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War Hitler „groß

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„Der ordinärste kleine Hund, dem ich je begegnet bin.“

Dies behauptete der britische Premierminister Chamberlain während der sogenannten Sudetenkrise nach einem Besuch bei Hitler auf dem Berghof oberhalb von Berchtesgaden. Der Ausspruch charakterisiert die eigenartige Überheblichkeit des verantwortlichen britischen Premierministers dieser Zeit, der mit dieser Formulierung deutlich zum Ausdruck brachte, daß der deutsche Diktator, der drei Jahre vorher beim sogenannten Röhm-Putsch seinen bisherigen engsten Freund und hunderte Anhänger ebenso wie völlig Unbeteiligte gegen Recht und Gesetz kaltblütig ermorden ließ, in seinen Augen nicht viel gefährlicher war als andere Leute mit schlechtem Benehmen. Die Weltfremdheit des britischen Premierministers kam ein halbes Jahr nach seinem ersten Zusammentreffen mit Hitler, nämlich nach der Godesberger Konferenz, in der“aTe Tschechoslowakei verhökert wurde, noch einmal schlagend zum Ausdruck, als er mit seinem beruhten „Peace for our time“ noch immer daran glaubte, daß das nationalsozialistische Deutschland eine Macht sei, mit der man Verträge schließen könne. Die Antwort, die Winston Churchill ihm damals darauf gab: „Wir haben eine totale, eine umfassende Niederlage erlitten“, war zwar deutlich, aber ebenso vergeblich.

Es zählt zu den faszinierenden Darstellungen des großen Werkes von Joachim C. Fest über „Hitler“, wie die Welt von damals den Nationalsozialismus beurteilte. Unbekümmert um das, was sich seit 1933 in Deutschland abspielte oder besser gesagt was sich seit dem 30. Jänner 1933, dem Tag der „Machtergreifung“, in den deutsehen Konzentrationslagern und Gefängnissen ereignete, glaubte man, im Deutschen Reich eine zwar nicht gerade besonders sympathische, aber doch den allgemeingültigen Zivilisationsbegriffen entsprechende Macht zu sehen, der man in den Ehrbegriffen der zivilisierten Welt gegenübertreten und mit der man vor allem Verträge schließen könne. 1936 huldigte man bei den Olympischen Spielen in Berlin dem deutschen Staatsoberhaupt in unverblümter Form und bewunderte alles, was mit Organisation und Disziplin zusammenhing. Man bewunderte die Ordnung und vergaß die Freiheit! Dabei war es schon damals gar nicht so schwierig, die wahren Absichten Hitlers und seiner Kumpane zu erforschen. Man hätte schon vor dem Mordexzeß vom 30. Juni 1934 wissen können, was wirklich gespielt wird, hätte man „Mein Kampf“, die Bibel der Deutschen in dieser Zeit, oder die zahllosen Reden Hitlers nachgelesen, die er seit 1921 gehalten hat. Aber wie viele haben es getan? Der später in Nürnberg zu 20 Jahren Kerker verurteilte Rüstungsminister Speer selbst erklärte als Zeuge in eigener Sache vor dem Nürnberger Tribunal, daß auch er „Mein Kampf“ nie gelesen habe. In seinem Buch „Erinnerunigen“, an dem auch Joachim C. Fest mitgearbeitet hat, schrieb der Autor im Zusammenhang mit dem 30. Juni 1934: „Ich und viele andere griffen gierig nach Entschuldigungen und erhoben,was uns noch zwei Jahre zuvor irritiert hätte, zur Norm unserer neuen Umwelt.“ Es war die „neue Umwelt“, die weder Chamberlain noch auch viele andere — so zum Beispiel Mussolini — begriffen und damit jenen Teil der Schuld am Kommenden auf sich luden, den immer die zu tragen haben, die — sei es aus Dummheit, Blindheit oder auch bösem Willen — nicht begreifen konnten oder wollten, worum es sich beim Nationalsozialismus wirklich handelte.

Es ist das große Verdienst von Fest, in seinem. Werk über Hitler all das aufgezeigt und ausgeleuchtet zu haben, was den Nationalsozialismus ausmachte, und vor allem die Gedanken und Ideen aufzuzeigen, die diesen Hitler von Jugend auf erfüllten, der wie kein zweiter in der Weltgeschichte nicht nur weiteste Kreise des deutschen Volkes, sondern auch andere in einer Weise zu faszinieren vermochte, die heute nicht nur unverständlich, sondern in vielen Belangen absolut lächerlich winkt.

J. C. Fest stellt an die Spitze seines Werkes die Frage, ob man Hitler „groß“ nennen könne, und versucht eine Antwort mit dem doppelten Hinweis, daß zur Größe eines Menschen nicht nur Macht, sondern auch Moral gehöre und nur dann einem Menschen Größe zuzubilligen sei, wenn von ihm auch nach seinem Tode etwas Verehrungswürdiges oder doch Bewundernswertes übrig blieb. Von Hitler blieb nicht einmal ein Rest seiner Gigantomanen-Bau-werke, die — soweit sie nicht durch den Krieg ohnedies zerstört — nachher geschliffen wurden.

Das Werk von J. C. Fest ist mit seinen 1190 Seiten so umfangreich, daß es sich einer üblichen Rezension entzieht. Es seien daher im nachfolgenden nur einige Hinweise herausgegriffen. Zunächst was uns Österreicher an diesem Buch besonders interessiert: Dies ist auch jener Teil, an dem eine echte Kritik am Platz ist, weil der Autor gerade die Österreich betreffenden Quellen — im Gegensatz zum übrigen Inhalt des Buches — nur oberflächlich und mit offensichtlicher Flüchtigkeit zu Rate gezogen hat, so daß ihm einige Irrtümer unterliefen. So zum Beispiel, wenn er von den antisemitischen Strömungen der Christlichsozialen Partei unter Lueger berichtet, die mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus nicht verglichen werden können. Hier hätte zum Beispiel das berühmte Wort Luegers: „Wer ein Jud' ist, bestimm' ich“', zitiert werden müssen. Man kann also den österreichischen, vor allem den Wiener Antisemitismus dieser Zeit kaum eine Wurzel des nationalsozialistischen Antisemitismus nennen. Ebenso fehlt eine Würdigung des Wiener Kulturlebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das zu einem hohen Prozentsatz von jüdischen Künstlern, Dichtern und Intellektuellen getragen wurde.

Fast zur Gänze unterschlägt der Autor den österreichischen Abwehrkampf gegen die Nationalsozialisten. Die „Vaterländische Front“ wird mit keinem Wort erwähnt! Unrichtig sind auch einige Details, wie etwa die Behauptung, daß die Putschisten vom Jahre 1934 an Deutschland ausgeliefert und von Hitler wieder nach Österreich zurückgeschickt wurden. Wohl verlangte der damalige deutsche Botschafter in Wien ihre Überstellung nach Deutschland; dies wurde jedoch strikt abgelehnt. Unrichtig ist auch die Darstellung der unmittelbar nach dem 11. März 1938 von der SS in Österreich vorgenommenen Verhaftungen, wenn behauptet wird, daß es sich dabei vornehmlich um Juden gehandelt habe. In den ersten Wochen nach dem „Anschluß“ wurden rund 6000 Personen verhaftet, unter denen sich vor allem die Funktionäre der Vaterländischen Front und nur ganz wenige Juden befanden. Die großen Judenverhaftungen erfolgten bekanntlich erst viel später. Auch daß Schusch-nigg schon in dieser Zeit nach Dachau gebracht wurde, ist falsch. Der österreichische Bundeskanzler stand zuerst einige Zeit unter Hausarrest, bevor er verhaftet wurde, und kam erst 1945 nach Dachau. In der Zwischenzeit befand er sich in Sonderhaft im Konzentrationslager Buchenwald. Auch unterläßt es Fest, die tatsächliche Verteilung der politischen Strömungen in Österreich richtig zu charakterisieren. Er hätte darauf verweisen müssen, daß nach unbestrittenen Schätzungen der nationalsozialistische Teil der österreichischen Bevölkerung mit nicht mehr als 20 bis 30 Prozent anzusetzen war, wobei es natürlich unbestritten bleibt, daß es sich um eine sehr aktive Gruppe handelte. Auch das Datum der dann durchgeführten Volksabstimmung ist unrichtig. Sie fand nicht am 16. März, sondern am 10. April 1938 statt.

Sieht man von diesen offensichtlichen Irrtümern des Autors ab, so ist das Werk von Joachim C. Fest die umfassendste Darstellung des Nationalsozialismus, die je geschrieben wurde und die trotz ihrer ausgesprochen wissenschaftlichen Akribie nicht nur für den an der Zeitgeschichte interessierten Zeitgenossen, sondern auch für all jene lesenswert ist, denen Hitler und seine Zeit nur mehr ein Teil zurückliegender Geschichte bedeutet. Es ist schon auf die katastrophale Fehleinschätzung des Phänomens Nationalsozialismus verwiesen worden. J. C. Fest schildert in aller Dramatik, wie sie den Ereignissen dieser Zeit auch entspricht, in hervorragender Weise die Umkehr der Weltmeinung gegenüber dem Deutschland von damals, indem er zum Beispiel selbst dem unglücklichen Chamberlain den Zusammenbruch seines Aberglaubens historisch getreu zubilligt. Am 17. März 1939 spricht der britische Premier in einer Rede in Birmingham zum erstenmal von seiner „schwereren Erschütterung denny, jHämj^wWld^jAal reichen Wortbruche; ehe*- in der Ak-' tion gegen Prag eingeschlossen seien, und fragt, ob „dies das Ende eines alten Abenteuers oder der Anfang eines neuen“ sei. Natürlich war es nicht Chamberlain allein, dem. der geschichtliche Irrtum seiner Fehlkalkulation unterlief. Wie grotesk sich das Bild der Welt in den Gehirnen von ehrenwerten britischen Staatsmännern damals abzeichnete, zeigt ein anderes Detail. Lord Runciman, der außenpolitische Berater der britischen Regierung, erklärte zum Beispiel nach der Abtretung des Sudetenlandes in aller Öffentlichkeit, es werde sicherlich vom Oberbürgermeister von London eine Spendenliste für die Verfolgten aufgelegt werden, „in die er sich dann eintragen wolle“.

Wie in keiner anderen bisherigen Darstellung dieser Zeit versteht es Fest, die von Anfang an bestehenden Kriegsabsichten Hitlers darzulegen, dessen oberstes Ziel die Eroberung Rußlands war, ein Ziel, das natürlich nur durch Krieg zu erreichen war. Hitler war jede politische Lösung irgendeines Problems suspekt. Noch am 29. August 1939, als sich die britische Regierung zu Verhandlungen über das Problem Danzig und den polnischen Korridor bereit erklärte,war er über diese versuchte politische Kapitulation der britischen Regierung wütend, weil sie den Krieg gegen Polen verhindern sollte. Hitler sah die Verwirklichung seiner Ideologie, nämlich „die Reinigung des deutschen Volkes“, nur möglich, wenn er dieses deutsche Volk durch einen Krieg führte, in dem die Jugend bluten mußte. Noch im Frühjahr 1945 gab er dem Verbindungsmann des Auswärtigen Amtes in seinem Hauptquartier, Botschafter He-wel, auf die Aufforderung, die letzte Möglichkeit einer politischen Intervention zu nutzen, die Antwort: „Politik? Ich mache keine Politik mehr, das widert mich an.“ Aus diesem unbedingten Willen zum Krieg, den der deutsche Diktator nicht nur als die Voraussetzung für die machtmäßige Ausbreitung des Deutschen Reiches ansah, sondern — wie eben erwähnt — für eine moralische Notwendigkeit hielt, ergab sich auch zwangsweise die Siegeszuversicht, die nicht nur dem deutschen Volk aus propagandistischen Gründen eingehämmert wurde, sondern von der Hitler selbst auch noch lange nach Stalingrad erfüllt war; zu einer Zeit also, da selbst radikalste Nationalsozialisten an einem Sieg zu zweifeln IS* .#ies£v ..Siegeszuversicht ielt bei'Hitler noch bis 1944 an und verwandelte sich nach dem mißglückten Attentat in das Trauma seiner Auserwähltheit, die durch die Ereignisse vom 20. Juli 1944 neuerlich schlagend bewiesen worden wäre. Erst als es sich zu Ende des gleichen Jahres immer häufiger herausstellte, daß die Divisionen, ja ganze Armeen des deutschen Heeres den aus dem Führerhauptquartier vom „größten Feldherrn aller Zeiten“ gegebenen Befehlen nicht mehr nachkamen, weil es diese Divisionen und Armeen gar nicht mehr gab, verkehrte sich die Siegeszuversicht des „von der Vorsehung berufenen Führers“ in den Wunsch nach einem allgemeinen Weltuntergang; einer jener Wesensmerkmale Hitlers, die ihn seit eh und je charakterisierten. In Hunderten seiner Reden sprach er immer wieder von „Sieg oder Tod“, und nun, da die Siegeszuversicht bei bestem Willen nicht mehr zu beweisen war, forcierte er den Tod des deutschen Volkes, das weiterzuleben nicht würdig war, wenn er, der Auserwählte, zugrunde gehen mußte. Hier kam die Schizophrenie seines Denkens zu voller Wirkung, die sich schließlich bis zu paranoiden Wahnvorstellungen eskalierte. Es ist nicht uninteressant, daß J. C. Fest immer wieder auch in diesem Zusammenhang auf den Einfluß hinweist, den das Werk Richard Wagners auf Hitler hatte. Die „Götterdämmerung“ gehörte zu seiner Weltanschauung. Nicht zufällig brachte die Berliner Oper als letztes Werk vor dem Zusammenbruch die „Götterdämmerung“ zur Aufführung. Diese Untergangsweltanschauung wurde auch von jenem Teil aus Hitlers unmittelbarster Umgebung geteilt, der durch Bormann, Goebbels, Ley und andere repräsentiert wurde. Zu welch grotesken Auswüchsen das alles führen mußte, zeigt deutlich die Szene, die sich anläßlich des Todes von Roose-velt am 12. April 1945 im Führerbunker abspielte, als Goebbels mit dieser Nachricht die wahnwitzige Feststellung verband, daß nun die Wende des Schicksals gekommen sei. Wie weit die geistige Verwirrung damals schon fortgeschritten war, war auch daraus zu entnehmen, daß der deutsche Propagandaminister diese nur einem völlig zerrütteten Gehirn entspringende Behauptung mit großem Aufwand veröffentlichen ließ.

J. C. Fest schildert in seinem Buch auch ausführlich die propagandistischen Wirkungen der nationalsozialistischen Politik. Wie weit eine jahrelange und einseitige Propaganda zu wirken imstande ist, haben die Zeitgenossen ja selbst erlebt. Ebenso wie man feststellen konnte, daß paradoxerweise auch dem Terror propagandistische Wirkungen zuzusprechen sind; eine Erkenntnis, der sich auch Hitler lange vor der Machtergreifung verschrieben hatte. Terror erzeugt nicht nur Angst bei den davon Betroffenen, sondern auch das Gefühl der Macht bei all jenen, die deri Terror ausüben oder von ihm als Parteigänger der Terroristen nicht betroffen werden. Anders war es nicht zu erklären, daß sich rund 100.000 Menschen bereitfanden, als Angehörige der Totenkopfverbände der SS mit Wollust und nicht zu überbietendem Sadismus die Henkersknechte des Systems zu spielen. Aus Propaganda, Terror und schließlich aus Kriegsnot ergab sich aber auch die Reaktionslosigkeit, mit der andere Menschen die umlaufenden Gerüchte entgegennahmen, die über die Greuel der deutschen Vernichtungslager hinter vorgehaltener Hand erzählt wurden. Sicherlich hat die Mehrzahl der Deutschen von dem Geschehen in Auschwitz, Maidanek, Dachau usw. nicht alles gewußt. Daß es dort aber schrecklich sein müsse, war immerhin bekannt.

Es ist nicht verwunderlich, daß über Hitler nun schon zahlreiche Bücher geschrieben wurden. Ein Mensch, der die Welt so bewegte wie er, muß Gegenstand zeitgeschichtlicher Beschreibungen sein. Dies um so mehr, als die Geschichte keinen kennt, der so viel Unglück über die Menschheit gebracht hat wie Adolf Hitler. Aus dieser umfangreichen Literatur ragen nun zwei Werke hervor: Die schon erwähnten „Erinnerungen“ von Speer und das große Werk von Joachim C. Fest. Es wird sich als zweckmäßig erweisen, vielleicht in einer zweiten Auflage, •die' ei-wäÄnten 'FDJler auszubessern. Darüber hinaus aber erscheint es mir, daß mit den beiden erwähnten Werken, vor allem mit dem von Fest, nun alles gesagt wurde, was über diese Zeit und diesen Mann gesagt werden kann und muß. Der „Hitler“ von Joachim C. Fest gibt Auskunft und Antwort auf die Fragen dieser schrecklichen Zeit, die wir als Zeitgenossen, aber auch kommende Generationen darüber stellen. Ob die Menschheit aus dieser Geschichte lernen wird, vermag niemand zu beantworten. Wer aber das Werk von Joachim C. Fest gelesen hat, muß wenigstens daran glauben, daß sich so etwas nicht mehr wiederholen kann.

HITLER. Von Joachim C. Fest. Propyläen-Verlag, Berlin. 1190 Seiten, 74 Bildseiten.

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