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„Audi in Demokratien - krankes moralisches Klima“

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Um es gleich vorweg zu sagen: Wir Menschen im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, vor allem aber die Angehörigen der jüngeren Generation, sind skeptisch und zurückhaltend, wenn von Patriotismus geredet wird. Pathetische oder erbauliche Vaterlandsparolen sind schäl geworden und emphatische Fahnensprüche sind nichts mehr als leere Worthülsen. Von Vaterlandsliebe heute zu predigen, muß angesichts der konfusen und kontroversen politischen Erfahrungen, zumal im Österreich der letzten fünf Jahrzehnte und angesichts eines unaufhaltsamen, wenn auch schmerzlich gestörten Prozesses des Werdens einer radikal neuen Welt, in der nationalen Enge und Selbstbeweihräucherung keinen Platz haben, anachronistisch erscheinen.

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Um es gleich vorweg zu sagen: Wir Menschen im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, vor allem aber die Angehörigen der jüngeren Generation, sind skeptisch und zurückhaltend, wenn von Patriotismus geredet wird. Pathetische oder erbauliche Vaterlandsparolen sind schäl geworden und emphatische Fahnensprüche sind nichts mehr als leere Worthülsen. Von Vaterlandsliebe heute zu predigen, muß angesichts der konfusen und kontroversen politischen Erfahrungen, zumal im Österreich der letzten fünf Jahrzehnte und angesichts eines unaufhaltsamen, wenn auch schmerzlich gestörten Prozesses des Werdens einer radikal neuen Welt, in der nationalen Enge und Selbstbeweihräucherung keinen Platz haben, anachronistisch erscheinen.

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Markierungen in die Zukunft Österreichs können keine roten Markierungen sein. Sie können auch nicht schwarze oder blaue sein, sie müssen in Idee und politischer Praxis die rotweißroten Farben tragen.

Eine solche Forderung hat nichts, aber auch schon gar nichts mit Pathos zu tun. Sie hat vielmehr die uns alle unmittelbar betreffende Relevanz, parteiliches Machtgehaben der Korrektur des gemeinsamen Staatsinteresses zu unterziehen.

Hungerprogramm am Nationalfeiertag

Soll etwa die Einrichtung des Nationalfeiertages nicht nur Alibicharakter haben und blutleere Konvention sein, dann müßte dieser Tag längst schon zum Tag der gemeinsamen demokratischen Bewußtseinsbildung geworden sein. Es ist dementgegen aber unbefriedigend und blamabel zugleich, daß man durch das offizielle Österreich diesem Tag den Stellenwertcharakter eines Fitneßtages gibt. Jedem engagierten Bürger dieses Staates kann sich da nur der Verdacht aufdrängen, daß entweder eine tiefreichende Lähmung des Österreichbewußtseins längst wieder Platz gegriffen hat oder daß gezielte Ignoranz vorliegt.

Fitneßmärsche, auch wenn dazu das Staatsoberhaupt per Rundfunk das Startsignal gibt, eine Sondersitzung des Ministerrates, ein paar Schulfeiern und offene Museen sind ein staatspolitisches Hungerprogramm, sind unwürdige Phantasielo-sigkeit und Verzicht auf die sinnvolle Aktivierung der sonst so oft strapazierten Bildungsgesellschaft.

Wir wollen nicht eine Nation von Fahnenschwingern zu den Klängen des Radetzkymarsches auf die Beine bringen, wohl aber sollte ein Tag gestaltet werden, der Rekreation unseres historischen wie zukunftbezogenen und staatstragenden Österreichbewußtseins ist. Immer wieder wächst eine junge Generation heran, die sich dieses Österreich erarbeiten muß, die aus eigenem Erleben und eigener Erfahrung den schmerzlichen und langen Prozeß zu einem bewußten und unwiderruflichen Bekenntnis zur Republik Österreich nicht kennen kann; junge Menschen, die aber nicht nur mit dem Verstand, sondern dem ganzen Empfinden erfahren sollten, daß der Zusammenbruch von 1918, das Verschwinden des großen Vielvölkerreiches für unsere Väter ein Sturz ins Bodenlose war, daß die Erste Republik, aus Verlegenheit geboren, zum Staat wi-

der Willen wurde, daß die Zweifel an der Existenzfähigkeit des kleinen Restes (wie man die Alpenrepublik bezeichnete) und nackte materielle Not die Bürgerkriegsgeschichte der dreißiger Jahre heraufgebracht haben, daß die tiefste Tragik dieser Jahre die Tatsache war, „daß die Patrioten der Ersten Republik keine Demokraten und die Demokraten keine Patrioten waren“, um den englischen Historiker Gordon Shepherd zu zitieren, daß schließlich der altdeutsche mythische Traum vom Reich den Namen Österreich ausgelöscht hat.

Oder kann und darf es einfach hin-

genommen werden, daß durch einen neuen Verkümmerungsvorgang an Vaterlandsbewußtsein die erstmalige echte und allen Lagern gemeinsame Freude an Österreich, wie sie 1945 aufkeimte und 1955 bei der Unterzeichnung des Staatsvertrages im Wiener Belvedere voll erblühte, aufs Spiel gesetzt wird? Nie und nimmer kann es diesem Land guttun, den Sinn des Nationalfeiertages darin zu erblicken, seinen Bürgern Gelegen-

heit zu geben, das Wohlstandsüber-gewicht herunterzulaufen, wenn der geistig-staatsbürgerliche Ernährungsnotstand fortschreitet.

Was heute in Österreich verdunkelt wird oder zumindest zu verblassen droht, ist nicht mehr und nicht weniger als das klare Wissen, daß mit dem neuen Österreich, mit der Zweiten Republik, der Weg eingeschlagen wurde von einem Staat wider Willen zum Staat, den jeder will. Die Beweislast, ob wir uns das leisten können, dürfte den Akteuren auf der politischen Bühne schwer werden.

Die materielle Besserstellung aller Menschen in diesem Land, die weitere Humanisierung und Demokratisierung, sie sind nicht identisch und können es nicht sein mit der Herstellung einer konsequenten sozialistischen Gesellschaftsordnung. Ist oder soll der häufig beschworene „Pluralismus“ nur ein praktikables Feigenblatt sein, soll er nur dann Geltung haben, wenn er gerade für ein Lager so etwas wie eine willkommene Philosophie ist? Nicht nur in Diktaturen, auch in Demokratien kann das moralische Klima krank sein. Und auch in Demokratien ist

die Ausübung von Macht eine Versuchung. Politische Reformen können auch zur Deformation werden, wenn dem gemeinsamen Haus des politischen Zusammenlebens weniger die Sorge gilt als der Adaptierung und Etablierung der eigenen Wohnung.

Wir haben heute in diesem Staat viel, ja sogar sehr viel zu verspielen, wenn nicht wieder eine Politik für das gesamte Staatsvolk gemacht wird. Oder kann es im Geist dieser Gemeinsamkeit sein, wenn man im Zug der Strafrechtsreform absolut unchristliche Rechts- und Wertvorstellungen einführen will, die einen wesentlichen Teil des Bundesvolkes vor den Kopf stoßen müssen? Das rotweißrote Vaterhaus wird zugig und ungemütlich! Man beginnt wieder, auf Grund sehr wandelbarer Mehrheiten politische und weltanschauliche Übervorteilungen zu betreiben!

Das Österreichbild in den siebziger Jahren und in Zukunft läßt keine Teildeutungen mehr zu. Weder solche aus schwarzen Machtansprüchen, noch solche aus längst überholten kornblumenblauen Schwärmereien, noch aus reideologisierten Rote-Nel-ken-Mentalitäten.

Aber wir müssen von dem reden, was die 1955 getroffene Grundsatzentscheidung, nämlich die Neutralität, heute verwässert, ja gefährdet. Die Welt muß sich aus jeder Richtung gesehen, in Ost und West, auf

das neutrale Österreich verlassen können. Darum ist es bedauerlich, daß auch hier Gefälligkeitspolitik getrieben wird. Wer die Öffentlichkeit aus wahltaktischen und werbewirksamen Überlegungen narkotisiert, treibt ein gefährliches Spiel. Eine überzeugende Verteidigungsbereitschaft und eine uns angemessene Wehrpolitik ist völkerrechtliche wie nationale Verpflichtung. Wahlversprechen und eine verfehlte Reformpolitik haben uns auf den Nullpunkt unserer Sicherheitsanstrengungen gebracht. Man stelle endlich diese Existenzfrage unseres Staates außerhalb des ParteienstreiteS! Man verzichte endlich darauf, die Sicherheit und In-tegritätswahrung unseres Staates zur Leimrute für Wahlstrategen zu machen! Österreichs Verteidigungspolitik ist keine Angelegenheit wild gewordener Militaristen oder eines atavistischen Zaubers der Montur. Sie ist nichts 'Geringeres als die humane Verpflichtung, diesem Land und seinen Menschen Konflikte und die Bedrohung an Leib und Leben und die Beraubung ihrer Freiheit zu ersparen.

Welche Kraft, welche Partei zeigt uns einen zeitgemäßen Weg zur Vaterlandsliebe, einen glaubhaften

Weg, einen, den alle Österreicher gemeinsam gehen können, der auch in gut österreichischer Tradition ein Weg der Weltoffenheit ist und nicht der nationalen Überheblichkeit? Die bange Frage soll nie gestellt werden müssen, ob wir Österreicher uns nicht wieder von der Straße entfernen, die uns zum Staat, den alle wollen, geführt hat.

Wie wollen keinen pseudosakralen Kult oder Chauvinismus, der uns Österreichern, Gott sei Dank, ohnedies immer wesensfremd war. Wir brauchen aber das Engagement innererer Bindungen an diesen Staat. Einer der beiden jüngsten österreichischen Nobelpreisträger, Konrad Lorenz, nennt in seinem neuesten Buch unter den acht Todsünden, die die Menschheit heute bedrohen, den Schwund aller starken Gefühle und Affekte durch Technokrate und Pragmatismus. Mit diesen Gedanken sollten sich heute alle Politiker dieses Landes ernstlich befassen. Es scheint, daß eine solche Überlegung, auch im Zusammenhang mit dem Aufbau eines modernen patriotischen Bewußtseins, sehr wesentlich und zu beherzigen wäre.

Wollen wir als geschichtsbewußtes Volk nicht abdanken und unserer von Quelle und Strom österreichischer Tradition zugemessenen Rolle nicht untreu werden, wie diese Hei-mito von Doderer mit dem einfachen Satz umrissen hat, daß unser Nationalbewußtsein immer übernational

war und bleiben muß, dann wagen wir endlich das Bekenntnis zur ganzen Geschichte Österreichs. Auch zu der vor 1918, zum habsburgischen Österreich. Das muß nicht die unkritische Glorifizierung und die retrospektive Sehnsucht nach dem Doppeladler sein, aber je entschiedener die Energie auf das wahrhaft Be-wahrenswerte gerichtet ist, um so größer ist das Quantum der äußeren Veränderungen, weil eben genügend Freiheit zur Neuformulierung der Tradition vorhanden ist.

Die Humanitas Austriaca war immer auf das Verbindende gerichtet, auf die Achtung der Selbständigkeit seiner Nachbarn, das Zusammenleben der Völker. Immer war ihr der Friede wichtiger als die Siege. Und der Verzicht, Siege bis ins letzte auszunützen, hat uns den Ruf mangelnder Größe und Leistungshärte ebenso eingetragen wie manches typisch österreichische Minderwertigkeitsgefühl. In einer großen Traditon stehend, haben wir das Geschenk eines neuen Staates als kostbares Gut für die Zukunft empfangen. Es muß uns gerade in unserem Land guttun, zu hören, was der polnische Philosoph Leszek Kolakowski über Wert und Sinn der Tradition zu sagen hat:

„Wenn ich mich gegen die Tradition erhebe, erhebe ich mich gegen einen Teil meines Erbes im Namen eines anderen Teiles oder gegen eine Tradition im Namen einer anderen Tradition. Der Kampf gegen die Tradition war immer ein Kampf im Namen einer anderen Tradition. Mögen sich auch die Teilnehmer dieses Kampfes täuschen, indem sie das, was sie der Tradition entgegenstellen, für freie Vernunft halten.“

In seinem berühmten Fastenbrief fragt Alexander Solschenizyn: „Warum ist Rußland heute der Herrlichkeit seiner Vorfahren beraubt?“

Wir verkürzen oder verstümmeln in Freiheit heute mutwillig und leichtsinnig unser Traditionsbewußtsein; wir im Wohlstandswesten hungern unsere Jugend in ihrem Geschichtsbewußtsein systematisch aus!

Und weiter sagt Solschenizyn den für österreichische Christen zu überdenkenden Satz: „Wir haben schließlich jenes lichtvolle Klima christlicher Moral verloren, das während tausend Jahren unsere Sitten, die Grundlage unseres Lebens, unseres Urteils, unseres Volkstums, ja sogar den Namen unseres Volkes geformt hat.“

In der Unfreiheit sprechen diese Menschen ihr Bekenntnis zu Geschichtlichkeit und Tradition aus und tun damit das, was bei uns in Freiheit vor lauter Wohlstandsdenken und Fortschrittseuphorie versäumt wird.

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