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Politische Kultur

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In "den letzten Wochen wurde hierzulande wenig gesprochen von einem sonst viel bemühten Thema: von der Kulturkrise. Man hatte Wichtigeres zu tun. Der Wahlkampf verklebte nicht nur die Litfaßsäulen, sondern auch die Portale und Fassaden ehrwürdighilfloser Bauwerke mit seinen Parolen, dröhnte aus Lautsprechern in stille Straßen, überflutete einsame Plätze mit Papierwellen und drang durch Presse, Rundfunk, alle Mittel der Massenpropaganda auf den Menschen ein. Eine Frage: Soll das Gift, das in ihm reichlich ausgegossen würde, weiterhin einströmen in den eben erst in Heilung begriffenen Volkskörper?

Wir wollen hier nicht von den Millionen Geldern sprechen, die im Verlauf dieses Kampfes beim Fenster hinausgeworfen wurden und von denen ein kleiner Bruchteil genügt hätte, diesem notleidenden wissenschaftlichen Institut zur Anschaffung dringend benötigter Instrumente und jener weltbekannten Persönlichkeit zur Publikation einer wissenschaftlichen Arbeit zu verhelfen. Wir wollen hier nicht näher die Tatsache untersuchen, daß unter den neugewählten Nationalräten die Zahl jener immer noch gering ist, die ein vital-persönliches Verhältnis zum Geistigen und Kulturellen besitzen, denen von Beruf und Berufung her die Pflege des Geistes, der Kultur eine Sache nicht gelegentlicher schöner Worte und Sentimentalitäten, sondern ein Gegenstand ist, ein Objekt, das wohl wert ist eines großen Kampfes — in der Öffentlichkeit, vor dem Forum der Nation, in ihrem Schoß selbst.

Wir wollen also hier nicht davon sprechen, daß der geistige Arbeiter, der Mann der Wissenschaft,’ Kunst und Kultur nach wie vor mit Sorgen dem morgenden Tag entgegensieht. Noch nicht. Eines aber wollen wir heute schon besprechen, was uns am Wahlkampf auffiel in den letzten Wochen: der Mangel an politischer Kultur.

Im Dröhnen der Schimpfkanonaden, sehr persönlicher Invektiven, der sehr pauschalen Generalverdächtigungen gegnerischer Parteien wurde wieder einmal ein später Sieg jenes dämonischen Monomanen offenbar, dessen Gestalt immer noch unsere Tage überschattet: nicht ob eigener und eigenständiger Größe, sondern einfach deshalb, weil sie wirkmächtigstes Symbol eines Zeitalters ist, das lange vor ihm bereits heraufkam. Das Zeitalter der Gehörlosen, der Sprachlosen. Das Zeitalter der Lieblosen.

Kultur, und gerade auch politische Kultur, beruht auf Fähigkeit und Wille, den anderen, den Gegner, den Feind zu hören, sein Wort anzunehmen, ihn in der ganzen Fülle seiner personalen und überpersonalen volkhaften, weltanschaulichen und ständischen Existenz zu ertragen, ihn mit hereinzunehmen in das eigene Leben, den eigenen Staat, den eigenen Kulturkreis. So und nicht anders ist Europa geworden: als ein Gespräch der Gegensätze. Als ein Agon, ein Wettkampf, ein gewaltiger Streit oft gewiß, aber und immer noch, und doch immer wieder: als ein Gespräch. Mochten die Waffen noch so laut lärmen, mochten die völkischen Gegnerschaften, mochten die Glaubenskriege noch so tiefe Wunden schlagen und Gräben aufwerfen, Wälle bauen, die unübersteigbar schienen — immer gab es etwas, was Schlachten, Gräben, Wälle, Denksysteme und Konfessionsgruppen übersprang, überflog, überwand. Und wenn es, beizeiten, auch nur ein kleines Lied war… Der Geist, der Geist Europas, des Abendlandes, konnte, wenn er sich nicht selbst aufgeben wollte, nicht darauf verzichten, das Gespräch zu suchen mit dem anderen, mit dem Feindbruder, mit Mann und Mensch der anderen Seite.

Die Wiege Europas, Hellas, wird zur Keimzelle des Abendlandes in einem intiminnigen Streitgespräch mit der kulturellen und politischen Übermacht des Ostens. Stärker .ioch als die Perser fällt Dionysos, der barbarische Gott, Griechenland, den griechischen Geist an — und mit ihm der Chor asiatischer Kulte: überwunden werden beide erst in der Annahme, Aufnahme und Verwandlung — in eben dieser primären Leistung der Kultur, die darin besteht, einen äußeren Kampf in einer tiefinneren Auseinandersetzung zu überwinden. Der Krieger wider die Ostmacht singt deren Tragik in unsterblichem Lied aus: die „Perser“ des Aischylos. Geburt der Tragödie aus erster gelungener, gültiger Zwiesprache mit dem Feind! — Im Mittelalter kämpfen die Kreuzzugsheere wider die Ungläubigen, wider die „heidnischen Hunde“. Gemetzel und Judenpogrome. Wechselvolle Kämpfe auf einer Front, die von Spanien über Südfrankreich, Italien, den Balkan und Nahen Osten die ganze Welt des Mittelmeeres erfaßt. Politische, militärische Siege und Niederlagen. Größer als sie beide ist aber das intime Gespräch, das in derselben Zeit Mönche, Gelehrte, Höflinge führen: aus ihm erwächst in Minnegesang, höfischer Kultur und Scholastik jene neueuropäische Kultur, die undenkbar ist ohne den Mittlerdienst eben jener „Ungläubigen“ der arabisch-jüdischen Welt, die Antike und Tradition östlicher Geistigkeit in treuer Hut verwahrt hatten. — Im Zeitalter der Glaubenskriege, im 16. und 17. Jahrhundert, berennen, sengen und brennen die Heere der konfessionellen Gegner wechselseitig ihre Lande. Lutherische foltern Jesuiten, Katholiken verbrennen Ketzer, Calviner enthaupten Angehörige beider erstgenannten Konfessionen. In dieser selben Stunde aber wird die großartige protestantische Schulkultur, wird im selben Raum eine Bürgerfrömmigkeit geboren, die undenkbar ist ohne Programm und Gestalt der Jesuitenschule, undenkbar ohne spanische und alte, deutschkatholische Mystik. — Im 19. und 20. Jahrhundert ziehen wieder die Heere der europäischen Völker gegeneinander. Nun ist das, was hier angezeigt werden soll, ganz offensichtlich geworden. In derselben Epoche, in denselben Jahren und Jahrzehnten, im selben Raum, in dem die Divisionen, Armeen, Flotten- und Bombengeschwader der „Feindmächte“ wider einander wüten, entsteht aus der gemeinsamen engverflochtenen Arbeit deutscher, eng-lischer, französischer, amerikanischer Gelehrter die neue Welt der modernen Naturwissenschaft, der Technik, der Beherrschung der Atomkraft. Selbst der verzweifeltste Versuch einer autarken Monokultur unserer Tage, das Dritte Reich, spielt Shakespeare und feiert ihn auf allen seinen Bühnen, während englische Bomber im deutschen Himmel hängen. — Und, nicht genug damit: während die Propagandatrommel der inneren, während das Trommelfeuer der äußeren Schlacht auf höchsten Touren läuft, beginnt unterirdisch ein ganz neues Gespäch der europäischen Völker — über Haß und Tod und Vernichtung des Tages hinweg. Ein Gespräch, für das dichterische Symbolkraft besitzt Vercors „Schweigen des Meeres“ im französischen und das Werk Stephan Andres’ im deutschen Raum.

Gehug. Es ist Zeit, daß wir selbst in unserer kleinen Welt die verpflichtende Kraft der großen Exempla anerkennen. — Kultur ist, wenn sie lebendig, wenn sie echt ist, immer Gespräch der Gegensätze. Eine echte, innere, innerliche, sehr intime Auseinandersetzung mit dem Gegner, dem Feind. Gehörlose, Sprachlose, die nicht die Kraft, die Liebeskraft besitzen, den Ton in Leben und Rhythmus des anderen zu hören, wirken verheerend, zerstörend im Raum der Kultur. Das gilt nicht zuletzt auch für die Politik.

Höffen wir, daß wenigstens die beiden großen Parteien die Zeichen des Tages verstehen und lernen wir selbst aus ihnen. Denn hier wurzelt zuletzt und einzig und allein und nicht nur im Politischen die österreichische Kulturkrise, die ein Teil ist der Krisis Europas. Wir drohen heute wieder in neuen Ghettowelten zu versinken. Da gibt es sozialistische, neben linksradikalen auch wieder nationalliberale und rechtsextremistische Kulturkreise, Ghettowelten. — In einer Lebenswirklichkeit, die zerfällt in Inselburgen, gesichert mit Wall und Graben, in einer Welt, in der keiner dem anderen Gehör schenkt, in der jeder sich ständig behaupten zu müssen glaubt nur in der Frontstellung wider alle anderen, in einer solchen Welt kann der Staatsbürger nicht vorwärtsschreiten, kann der Künstler, der Dichter, der Wissenschaftler, der arbeitssame Mensch nicht atmen, nicht schaffen: denn jeder ist auf das Gehör, auf die Anteilnahme einer Gemeinde, einer echten Gesellschaft von Menschen angewiesen. Die Isolierung unserer Dichter, die Einhausung unserer bildenden Künstler in esoterische Probleme, die Sterilität unserer Dramatiker und nicht zuletzt selbst die Spärlichkeit echter theologischer und pastoraler Neuansätze ruht auf dieser Tatsache. Es fehlt uns allen am Gehör, an der Aufnahmsbereitschaft für den anderen, den Gegner.

Der Wahlkampf 1949 hat dies wieder gezeigt, zu unserer schmerzlichen Überraschung. Auch jene Partei, die sich zur Hüterin abend- ländischerTradition und alteuropäischer Werte berufen fühlt, dokumentierte an manchen Plätzen — zu ihrem empfindlichen Schaden — im Gefecht schmerzlichen Mangel an jener politischen Haltung, die seit den Tagen der Clementia Austriaca, der österreichischen staatspolitischen Milde, mit zum wesentlichen Erbgut österreichischer Verpflichtung gehört. Diese Tatsache wurde nicht zuletzt offenbar in der ungehörigen und unklugen Diffamierung ihres großen Koalitionspartners als eines Wegbereiters, der „Volksdemokratie".

Die Lage ist zu ernst, um ein Spiel mit Worten zu gestatten. Auch nicht mit dem Begriff der Demokratie. Demokratie in Österreich muß ein Bekenntnis in Wort und Tat sein. Parlamentarische Zusammenarbeit soll für alle Parteien nicht nur auf einem Pakt beruhen, sondern-auf dem Bewußtsein gemeinsamer Verpflichtung und der Würde des gegenseitigen Verhältnisses. Die Wahlzeit ist vorüber. Jetzt tut Besinnung not: Besinnung der Parteien, der Politiker, jedes einzelnen Staatsbürgers. Besinnung auf jenes Gesetz, nach dem wir hier in Österreich angetreten sind zu einem Leben im Ertragen von Gegensätzen, zu einem tausendjährigen Wirken im Gespräch mit dem Gegner.

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