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Eine deutsche Begegnung

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Am 24. September 1952 ratifizierte das „Politische Komitee der Konferenz der jüdischen materiellen Forderungen gegen Deutschland" das zwischen Israel und Westdeutschland vor 14 Tagen in Luxemburg abgeschlossene Abkommen über die Entschädigung der Opfer des NS-Regimes. Die 23 größten jüdischen Organisationen der Welt haben sich damit zu einem Frieden mit Deutschland bekannt.

Friede zwischen Deutschland und Israel! Ein Wegmal von weltgeschichtlicher Bedeutung.

Schelling, Hegel und der alte' Goethe sahen in den zwanziger Jahren des so hoffnungsfroh anhebenden 19. Jahrhunderts mit „unendlicher Schwermut" der „neuen Zeit" entgegen. Sie befürchteten, daß das deutsche Volk den sehr großen Möglichkeiten und Versuchungen dieses aufsteigenden Zeitalters nicht innerlich gewachsen sein könnte. In diesem Bangen, das alle Sorgen Hebbels, Grillparzers, Nietzsches und Jakob Burck- hardts vorwegnahm, war eine Hoffnung eingeschlossen: daß die innersten und stärksten Kräfte des deutschen Volkes sich vielleicht erst ganz entfalten möchten, wenn dieses Volk über die ganze Erde hin ausgegossen würde, wie das jüdische Volk, in dessen Wesen, Geschichte und Schicksal die Heroen der „Deutschen Bewegung", wie Meinecke den Idealismus dieser Bürgerkultur nannte, ein engverwandtbs Phänomen zu erspüren glaubten.

Wenige Jahre später sieht Heinrich Heine in seiner unvergeßlichen Vision den deutschen Thor, den Gott eines urweltlichen Rasens, aus den ewigen Wäldern Germaniens aufbrechen und, wie splitternde Holzstäbe, die Bauten europäischer Zivilisation, des Humanismus, des Christentums und der Demokratie zerbrechen.

Kurz nach 1870 erscheinen Jahr für Jahr Programme deutscher „nationaler“ Parteien, die in ihren Forderungen gegen die Juden, zumindest auf dem Papier, weit über das hinausgehen, was selbst das Parteiprogramm der NSDAP enthält. Es empfiehlt sich heute, diese Programme nachzulesen.

Am Vorabend des ersten Weltkrieges, 1911, erscheint aus der Feder eines der ersten Gelehrten des Volkes der Dichter und Denker, Werner Sombart, ein sich wissenschaftlich gebärdendes Buch gegen das „Weltjudentum", das bereits damals als eines der ernstesten Zeichen der deutschen Situation erkannt wurde: die deutsche Wissenschaft begann sich vor dem Druck der Massen und ihrer Instinkte zu beugen; vor jenem Druck, dem im „finsteren Mittelalter“ so oft deutsche

Bischöfe, Könige, Kaiser und Fürsten Stand und Widerpart gehalten hatten.

„Was nachher geschah, ist bekannt.“

Die Annahme eben dieses Satzes als einer allen erwiesenen Tatsache führte nach 1945 zu jener Versteifung der Lage, die es auch optimistischesten Beobachtern als unglaubwürdig erscheinen ließ, daß jemals wieder eine echte Begegnung zwischen deutschem Volk und Judentum reifen könnte. Einem Großteil des deutschen Volkes war, trotz aller antisemitischen NS-Propaganda und darauffolgender alliierter Aufklärungspropaganda weithin unbekannt: a) Wesen und Artung des Judentums, und damit alle wirklichen Probleme, die sich im Judentenn und für sein Zusammenleben mit anderen Menschengruppen ergeben; b) das faktische Geschehen in der Lagerwelt und der Ausrottungspolitik des Dritten Reiches und c) die Mitverantwortung des deutschen Volkes und insonderheit des einzelnen Deutschen an diesem Geschehen. Die alliierte Entnazifizierungspolitik, ihre Umerziehungs-, Säuberungsprogramme, ihre ideologischen politischen Forderungen und massiven wirtschaftlichen Eingriffe taten das ihre, um diese großen Fragen zu einem Komplex zu verwirren, als dessen Er-

gebnis für breite Massen der deutschen Bevölkerung „feststand": ganz so unrecht hat Hitler mit seiner Judenpolitik nicht gehabt (das ist die mildeste Formulierung); jetzt sehen wir es selbst: sie wollen Deutschland liquidieren (meist unter Hinweis auf den Morgenthau-Plan und das Ja der Westalliierten zu den Zwangsaussiedlungen im Osten und S'id- osten); die Schauergeschichten von den KZ.s, den Gasöfen und Schindangern erzählen sie nur, um ihre Bombardierungen Dresdens, Hamburgs, Berlins und ihre Ausplünderung Deutschlands zu rechtfertigen.

In der Bunkerwelt, in den Baracken der Flüchtlinge, in den überfüllten Zügen, auf den Straßen der Umsiedler, in den dumpfen Gängen der Ämter, in den „Schlangen", der um Kohle und Bezugscheine sich rottenden Massen verzweifelter, zerlumpter, ausgehungerter Menschen konnte man in den Jahren 1945 bis 1948 die Meinungsbildung dieses neuen Haß- und Ressentimentkomplexes ebenso verfolgen wie in den Salons neuarrivierter Emporkömmlinge. Diesem Komplex auf deutscher Seite entsprach genau ein Komplex auf (west)alliierter Seite (und nur von dieser kann hier als Partnerschaft die Rede sein): die Position des Siegers, seine politischen und wirtschaftlichen Aspirationen verschmolzen mit ideologischen Fixierungen, die den Blick oft gefährlich trübten. Im Bewußtsein, von Gott oder der Geschichte zum Richter erwählt zu sein über jede physische und metaphysische Schuld Deutscher, Deutschlands und des deutschen Volkes, entsprang hier jenes Ressentiment, das in jeder instinktiven Abwehr-, auch Verteidigungsstellung deutscher Menschen und Repräsentanten ein gefährliches Aufflackern altnazistischen Geistes, in jedem zu Sturz gekommenen jüdischen Grabstein eine Schändung des jüdischen Volkes und in jeder Ablehnung westlicher Demokratisierungsmaßnahme einen • Ausbruch hemmungslosen Antisemitismus „erkannte".

'Die harte und einfache Wahrheit blieb oft beiden Partnern einer neuen Not- und Schicksalsgemeinschaft verborgen: mangels echter Aufklärung war „der Jude" wieder einmal zu einem Fetisch geworden, zur Deck-Figur unerlöster volkhafter Ängste, Existenzsorgen. Mangels echter innerer Neu-Bildung, im Geist und in der Seele, vermochten die Massen der deutschen Bevölkerung nicht einzusehen, wie tief der Kreuzweg der Juden in Deutschland zusammenhing mit dem Kreuzweg des eigenen Volkes, mit

Not, Schuld, Verführung, Verblendung, Überhebung, Geistenge und Herzenshärte.

Abhilfe konnte und kann hier nur eines schaffen, ein Mittel, das in seinen weltberühmten Fastenpredigten bereits der große Kardinal von München mitten im Dritten Reich angezeigt hatte: eine innerste Umkehr, im Wesenskern des „alten Menschen", so lange, bis dieser, wiedergeboren, den neuen Blick hat, und nun Welt, Umwelt, und das heißt hier, den Juden und sich selbst, neu sieht. Diese Aufgabe nahmen in den letzten Jahren eine Reihe christlicher Gruppen, Gründungen, Gesellschaften und Einzelpersonen auf sich, neben ihnen die Restbestände altliberaler deutscher Humanität. Es wäre hohe Zeit, das Hohelied dieser demokratischen, dieser christlichen Resistance in Deutschland in den Jahren 1945 bis 1952 zu singen. Wir scheuen nicht, hier offen auszusprechen: Wenn je wieder eine echte politische, staatsbürgerliche, europäische Substanzbildung im Volk der Mitte gelingt, dann schuldet sie es diesen Gruppen und Personen, die befehdet, verlacht, bekämpft und verspottet, zumindest mißverstanden — wie tödlich aber sind Mißverständnisse in dieser Dimension! — es wagten, gegen alle Seiten hin, für eine neue Begegnung zwischen Deutschen und Juden einzutreten. Hier wären zu nennen: der „Deutsche evangelische Ausschuß für den Dienst an Israel", der Freiburger katholische christlich-jüdische Arbeitsausschuß mit seinen „Funkbriefen zur Förderung der Freundschaft zwischen dem alten und

dem neuen Gottesvolk im Geist beider Testamente“; Appelle von Katholikentagen und evangelischen Synoden gegen das Wiedererwachen des Antisemitismus; zehn Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (die erste in München 1947); von akonfessionell-humanistischer Seite die Lessing-Gesellschaft. Wenn diese Arbeit bereits 1950 51 in einer „Woche der Brüderlichkeit", dann 1952 in der Olbaumspende für Israel aufklingen konnte, dann dankt sie dies dem wahrhaft rücksichtslosen opferbereiten Einsatz deutscher Dichter, Intellektueller und Studenten, die keine Mühe, keine polizeiliche Mißhandlung (wie zum Beispiel in Freiburg), keine Diffamierung scheuten, um gegen Massenwahn, Lethargie, Kollektivressentiment und Gruppenegoismus ęiner Begegnung zwischen Judenschaft, Judentum und deutschem Volk ein Tor aufzusprengen. In diesem Zusammenhang muß ehrend der tapferen Haltung christlicher und gerade auch katholischer Verlage gedacht werden; ihren Neuausgaben jüdischer Konvertiten, wie Newman und Edith Stein, ihrer Aufgeschlossenheit für jüdische Dichter und Denker; zur Seite stehen ihnen hier Zeitschriften der akonfessionellen humanistischen Welt. Ja, es ist heute, 1952, so, daß, wer wirklich eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Jünger, Heidegger, C. G. Jung usw. lesen will, zu den Aufsätzen von Juden (Buber, Löwith) in deutschen Zeitschriften greifen muß.

Das ist viel, fast ungeheuer viel, wenn man bedenkt, wie tief wir alle noch in den Zeitläuften kollektiver Ängste und Beklemmungen verhaftet sind; jeder, der um sich blickt; weiß: kein Haß, kein Vorurteil, kaum eine Blicktrübung von gestern ist noch ganz überwunden, und schon melden sich neue Gefährdungen an.

In diesem Sehwinkel betrachtet, gewinnt der staatspolitische Friedensschluß zwischen der Bonner Bundesrepublik und Israel Perspektiven, die wahrhaft hinausweisen in jene eine Welt der Freiheit, des Friedens und der Menschlichkeit, die heute so viele mit den Lippen bekennen und mit den Taten verraten.

Wie groß die innerdeutsche Aufgabe ist, hat keiner deutlicher ausgesprochen als Romano Guardini, der Friedenspreisträger dieses Jahres, in einer Münchener Universitätsrede anläßlich

einer Sammlung für die Olbaumspende, abgedruckt in der letzten Nummer des „Hochlands", die ganz diesem Grundproblem gewidmet ist. Guardini geht es darum, „aufmerksam zu machen, daß in der Geschichte unserer letzten 20 Jahre etwas Ungeheuerliches steht, das noch vollkommen unaufgearbeitet ist. Das ist so, ob man will oder nicht. Was immer gesagt und getan wird, um es zu leugnen oder zur Bagatelle zu machen oder gar zu rechtfertigen, ist nur Symptom für den Tiefgang des Ge

schehenen. Es ist Schuld. Es lastet auf dem Gewissen des Volkes, dem bewußten oder dem unbewußten, dem Lebensgewissen, und verlangt Bereinigung. Darüber hinaus ist es aber im abendländischen Raum das erste Vorbild jener furchtbaren Möglichkeit, welche über der kommenden Geschichte hängt. So ist es eine Warnung.' Weichen wir der Warnung aus; suchen wir, das Geschehene in der Vergangenheit und Vergessenheit versinken zu lassen — dann wird es zum Trauma im Gemüt des Vol

kes; das heißt aber, unser aller. Und zu einer Form, wie künftig in unserer Geschichte die Dinge getan werden."

Goethe, Hegel, Schelling sahen doch recht: in der Begegnung Zwischen Deutschen und Juden wird etwas sichtbar von den ersten und letzten Dingen des Menschen, in seiner Beziehung zu Gott und Teufel, zum Nächsten, zum Du, zum Selbst. Alle Kräfte des Heilenden sind hier aufgerufen

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