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Eine Zwischenbilanz

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Der reue Schatz der französischen Sprache besitzt in dem Worte malaise einen treffenden Ausdruck, um einen länger anhaltenden Zustand der Besorgnis und Beklemmung zu charakterisieren, der aus verschiedenen gleichzeitig wirksamen Ursachen hervorgeht, daher schwer zu bekämpfen ist mnd nicht so rasch beseitigt werden kann, wie man gerne möchte. Das deutsche Wort Unbehagen gibt den Begriffsinhalt des französischen malaise nur sehr unvollkommen wieder. Dieses ist die richtige Bezeichnung des Gemütszustandes, den man jetzt nicht nur in Österreich, sondern in der ganzen Welt beobachten kann. Man braucht nur eine Zeitung zu lesen oder das Radio einzuschalten, um die neuesten Berichte aus aller Welt zu hören: Uneinigkeit und starke Gegensätze, Streit und Streik, Forderungen und Drohungen, Aufruhr und Terror, Mangel und Hungersnot, dazu Pogrom, Raub und Verbrechen aller Paragraphen des Strafrechtes — nein, es ist heute gar kein Vergnügen, zu hören, wie es in der Welt zugeht, die sich benimmt, als wäre sie schon aus den Fugen gegangen.

Während des jünsten schrecklichen Völkermordens und erst recht von dem Tage an, an dem die Hoffnung auf sine baldige und vollständige Vernichtung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sich angesichts der kraftvollen Schläge der damals einigen Alliierten befestigen durfte, hatten die Einsichtigen sich mit der Erkenntnis vertraut gemacht, daß infolge der ungeheuren Verluste und Zerstörungen geistiger und materieller Güter mit langwierigen und schweren Erschütterungen zu rechnen sei. Selbst der nüchternste und illusionslose Rechner war aber nicht darauf gefaßt, daß so rasch nach dem schwer errungenen Siege wieder unheilvolle eigensüchtige Ideologien, die eben erst zur schauerlichen Explosion des Weltkrieges geführt hatten, entgegen dem erleuchteten Willen der großen Staatenlenker der Gegenwart, auf das Denken und Handeln solchen großen Einfluß gewinnen würden!

Vor der jetzigen Weltlage, die fast sogar einen Optimisten beunruhigen könnte, die Aktiven und Passiven der Weltbilanz gegenüberzustellen, ist zweckmäßig und ratsam. Die Methode sei nüchterne Klarheit und Entschlossenheit in Willen und Handeln; die Ubersicht selbst wollen wir in das Gesichtsfeld Österreichs rücken. Vorweg haben wir festzustellen, daß die für die heutige Weltlage charakteristischen Erscheinungen, Ereignisse und Entwicklungen durchwegs außerhalb unserer Einfluß- und Willenssphäre liegen. Wir können sie mit unseren Kräften weder aus der Welt schaffen noch auch um sie herumkommen, sosehr uns danach gelüsten mag. Teilweise gehören sie der Vergangenheit an und können nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Jedoch, das kleine Österreich mit seinen sieben Millionen Einwohnern ist als geopolitischer Schnittpunkt weit mehr als andere- Staaten bestimmt, stets Funktion des Geschehens in der Welt der Großen zu sein, verkleinertes Spiegelbild ihres Kräftespieles. Dazu sind dem Auftreten seiner Regierung noch immer recht enge Grenzen gezogen, was der zumeist von minder qualifizierter Seite ertönende Ruf nach „aktiverer Außenpolitik“ übersieht. Österreich hängt mit Existenz, Auf- und Abstieg, Wohl und Wehe in hohem Maße von seiner Umwelt ab, für die es aber zugleich einen unentbehrlichen Aktivposten bedeutet. Das ist sein Glück und nicht eine weltfremde Illusion, die der Selbsterhaltungstrieb vorgaukelt, sondern eben diese reale Tatsache ist es, die durch die Moskauer Deklaration und andere Erklärungen bestätigt wird, durch welche die Auferstehung Österreichs als Begriff und als unabhängiges Staatswesen der Welt verkündet wurde. Zahlreiche Taten der Hilfsbereitschaft der Großen und der Kleinen in der Völkerfamilie haben diesen Willen wiederholt erneuert.

Gewiß haben sich die Dinge seit unserer „Befreiung“ überraschend schmerzhaft von unseren Hoffnungen hinweg entwickelt, und mit bitteren Gefühlen der Enttäuschung betrachten viele den krassen Unterschied zwischen den Erwartungen, die wir einst, im Leid der Verfolgung und des Widerstandes, auf die Befreiung, die Wiedergutmachung der erlittenen Verluste und Leiden und unseren Wiederaufstieg setzten, und den Aussichten, die sich heute unseren besorgten Augen bieten. Wir müssen aber die Dinge sehen, wie sie sind, und auch den Anteil, den tragische Schuld uns selbst aufgelastet hat.

Die Hauptursache des Malaise ist die Uneinigkeit und Spannung zwischen den Großmächten in der Mehrzahl der 1 konkreten Fragen der künftigen Friedensordnung, über deren ideelle Grundsätze noch Übereinstimmung herrscht. Der heftige Druck der sehr realen Zielstrebungen — man spricht wieder von Sicherheit und Einflußsphären — könnte allerdings auch diese grundsätzliche Ubereinstimmung in Gefahr bringen. Zwangsläufig stehen sich also heute zwei Lager gegenüber, in die sich, einander mißtrauisch befehdend, die Großmächte gespaltet haben. Die Kluft der Weltanschauungen droht ständig größer zu werden und so ist es verständlich, wenn man nach verantwortungsbewußter Einkehr aller Großen ruft, weil sonst der eiserne Vorhang quer durch Europa sich für längere Zeit stabilisieren, daher dann auch unsere Besetzung durch fremde Truppen sich verlängern könnte mit dem üblen Gefolge der „Zonen“ und allen daraus sich ergebenden Einschränkungen unserer Freiheit und Unabhängigkeit, mit weiter anhaltenden Störungen und Hemmungen des Wiederaufbaues der Wirtschaft und Kultur unseres Landes.

Die Potsdamer Beschlüsse haben, wie es scheint, kaum dauerndes Recht schaffen können, sondern nur Ziele programmatisch festgelegt, ihnen verdanken wir auch das heikle und folgenschwere Problem des „deutschen Eigentum s“, dessen Lösung durch die Zwistigkeiten der Großmächte ebenso verzögert wird wie die d:r grundierenden Frage unseres künftigen Rechtsstatuts. Der Schaden ist sehr beträchtlich, den wir also durch diese Entwicklung erleiden. Dazu kommt die gar nicht von uns abhängende Frage der D. P.s, der rund 400.000 ausländischen Flüchtlinge, und auch die Nazifrage. Regierung und Parteien haben in sehr ernsthaften Arbeiten bewiesen, daß ihnen daran gelegen ist. das in Österreich besonders verwickelte Problem der Entnazifizierung nach den Grundsätzen menschlicher und christlicher Gerechtigkeit gründlich und endgültig zu lösen. Das Gesetz dürfte aber bisher infolge Einspruches nicht in Kraft treten, wodurch eine empfindliche, kaum mehr gutzumachende Verzögerung eingetreten ist. Kein Wunder, daß die etwig Unverbesserlichen und Unbelehrbaren unter den Nazis glauben, wieder Morgenluft zu wittern, und sogar ein anmaßendes Benehmen wieder an den Tag legen, das dem österreichischen Demokraten kaum mehr als tragbar erscheint. Dieser Umstand wird wieder manch-, mal, wenn auch mit Unrecht, gegen unsere internationalen Interessen ausgespielt, als ob es ns am guten Willen fehlte, während in Wahrheit unsere Hände gebunden sind.

In diesem Zusammenhange wollen wir fre:mütig eingestehen, daß wir selbst nicht ganzohne Mitschuld sind, wenn solch M'ßtrauen sich regen darf. Wenn auch h'sfor'- ' gerechte und politisch zutreffende Erklärungen für die innere Entwicklung der ersren Republik vorliegen, so soll offen gesagt werden, daC nach der Zerstörung der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht rasch und nicht allseitig und nicht konsequent genug von der grundfalschen gesamtdeutschen Lesart abgerückt wurde und daß man die Erziehung zum eigenständigen österreichischnationalen Bewußtsein nicht energisch genug gefördert hat. Gewiß konnte damals niemand voraussehen, daß eines Tages ein Hitler aufstehen würde Als er da war, wehrte sich Österreich zäh und tapfer. Daß aber vorher .diese Säumnisse bestanden, haben Hitler und die Großmächte, die uns im März 1938 die kälte Schulter, zeigten und hilflos dem Gewalttäter überließen, zu ihrer Verteidigung weidlich ausgenützt. Darunter hatten die. vielen, sicherlich die große Mehrheit unseres Volkes bildenden treuen Österreicher an Leben und Freiheit zu leiden.

Die Zwischenbilanz ist nicht sehr erfreulich, das ist wahr, doch ist es gut, die nackte Wahrheit zu sehen, dann ist schon der Tiefpunkt der eigenen Unsicherheit überwunden. Wir kennen'aber auch unsere Aktiva: nicht zuletzt den unzerstörbaren Lebenswillen' unseres Volkes, das Bewußtsein der Lebensfähigkeit,' des Eigenwertes, der wirtschaftlichen Tüchtigkeit und der Bedeutung für die menschliche Kulturgetneinschaft. Wir lassen uns gar nicht abhalten, mit gesammelter Kraft den Wiederaufbau fortzusetzen, mit unverzagtem Mute der mißlichen Gegenwart ins Auge zu schauen. In Vereine mit ler ganzen gesitteten Welt sagen wir der Vorsehung unseren Herzensdank für die

“.rlösung aus Versklavung und dämonischer Finsternis. Dieses Bewußtsein gibt uns die

:eghafte Zuversicht, die uns befähigt, das Malaise bekämpfen zu helfen, soweit es an uns liegt;

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