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„Herz, trommle zornig Alarm!“

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I

Wie bitte? Haben wir das nicht schon! irgendwann einmal, vielleicht vor nichti allzu entfernten tausend Jahren gehört?; Oder erinnere ich mich nur jenes Gen sprächs mit dem Landessekretär desj Kulturbundes zur demokratischen Er- neuerung Deutschlands in Sachsen, einem überzeugten und konsequenten Kommun nisten, nebenbei einem der untadeligsten! und saubersten Menschen mit echtem, gütigem Herzen, den ich je kennengelernt’ habe, der mir einmal ein Liederbuch der Hitlerjugend vorlegte und auf eine Zeile’-ähnlichen Inhalts (vom „ausgespannten Herzen“ und dem „Trommler Tod“) wies und dabei sagte: „Sehen Sie, das ist das: größte Verbrechen, das je an einer Jugend begangen wurde!“ Nein, nicht aus diesem HJ-Liederbuch stammt der zündende Vers vom Alarm trommelnden Herzen, sondern aus einer Nummer der kommunistischen Jugendzeitschrift aus Ost-Berlin vom Mai 1952. Und der Verfasser heißt weder Baldur von Schirach noch Hans Baumann, sondern Armin Müller und ist ein durchaus linientreuer Kommunist. Wie damit unser Kulturbundsekretär zurecht kommt, ist seine Sache. Wir haben es hier mit dem Phänomen der freien, der westlichen Welt zu tun, die sich nun, da sie aus dem rätselhaften kommunistischen Osten solche und ähnliche Töne hört, gar nicht fassen kann vor Staunen, billiger Witzelei (so sprach man auch einst in den Wiener und Prager Kaffeehäusern von diesem komischen Herrn Hitler) und Kopfschütteln über den allso entarteten Kommunismus, dessen Erscheinungsbild man sich in den zwanziger Jahren einprägen ließ. Die meisten Menschen stehen völlig perplex vor dem plötzlich losgebrochenen Wetter in Ostdeutschland, das sich nun in Kleinkaliberschießen, Wehrsport, Freiwilligenmeldungen, Kampfeinsatzmeldungen von Mädchen, „Gott - strafe - England“ - Gesängen oben geschilderter Art (natürlich ohne die Vokabel „Gott“) entlädt. Und wenn sogar heute der „nationalliberale“ Volkskammerpräsident Dieckmann es nicht verschmäht, die Nachfolge des Gauleiters Koch und seines Meisters anzutreten und bei einer Großkundgebung auszurufen: „Volk steh auf und Sturm brich los!“, dann versagen sämtliche Kompaßnadeln faschistischer Ein-Nordung in der Hand alter westlicher Politiker. Die einen flüchten sich, wie gesagt, in hämisdie Glossierungen, die andern beschwören das illusionäre Leitbild eines gedachten Salonkommunismus, der durch solche Töne „verraten“ wurde, und die ganz Gescheiten lehnen sich mit geschlossenen Augen im Sessel zurück, klopfen im Takt mit dem Fuß auf dem Boden und zitieren den dichterischen „Vorahner“ des Faschismus in Thomas Manns „Doktor Faustus“ den steilen Literaten Daniel Zur Höhe: „Das kommt, das kommt…“

II.

All diese Reaktionen, die sehr dem des Kaninchens vor dem Schlangenblick ähneln, könnten erspart werden, wenn man sich nüchtern einige Tatbestände einprägen würde. Sie lauten etwa folgendermaßen: Der Marxismus-Leninismus, als die einzig gültige und alle Lebensäußerungen beherrschende Staatsdoktrin der gesamten Ostwelt im Einflußbereich des Kreml war weder in seiner trotzki- stischen, noch in seiner stalinistischen Ausprägung pazifistisch, noch ist er es, noch wird er es jemals sein. Das genaue Studium der klassischen Schriften seiner führenden Theoretiker erhellt das durchaus. Mit dürren Worten sagt das/Lenin selbst in einer Botschaft an den Stockholmer Friedenskongreß während des Weltkrieges: „Wir sind durchaus nicht gegen jeden Krieg.“ Und Majakowskij, der genialste Dichter der Sowjetära, ruft am Ende seines Oktoberpoems „Choro- scho“ mit feurigen Versen geradezu auf „zum letzten Krieg, dem einzig gerechten Krieg von allen Kriegen der Weltgeschichte“. Dabei wird aber der „gerechte Krieg“ nicht im Sinne komplizierter scholastischer Kasuistik mit Notstand und „Levėe en masse definiert, sondern es ist ein integraler Bestandteil der marxistisch - leninistischen Denkweise, den Krieg als eine bestimmte Form des alles beherrschenden Klassenkampfes anzusehen, gegebenenfalls als ein Instrument in den Händen der unterdrückten Klasse. In diesem Zusammenhang berührt es also nicht überraschend, und keinesfalls als der nur mit Kopfschütteln an der Seine, •wie an der Themse, wie am Rhein und an der Donau zur Kenntnis genommene „Kurswechsel“ der Sowjets, als sie zur Bildung einer Nationalarmee aufforderten und sie de facto in ihren voll bewaffneten Kaders in der Ostzone auch schon gebildet haben. Wir haben erlebt, mit welcher Schnelligkeit die spontanen Transparente „Nie wieder Krieg“ von alten Genossen in den Maitagen 1945 entrollt, auf Parteibefehl verschwinden mußten, um der infernalisch doppeldeutigen Losung „Krieg dem Kriege“ Platz zu machen. Gewiß, Kurt Tucholsky hat vor urdenklich langen Jahren einmal ein zündendes Gedicht geschrieben, an dessen Ende die Worte standen „Nie wieder Krieg“; gewiß, Amo Holz, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, vor allem aber auch Karl Kautsky, hatten leidenschaftlich gegen den Krieg geschrieben, und sie hätten auch die reservatio mentalis des „gerechten Angriffskrieges für die richtige Sache“ empört als das zurückgewiesen, was sie in jedem Falle ist: eine unverschämte Heuchelei. Aber inzwischen sind eben die Zeiten andere geworden. Und man kann ihnen allen die sachliche Feststellung nicht ersparen, daß die von ihnen mit soviel Leidenschaft und persönlichem Einsatz vertretenen Ansichten eben nicht der echte Marxismus-Leninismus waren, jener Marxismus, der mit Franco Handelsbeziehungen anknüpfte und die demokratische Sache in Spanien im Stiche ließ, der mit Hitler über die Teilung Polens schacherte und die deutsche Rüstung mit Getreidelieferungen versorgte, während der Kommunistenführer Ernst Thälmann im KZ umgebracht wurde, jener Kommunismus, der aber alle diese Handlungen mit eiserner Logik aus seiner hegelianischinnerweltlichen Moral herleiten kann und das Recht hat, über undialektisch denkende Hitzköpfe und Ideologen, mögen sie auch noch so begeistert sein, achselzuckend zur nächsten Antithese überzugehen.

III.

Darf man sich also bei klarer Prüfung der Tatsachen schon in der Bewertung des einen Elements, das heute in hochexplosiver Mischung in der deutschen Ostzone vorhanden ist, keiner unberechtigten Überraschung hingeben, so gilt das noch viel mehr von der anderen Komponente, dem wieder erwachten „Aufbruchsgeist“ der deutschen Jugend.

Vielleicht hat die Ostzone Deutschlands in der Phantasie irgendwelcher Schreibtischstrategen als ein großer Kerker existiert, in der mißvergnügte, der Segnungen des Westens wie nackte Wilde begierig harrende Fellachen vegetieren. Die Wirklichkeit ist auch hier anders. Es ist den Sowjets, wesentlich besser als allen sonstigen „Umerziehern“ zusammen, gelungen, von Anfang an und sogar schon in der Kriegsgefangenschaft einen ganz kleinen, aber schlagkräftigen Kader junger Deutscher zu finden, die folgende in sich durchaus logische Entwicklung hinter sich haben. Sie waren zur NSDAP gestoßen, weil sie im Zweifel an der Tragfähigkeit bürgerlich-liberaler Lösungen, in lebensmäßiger Entfremdung von den Organisationsformen des Vereinskatholizismus und Kulturprotestantismus, in einem durch das bürgerliche Elternhaus eingeimpften Trauma vor allem „Roten“ praktisch außer dem Anarchismus keine andere Möglichkeit sahen, ihrem Aktionsdrang und ihrem im Anliegen echten „Hunger und Durst nach Gerechtigkeit“ dienen zu können. Als mit der liquidierten und zur Revolte gestempelten sozialen Revolution des 30. Juni 1934 die restaurativen und reaktionären Kräfte in Deutschland zusammen mit der Prätorianergarde der SS das Heft in die Hand bekamen, erlebten sie ihre erste schwere Enttäuschung, vergleichbar mit jener der illegalen Nationalsozialisten in Österreich. als nach dem 13. März . 1938 sich eben manches doch anders entwickelte, als man es sich ausgemalt hatte. Das zweite große Trauma dieser Menschen war das Erlebnis der Besiegbarkeit der deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion, das sie in seiner Konsequenz entweder in die Gefangenschaft oder in den Zusammenbruch führte. Die Schockkur der sowjetischen Menschen-Alchimisten gelang . natürlich nicht bei allen, manche versanken in Nihilismus, andere in der Trotzhaltung, bei wieder anderen ging gerade in der letzten Bedrohung die große innere Wandlung vor sich, die sie mit zu den wertvollsten Menschen machte, die wir heute in der westlichen Welt haben. Bei einer kleinen Schar aber gelang das kühne und mit marxistisch-dialektischer Folgerichtigkeit geplante Experiment. Diese Elite einer kommenden deutschen Partnerschaft, keiner „Befehlsempfänger“ für die Söwjets, ist von Anfang an in Schlüsselstellungen der Ostzone tätig gewesen. Ihre persönliche Sauberkeit, ihre geradezu spartanische Bedürfnislosigkeit und ihre natürliche Klugheit erhoben und erheben sie turmhoch über die Handlanger aus dem deutschen staatsfrommen Kleinbürgertum, über die Lands- kneditstypen aller Berufszweige, die heute noch die bürgerlichen Scheinparteien füllen. Wir wissen um manchen dieser Menschen, so zum Beispiel den seit 1945 verantwortlichen Leiter der gesamten Führerschulung der höchsten Ränge der FDJ, einen gebürtigen Essener, Soldaten und überzeugt-mitreißenden ehemaligen hohen Führer des Jungvolks, und um manchen anderen Namen dazu, Namen, die selten oder fast nie in der Öffentlichkeit aufschienen. Aber sie waren da und sie haben gearbeitet, lautlos, hingebend mit jener Jüngerschen Perfektion, die nur ein Deutscher, der noch dazu indirekt durch Hegel erzogen worden ist, entwickeln kann. Und nun ist nichts anderes geschehen, als daß die Saat auf geht. Erstaunt steht die westliche Welt vor einem Phänomen, zu dessen Deutung di alten Begriffs des „Bolschewiken“ („vaterlandslosen Gesellen“) und des Nationalen („Bräustübel“ und „Wacht am Rhein“) nicht mehr ausreichen. Und dieses Phänomen ist nicht nur in seinem vollen Umfang zu betrachten, sondern es Wird von Tag, nach massenpsychologischem Gesetz von Stunde zu Stunde lebensmächtiger…

IV.

Es genügt nun aber nicht, den Tatbestand einfach festzustellen. Schließlich befindet sich diese hochexplosive Substanz in unserem Nachbarhaus.

Was ist also zu tun?

Die meisten Reaktionen der westlichen Welt gehen heute von einer irrigen Voraussetzung aus. Sie setzen ein „Ante portas“ voraus und sehen in den nächsten Tagen die preußisch-russische Dampfwalze über Europas grünende Fluren brausen.

Ante portas … sagt der westliche Machtpolitiker und sucht die explosive Sprengladung neupreußischer Provenienz durch eine noch brisantere von altbewährter Art in eigener Werkstatt zu ersetzen.

Ante portas … sagt der westliche Ökonom und entwirft wohldurchdachte Pläne zur Hebung des Lebensstandards bei den niederen Schichten, auf daß diese nicht Kommunisten würden.

Ante portas … sagt der spirituelle Christ und beginnt mit dem Ausbau atomsicherer Katakomben sowie mit der Errichtung einer geräumigen Bibliothek darin.

Ante portas … sagen, um mit Nietzsche zu sprechen, die „letzten Menschen und blinzeln“ (wir wissen, was wir unter „Blinzeln“ heute verstehen).

Mag das alles teilweise und mit beschränktem Geltungsbereich auch’ richtig sein — men sieht an der Wirklichkeit vorbei. Der Hauptstoß wir d aus einer anderen Richtung kommen. …. wenn ihr es nicht vermutet.“ Diese Jugend kann die Maginotlinje des Westens umgehen. Sie wird eines Tages im Rücken des Westens stehen. Und hier wird si’cb der entscheidende Kampf abspielen. Was sich heute im Osten Deutschlands hinter den Atrap- pen der bürgerlichen Paradepuppen bildet, ist ein Zentrum, das sich reif und in der Lage fühlt, als ein gewaltiger Sog über Zonen- und Vertragsgrenzen hinweg all das in Europa in seinen Strudel zu zerren, was nicht wirklich in einem lebendigen fleischgewordenen Glauben an den Gott ebenbildlichen Menschen und seine Freiheit sein anziehungsmächtiges eigenes Zentrum besitzt. Kein Sowjetpolitiker wird das Risiko des Atomweltkrieges auf sich nehmen, solange eine Chance besteht, mit der bloßen „Ante-portas“- Drohung, die jetzt in ganz anderer Weise als bisher laut zu werden beginnt, das deutsche Hinterland und ganz Westeuropa „aufzurollen“. Eine freie, gläubighumanistische Welt aber, die nicht der Emigranten- und Neurotikerpropaganda des „Ante portas“ erliegt, sondern sich von diesem Zentrum her regeneriert, kann nicht nur dem Sog standhalten, sondern morgen selbst im Rücken des übermächtig geglaubten Feindes stehen.

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