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Probleme der Atomzivilisation

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Kommt auch jedem Staat, groß oder klein, ein gerütteltes, ja erschreckendes Maß an historischer Verantwortung zu, wenn von der Atomzivilisation die Rede ist, sowohl was die soziale Reform zu ihrer Vorbereitung als auch was die Organisation betrifft, die ihr Funktionieren ermöglichen soll, so ist es paradoxerweise nicht der große, oft anorganische, sondern der kleine, häufiger organische Staat, der die weitaus größere Chance hat, in die Vorausgestaltung der Atomzivilisation richtunggebend einzugreifen. Damit hängt kausal zusammen, daß, nachdem auch das Atommonopol der Weltmächte ätomtechnisch zu einem Allgemeinbesitz aller souveräner Staaten absinken muß, gerade die kleinen Staaten in zunehmendem Maße weitaus eher zu Dauerreformen befähigt, wenn nicht geradezu genötigt sein werden als die großen. Atomtechnisch kann man voraussagen, daß mit der fortschreitenden Atomentwicklung nicht nur die Weltmächte allein eine Atombombenproduktion werden durchführen, daß auch mittlere Staaten die letzten Atombombenmodelle auf billigen Wegen werden herstellen und daß selbst die kleinsten Staaten mit bescheidener Atomindustrie in den radioaktiven Abfallsprodukten über ein ausreichendes Kriegspotential selbst zum Angriff auf große Staaten werden verfügen können. Es liegt in dieser Atompotentialität der kleinen Staaten zwar ein gesteigertes Gefahrenmoment, das freilich die Weltmächte zu Vereinbarungen zwingen kann, gleichzeitig aber auch ein einzigartig drängendes heilsames Moment, Von dem die Wiedergeburt der Zivilisation ausgehen kann. Denn die kleinen Staaten haben die größere Aussicht, und sie haben unter dem Damoklesschwert der • Atomzivilisation überdies.. auch; noch ' die größere Nötigung, in ihrer Rückschrittlichkeit, sobald sie die augen-icheinlichen Wirkungen des Atomzeitalters bereits in ihrer Umwelt sehen, jene Reformen des Voratomzeitalters in die Wege zu leiten, die das Funktionieren der Atomzivilisation überhaupt erst möglich machen würden.

In einem Sonderfall wie Oesterreich, dem kleinen Zwischenland in der Mitte der beiden Weltkonstellationen, kommt zu dieser allgemeinen Chance der kleinen Staaten noch ein zusätzlicher Faktor. Wir sind weltpolitisch in einer besonders günstigen Lage, soferne wir dieselbe nur erst einmal erkennen und ausnützen. Wir haben überdies am allerwenigsten die Aufgabe, uns in den Wettlauf der Völker nach der Atomgüterfülle unter Preisgabe unserer besseren Eigenart bedingungslos einzuschalten. Es sprechen für diese weise Zurückhaltung nicht zuletzt auch ökonomisch-technische Gründe neben den geistigen. Es wird noch sehr lange Zeit wenig rentabel für uns sein, in die Atomwirtschaft einzusteigen^ Eine ökonomische Notwendigkeit besteht dafür nicht; die technische Situation spricht eher für ein Abwarten. Das ungelöste Problem der Atomabfälle kann auf lange Frist eine Servitut werden, die auf jeder nationalen Atomentwicklung lastet, auch wenn sie keine internationale Kodifizierung erfährt. Alle diese Faktoren zusammen machen es leichter denkbar, daß wir kraft unserer Lage zwischen den Fronten auf diesem heiklen Gebiete Entscheidungen treffen lernen, die unserem nationalen Interesse entsprechen. Das Ziel kann nur sein, die nationale Id-entität Oesterreichs um höchster geistiger Motive willen, nicht nur für uns, sondern auch für die anderen zu suchen und zu bewahren, von der wir dann auch sicher sein dürfen, daß ihr die ausreichende wirtschaftliche Existenz unseres Volkes dreingegeben wird. Dazu gehört nickt zuletzt auch die soziale Identität des österreichischen B a u e r n-t u m s, das kein bloßes Farmertum werden darf, wozu bereits die Voratomzivilisation, erst recht aber die Atomzivilisation mit ihren Veränderungen der Gleichgewichtszustände im Naturkreislauf für die Kulturpflanzen, das Zuchtvieh und den menschlichen Urproduzenten alle Anlagen zeigen. An der Frage des nationalen Bauerntums in den europäischen Staaten mag es sich wohl erweisen, wie weit die Ueber-nahme der Atomwirtschaft, und wie weit der Widerstand dagegen den nationalen Interessen entspricht. Gegen alle naheliegenden Mißverständnisse aber gehört es sicherlich zur Be-meisterung der Atomprobleme durch einen souveränen kleinen Staat, daß er sein eigenes nationales Wesen, woher er kommt und wohin er geht, vor allem verstehen und darnach handeln lerne (s. Jacques Hannak, Am Wendepunkt der Traditionen, Forum, Dezember 1955).

So gewaltig die Aufgabe des konkreten Staates, groß oder klein, in dem ganzen verwickel-,. ten Fragenbereiche der Atomkraft auch ist — gewaltiger noch ist die Funktion der metaphysischen Energien, die ins Spiel der Zeit kommen müssen, um die Kontinuität der Zivilisation zu bewahren, die Möglichkeit der atomimmanenten Katastrophe aber abzuwehren. Die Probleme der christlichen Zivilisation stehen hinter dem Vör-atomzeitalter, wie dem Atomzeitalter. In einem führenden amerikanischen Organ der Atomwissenschaftler untersuchte kürzlich einer der besten Kenner der ganzen Atommaterie in einem Jubiläumsartikel zum zehnjährigen Bestand der Zeitschrift die verschiedenen Formeln, die man zur Lösung des Atomproblems vorgeschlagen hat: die militärische Formel von der Abschreckung, der Wiedervergeltung, dem Remis der Weltmächte, das. den Weltfrieden sichern soll; die diplomatische Formel von der Atomabrüstung durch Verhandlungen, Vereinbarungen, Kontrollen und Inspektionen; die ökonomische Formel vom Ersatz der Atombombenproduktion durch die Atomfriedensindustrie — um am Ende alle diese Formeln zu leicht zu befinden. „Die Weiterexistenz und der Fortschritt der zivilisierten Gesellschaft“, so schließt daraus der amerikanische Atomwissenschaftler, „hängt ab von der Entwicklung ethischer Werte, die gleichzeitig breiter fundiert und höher orientiert sein müssen, als die Pragmatisten bisher zugestehen wollten, um darnach zu leben“ (E. Rabinowltch, Bulletin of die Atomlc Scfentists, Jänner 1956).

Ethische Werte aber sind für die überwältigende Mehrheit der Menschen religiöse Werte im Sinne eines den Anfang und das Ende des individuellen Daseins, Geburt und Tod de Einzelmenschen, übersteigenden kosmischen Zusammenhanges. Ohne diese Erkenntnis wird die Menschheit das Atomproblem nicht meistern. Es würde der Verantwortung der politischen Wissenschaften für den Staat nicht entsprechen, davor aus angeblicher Objektivität („Voraussetzungslosigkeit“) die Augen zu schließen. Vor allem die Aufgabe des Christentums, die nicht nur eine solche der kirchlich organisierten Gemeinschaften ist, sondern auch, wenn nicht für die Durchschlagskraft noch mehr, die Aufgabe christlicher Persönlichkeiten, kann in der Ueber-gangszeit zur“ Atomzivilisation gar nicht gewaltig genug gesehen werden. Die Erfüllung dieser Aufgabe liegt in weitaus mehr als in der scholastischen Akkommodation, die gelegentlich auch ein enthusiastisches Mitgehen mit dem Neuen um seiner Neuigkeit willen werden kann, dann aber den eigentlichen ethischen Einsatzpunkt des Religiösen im Zivilisatorischen grundlegend verfehlt. Man muß sich die christliche Aufgabe der Atomkraft gegenüber als durchaus konkrete, praktische, personale vorstellen, wie es alles im Christentum ist, wenn man es in seiner letzten Tiefe erfaßt. Der Mensch selbst in seiner Einzelheit ist aufgerufen, die Zivilisation zu gestalten, den Staat zu retten, die ethischen Kräfte zu entbinden, die allein die soziale Ordnung in ihren Ueberresten erhalten und in neuer Gestalt wiederaufbauen können. Dieser Aufruf hat, wenn ihm konsequent entsprochen wird, beschwörende Wirkung bis hinein ins Reich der Unholde und Untiere, der Dämonen und Monstra, die, wenn irgendwo in unserem Aeon, in der schrankenlosen Entfesselung der physikalisch-chemisch-technischen Kräfte wieder aus dem Abgrund emporgestiegen sind, nachdem sie im Zeitalter der Väter an der Kette lagen. Es ist das älteste Gesetz eines religiösen Lebens, das nicht bloß Flucht aus der Welt, sondern Gestaltung der Welt sein will, daß die Dämonologie nur durch die Askese, den Verzicht, das Opfer, die Hingabe an letzte Ideen überwunden und gebändigt werden kann. Die Hypertrophie und Exuberanz des Technischen kann in letzter Linie nur im einzelnen Menschen gebrochen und durch die asketische Haltung Zumindestens einzelner stellvertretender Gruppen gegenüber den technischen Grenzerrungenschaften, mit anderen Worten: durch das einfache Leben auch im Atomzeitalter, auf ein für die Gesamtmenschheit zuträgliches Ausmaß zurückgezwungen werden. Die Technik ist kein gesetzhafter Bereich, der „erlaubt“ oder „verboten“ ist; alles an ihr steht bereit für den menschlichen Geist; sie ist jedoch eine funktionale Aufgabe im Verhältnis zur konkreten Zivilisation, darin es „reife“ und „unreife“ Sektoren gibt. Unreif kann die Verwendung des Chemismus und erst recht der Radiation sein, die es erst vom weiteren Andrang der Probleme erwartet, daß man schon noch rechtzeitig vor der Selbstzerstörung der Zivilisation die Lösungen finden wird, die sie retten können. Aber auch die Uebernahme und die Verwendung der reifen Technik muß nicht für alle Menschen, ja nicht einmal für alle Nationen dieselbe sein. Es kann vielmehr eine ganz besondere, zukunftsreiche Aufgabe darin liegen, den bloßen technischen Fortschritt, dem kein geistiges Wachstum entspricht, das bewußt einfache Leben entgegenzuhalten, und dies auf lange Sicht nicht zuletzt, um das dauernde Funktionieren derjenigen Technik, die reif geworden ist und allgemein rezipiert wurde, unter der Herrschaft des Geistes zu erhalten und damit überhaupt erst zu ermöglichen. Wenn das Christentum angesichts der Probleme unseres Zeitalters nicht mehr einer solchen Aufgabe der geistigen Zurückhaltung und Planung in umfassendster Perspektive zu dienen vermöchte, wenn es auch nur mehr ein naturhafter Schrei nach dem Platz an der Sonne der Zeit, nach dem Mitmachen mit ihr und der Anpassung an sie wäre — dann hätte das Salz der Erde wahrhaft seinen Sinn und seinen Wert verloren.

Wo vom Christentum kritisch die Rede ist, Icann man gewiß die Frage aufwerten, ob es in der Tat eine so eindeutige historische Größe ist, daß man daraus die Normen des ethischen Handeln für die Gestaltung der Zivilisation ableiten kann. Viele leuenen eine solche Möglichkeit und behaupten, daß. weil die kirchliche Scholastik sich mit allen sozialen und kulturellen Formen anpassend verrräet, dies auch vom Christentum gelten müsse. Hier zeiet es sich, wie im Rahmen einer historisch-kritischen Erforschung der Zivilisation, des Staates, dei Gesellschaft, der Wirtschaft, es in unserer Weltzeit nahe dem 2000. Jahrestag der Entstehung des Christentums, eine ernste soziologische Aufgabe werden kann, sich mit den historischen Quellen des Christentums, dem Evangelium, zu befassen. Die Frage, wer ist Christus und was halten die Menschen von ihm, die Frage der Bergpredigt, der historischen Einstellung des Evangeliums zum Leben der Menschen auf dieser Erde, zu ihrer Gestaltung, also zur Zivilisation, damit aber zu den Problemen des Staates, der Autorität, der Macht, der Gewaltanwendung, des Krieges, ist im Atomzeitalter aktueller und aufregender geworden denn jemals zuvor. Alle bisherige Interpretation stak notwendig noch in den Kinderschuhen. Auch wenn die Meinungen der Christen von heute darüber auseinandergehen, wie übrigens zu allen christlichen Zeiten, so ist es nunmehr nichtsdestoweniger aussichtsreicher, als es jemals war, nach der historischen Deutung zu suchen, die der Realität des Evangeliums entspricht. Dabei wird man nicht minder auch im Christentum eine geistige Entwicklung der ethischen Normen konstatieren müssen. Die Frage des Krieges in ethischer Perspektive war eine andere, als es bloß erst das Schwert des mittelalterlichen Rittertums, die Feuerwaffen des 30jährigen Krieges oder der Türkenkriege, selbst noch die konventionellen Explosionsstoffe der beiden Weltkriege gab.

Diese geistige Wandlung offenbart sich vielleicht in nichts so erschütternd als in dem geistigen Ringen des Papstes, Pius XII., mit diesen Problemen. Wenn man die laufenden Aeußerungen der höchsten Lehrautorität der katholischen Kirche und der ehrwürdigsten religiösen Instanz der gesamten Christenheit überhaupt in den Weihnachtsbotschaften der letzten Jahre verfolgt, die sich mit der Atomfrage befassen, so geht auch ihre geistige Entwicklung in dieser Zeit, die auf Herz und Nieren prüft, weit darüber hinaus, was noch voi kurzem die Theologen für möglich gehalten haben; denn diese Entwicklung geht ganz unzweideutig von der überlieferten scholastischer Lehre vom „gerechten Krieg“, die auch in dei Atomkraft zuerst optimistisch nichts anderes als ein Geschenk Gottes an die Menschheit sah; und wäre es auch zur Kriegführung, zu jenei pessimistischeren Unterscheidung der Geister in der es ein unbestechliches Urteil gibt übei das Gute und das Böse auch in den äußerer Formen der Zivilisation, einschließlich dra glorreichen und der dämonischen Möglichkeiten in den technischen Errungenschafter selbst. Jene bedürfen einer geduldigen Praxis sollen sie nicht entarten, diese aber eines konsequenten Exorzismus, um der Menschheit ent-weder noch dienstbar oder aber von ihr wiedei ausgeschieden zu werden. Der Papst hat in sei ner letzten Weihnachtsbotschaft der Welt un mißverständlich gezeigt, daß auf einem Gebiete auf dem er keine Unfehlbarkeit in Ansprucl nimmt, wohl aber aus den Erfahrungen un( Ueberlieferungen der ältesten geistigen Autori tat der Zivilisation spricht, das kirchlichchristliche Denken fortgeschritten ist von de ursprünglichen, noch vorwiegend naiven Inter pretation der Atomkraft durch die herrschende Theologie, die in Nachwirkung der scholastischen Kategorien auch den Atomkrieg zur „Selbstverteidigung“ wenigstens in „gerechter“ Sache noch lange für „erlaubt“ hielt, zu der die tragischeren Hintergründe der Weltsituation tiefer erfassenden Forderung (gemeinsam mit Indern und Russen) nach der Einstellung der Atomexperimente, dem Verbot der Atomwaffen und der Vereinbarung über die Atomkontrolle. Nachdem der Papst auf die innere Einheit dieser drei Punkte besonderen Wert legt, wird man daraus schließen dürfen, daß auch er das Wesen der letzteren nicht darin sieht, daß sie utopisch wirksam sein kann („fool-proof“, wie die Amerikaner sagen), sondern eben, daß sie vereinbart ist als das erreichbare Höchstmaß internationaler Verständigung. Vielleicht liegt darin das Gewaltigste in dieser Zeitenwende, das Aufrüttelndste und Umwälzendste zugleich, daß auch der Papst vor der menschlichen Geschichte bekennt, ein geistiger Mensch zu sein, der auf sehr entscheidenden Gebieten wie unsereiner lernt, ohne daß er deshalb aufhören würde, die überragende geistige Autorität zu sein, nach deren überparteilichem Urteil gerade in der Atomfrage beide Hemisphären instinkthaft verlangen. Darin aber liegt mehr als in allen anderen Dingen die große Hoffnung, daß auch die Menschheit es noch einmal lernen kann, das Werkzeug zu ihrem Heile zu gebrauchen, das sie in kriegerischem Wüten vorzeitig dem Schöße der Gottheit entrissen hat.

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