns das, was noch vor sechzehn Jahrhunderten eine treibende Kraft war, heute weniger wirksam? Warum hat die Revolution des Kreuzes, deren Devise das Wort Christi „Wandelt euch“ war, die Welt nicht so völlig verwandelt, wie wir es gerne sehen würden?

Dem kann man vor allem entgegenhalten, daß diese Wandlung in einem großen Ausmaß vor sich gegangen ist. Die Stellungnahme der modernen Gesellschaft zu Problemen, wie denen der Sklaverei, der Stellung der Frau, der Freiheit usw. ist ja vom Evangelium unmittelbar beeinflußt, wenn auch die praktischen Resultate noch auf sich warten lassen. Das Christentum ist uns derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir seine Gegenwart beinahe nicht mehr erkertnen. Wir würden weniger hart urteilen, wären wir nicht von eben demselben Christentum geformt.

Aber der Vorwurf bleibt trotzdem bestehen. Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück und wir begreifen ganz seine Schwere. Die Revolution des Kreuzes, von der wir gesagt haben, daß sie, historisch gesehen, eine wirkliche Revolution war, darf auf keinen Fall den anderen, von welchen die Jahrhunderte voll sind, an die Seite gestellt werden.

„Ohne den Haß, diesen mächtigen Hebel, erreicht man nichts“, sagt Proudhon. Die geheimsten Triebfedern der politischen Revolutionen, mögen ihre Vorkämpfer auch von hohen Tugenden beseelt sein, sind doch immer Neid -und Ansprüche. Die Revolution des Kreuzes hat als einzige jene paradoxen Sätze als Devise aufgestellt: „Liebet eure Feindel

Vergebt Beleidigungen! Verzichtet! Jagt nicht nach den Gütern dieser Welt! Seid demütig und fromm!“ Und das Erstaunliche, das Wunderbare, ja, das eigentliche Geheimnis der Geschichte ist wohl, daß diese Sätze triumphiert haben.

Es genügt, sich diese einfache Wahrheit ins Gedächtnis zurückzurufen, um Antwort auf die quälende Frage, die wir uns stellten, zu finden und gleichzeitig eine schwere Verantwortung zu fühlen. Der große russische Philosoph Nicolaus Ber-diaeff, dem das französische Geistesleben viel verdankt, hat einmal geschrieben, man dürfe die Würde des Christentums nicht mit dem unwürdigen Benehmen der Christen verwechseln. Nur weil wir den Grundsätzen, die einst die Revolution des Kreuzes triumphieren ließen, untreu geworden sind, weil wir nicht genug lieben, weil wir nicht mehr wissen, was Opferbereitschaft ist, weil wir Christi Gesetz der Nächstenliebe verraten haben, hat das Christentum seine Jugendkraft nicht behalten oder noch nicht wiedergefunden.

Gibt uns die Geschichte nicht auch hier noch eine Lehre? Müssen wir nicht feststellen, daß es das Schicksal aller Revolutionen ist, in Gleichgültigkeit zu versinken? --

Die wahre Lehre aber, die von der Geschichte der Anfänge des Christentums ausgeht, ist jene der immerwährenden Revolution. Gegen die Kräfte der Gewalt und des Hasses muß die Revolution des Kreuzes immer von neuem begonnen werden.

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