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Siebzehnter Juni — 25 Uhr

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I

Der Worte werden zu diesem, ersten Jahrestag des ostdeutschen Aufstandes gegen ein aufgezwungenes Regime (nicht gegen die im Auftrag des Alliierten-Kontrollrates hier ihre Verpflichtungen erfüllenden Soldaten der Sowjetarmee) genug gesprochen werden. In einer der wenigen spontanen Entscheidungen des deutschen Bundestages wurde dieser 17. Juni zum nationalen Feiertag erhoben. Gebe Gott, daß er deshalb nicht, zusammen mit so vielen anderen hohen Dingen, durch die eilfertigen Phraseure im Gefolge des „Deutschen Wunders" zu Tode geredet und versalbadert wird. Die Seite des Gewissens, der historischen Wert- haftigkeit, des im Scheitern erfüllten „Dennoch", kurz, die moralische Komponente dieses Unternehmens, die von Ernst Lemmer, dem Berliner CDU-Vorsitzenden, mit Recht dem Geusenaufstand von einst zugeordnet wurde, bleibe hier aber unerwähnt.

Im nachstehenden sei nüchtern und rein politisch analysiert, ob dieser 17. Juni auf der Ebene der wägbaren Tatsachen ein trotz Opfer und Sinnlosigkeit ins Gewicht fallender E r- folg der freien Welt oder, wie durchaus nicht nur von kommunistischer Seite behauptet wird, ein unüberlegtes, geradezu ver- urteilenswertes leichtfertiges Unternehmen gewesen ist. Wir müssen dazu allerdings jene Darstellung der kommunistischen Situation im Weltmaßstab als Hintergrund benützen, die wir, genau vor Jahresfrist, an dieser Stelle veröffentlichten1. Die Ereignisse haben uns, obwohl wir uns in der politischen Akzentuierung mancher Namen irrten, dennoch recht gegeben. Wir sprachen, um es mit einem einzigen Satz zu wiederholen, von zwei Flügeln des Sowjetismus, die nach dem Tode Stalins, dessen Autorität über beiden Richtungen stand und sie eisern aneinander fesselte, immer deutlicher erkennbar wurden, nicht mehr, wie zu Stalins Lebzeiten, als klug aufeinander abgestimmte Polaritäten, sondern als Antagonisten. Wir gingen damals nicht fehl in der Annahme, daß dem 17. Juni das noch viel aufschlußreichere Datum des 11. Juni voranging. An jenem Abend wurde nämlich über alle ostdeutschen Sender der sogenannte „Neue Kurs" verkündet. In seinen Einzelmaßnahmen sah er, von der übrigen Welt geradezu stumm vor Erstaunen betrachtet, die Liquidierung des wütenden Kirchenkampfes durch ein faires Abkommen mit Di’belius, die Einstellung des „Bauernlegens", die Atemfreiheit für das fast schon strangulierte Gewerbe vor. Zusammen mit den in den gleichen Wochen getroffenen Maßnahmen in fast allen anderen Satellitenstaaten enthüllte sich dies als ein einheitliches Konzept, das wir damals und heute als das eigentliche und orthodox-kommunistische be- zeichneten. Es ist nicht ganz richtig, Berija und seine deutschen Parteigänger, den Chefredakteur Herrnstadt und den Innenminister Zaisser als „Liberale" im Gegensatz zu den Militaristen und Chauvinisten des „rechten" Flügels zu bezeichnen. Auch der 11. Juni, der den vorübergehenden Sieg dieses Flügels in Deutschland markierte, war kein Geburtstag des „Liberalismus", sondern er sollte der Beginn eines mit

1 „Kommunismus siegt in der Sowjetwelt" („Die Furche", 11. Juli 1953).

Präzision und Leninscher Meisterstrategie begonnener Eroberungsfeldzug für ganz Deutschland sein. Und ganz im Hintergrund malten die ominösen Maiworte Churchills vom neuen Locarno einen prächtigen, goldenroten Abendhimmel über das ahnungslose Europa. Daß Berija zusammen mit seinen Gefolgsleuten, sofern sie sich nicht, wie Semjonow in Berlin, sehr anpassungsfähig und elastisch aus der Affäre zogen, wenige Wochen später ein toter Mann war, hat Europa gerette1. Und daß Berija stürzte, verdankt Europa den namenlosen Arbeitern vom 17. Juni. Dieser Gedankengang muß bewiesen werden:

II

Wir deuteten damals an, was der Sieg des kommunistischen Flügels über den nationalistisch-großrussischen (Stichwort Malen- kow) bedeutet hätte: Dem Sowjetkommunismus wäre in dieser Tarnung und Maske, würdig der außenpolitischen Großleistung Trotzkijs und Joffes in Brest-Litowsk, des Hitler-Stalin- Pakts von 1939, der Auflösung der Komintern zur Beruhigung für das liberale Sonntagsschul- gemüt des unglückseligen Mr. Roosevelt, in dieser Maske also ein Einbruch in das übrige Europa gelungen, der in atemraubendem Tempo bis zum Kanal, ja bis auf die britischen Inseln erweitert worden wäre. Böswillige, heimtückische, aber auch törichte und gutgläubige Neutralisten aller nur möglichen Partei- und Weltanschauungsfarben hätten nun endlich jenen sanften und verträglichen Kommunismus als gehorsames Schaubild für die eigenen Theorien geliefert bekommen, auf den sie in den Tagen der Mindszenty-Folter und der Massenerschießungen der chinesischen Christen so vergeblich warten mußten. Und sie sind gutgläubig, die appeaser aus der Gilde der regenschirmbewehrten Chamberlain. Ein wenig Olympiazauber Anno 36 zu Berlin, und die KZ-Dokumente der ersten Emigranten waren vergessen. Einige öffentliche Gottesdienste mit Glockengeläut in Moskau, ein paar zufriedene Briefe von Gewerbetreibenden, ein paar augenzwinkernde Verbrüderungen zurückgekehrter Bauern, das hätte, zusammen mit einigen sibyllinischen Aussprüchen aus dem vom Berija-Geist beherrschten Kreml völlig genügt, den guten „O 1 d J o e" aus den Tagen Roose- velts wieder frohe Urständ feiern zu lassen. Der 17. Juni hat hier einen Strich durch die Rechnung gemacht, der zu einem Teilstrich der Nachkriegsentwicklung geworden ist, ähnlich den Tagen von Prag im Februar 1948, da der „gute Onkel Joe" vor den Augen der entsetzten humanitären Umwelt die Herrschaft des Musterschülers Edvard Benesch liquidierte, den braven Jan Masaryk aber kurzer Hand zum Fenster hinauswerfen ließ. Die Aufständischen vom 17. Juni haben in diesem Kampf der Lautlosigkeit, der dialektischen Verdrehung, der propagandistischen Einnebelung die Rolle jener heroischen Bergbauern Tirols und der Schweiz gespielt, die ihre eigenen Höfe als lebendige Warnfackeln in die Nacht der Schläfer drunten im Tal lodern ließen. Am Beispiel der streikenden Arbeiter in der Ost-Berliner Stalin-Allee sollte sich das Truggespenst des „liberal" gewordenen Kommunismus sehr ad absurdum führen. Von dieser Initialzündung her ist der Aufstand der Namenlosen in der ganzen Zone zu verstehen. Gewiß waren es bei über 90 Prozent derer, die ohne Rücksicht auf die gezückten Photoapparate der Spitzel, ohne der auffahrenden Panzer zu achten, auf die Straßen gingen und die verhaßten Symbole der Zwangsherrschaft, die HO-Kioske der Volksausplünderung, die Transparente der Verdummung zerstörten, persönlich begrenzte, zum Teil sehr eng begrenzte Einzelziele, oft rein wirtschaftlicher Art, die das letzte Motiv bildeten. Das hindert uns, die wir dieses Geschehen politisch bewerten und akzentuieren aber nicht, die historische Mission zu erkennen, die sie alle in diesen Stunden erfüllten, das Prinzip zu erkennen, das durch sie hindurch , wirkte, oft vielleicht sogar gegen ihren eigenen Willen. Man braucht zur Benennung dieses Prinzips weder den Hegelschen Weltgeist, noch andere Gespenster zu bemühen. Es war nichts anderes, als das Offenbarwerden jener Wahrheit der menschlichen Freiheit, die sich, wenn die Mächte der Lüge und Verdrehung zu groß geworden sind, nur noch in der Antithese ‘des A u f s c h r e i s der Maßlosigkeit, des echten Aufstands äußern kann. „II faut en .finir" sagte ein französischer Politiker, als die Welt im Taumel von München das ihr gereichte Gift als Honigseim schlürfte. „Jagt sie zum Teufel, alle miteinander" brüllte das gequälte Volk Mitteldeutschlands, ohne Rücksicht auf Diplomatie, metaphysische Gerechtigkeit und objektive Maßstäbe, als man daran ging, das täglich am eigenen Leib erlebte Terrorregime mit Gestalten vom Schlage eines liberalen Kästner, eines Paradechristen Nuschke zu drapieren. Als in den ersten Monaten nach 1945 die Russen selbst das Heft in der Hand hatten, war das geistige Leben fast noch am freiesten — das wird jeder bestätigen, der dort gewesen ist. Es bestanden klare, abge-

grenzte und durchaus nicht von Feindseligkeit starrende Fronten. Solange das Regime sich offen zum Kommunismus bekannte, mußte man es eben so oder so distanziert zur Kenntnis nehmen. Die Sowjets standen damit aber an einer unübersteigbaren Grenze, Zonengrenze, Weltgrenze. Der Versuch Berijas, diese Grenze zu umgehen, mit Zuckerbrot und „N euem Kurs" das zu erreichen, was den Divisionen Stalins im Sommer 1945 nicht mehr gelungen war, den Schlüssel auch zu Westeuropa zu erlangen, ist in diesen Stunden gescheitert. Wohl oder übel mußte Molotow in Berlin wieder auf die einstigen, aussichtslosen Ausgangsstellungen zurück. Der Traum eines liberalen Kommunismus ist — von einigen Redaktionen und Lehrkanzeln abgesehen — in der westlichen Welt ausgeträumt. Versuche, ihn wieder zu beleben, müssen im luftleeren Raum bleiben. Die Massen der nackten Fäuste gegen die Panzer haben die Realität sichtbar werden lassen. Sie haben die gleiche Funktion erfüllt, die einst die in den Gestapokellern verröchelnden Opfer der französischen Resistance in ihrem Scheitern erfüllten. Denn sie haben damals den Lügenmantel zerrissen, den Hitler als das „Neue Europa" vor Auschwitz und Buchenwald spannen wollte. Die Resistance-Männer haben dem gefährlichen Salonfaschismus der vierziger Jahre an der Wurzel getroffen, die Arbeiter von Berlin den Salonbolschewismus unseres Dezenniums.

III.

Ergebnis? Wollen wir also keinen Frieden? Wollen wir die Fortsetzung des Kalten Krieges bis zum heißen? Freuen wir uns, daß mit dem Sturz Berijas die Verständigungsmöglichkeiten zwischen Ost und West zerstört wurden ? Gott ist unser Zeuge, daß wir nichts mehr ersehnen, als den Frieden. Aber er kann nur auf realer Basis und ohne Masken abgeschlossen werden. Der Berijakurs hätte unweigerlich zu einem neuen München geführt. Chamber- lains Münchenreise aber war der sicherste Weg in den Krieg. Das alte Soldatenwort: „Im Kampf kann man fallen, wer nach hinten läuft, fällt bestimmt" wird seine Richtigkeit immer beweisen. Denn auch ein Berija-Kommunismus, als trojanisches Pferd nach Europa gelassen, hätte unweigerlich früher oder später mit unaufgebbaren und daher auch absolut verteidigungsnotwendigen Werten freiheitlicher (um das Wort „abendländisch" zu vermeiden) zusammengestoßen. Dann aber wäre dieser Krieg nicht nur unabwendbar, son dern genau so sicher auch bei seinem Beginn schon verloren gewesen. Das Opfer des 17. Juni hat uns nicht vor den sowjetischen Divisionen, vor der Drohung einer noch kaum ganz zu überblickenden eurasischen Weltmacht bewahrt. Aber es hat um den Preis des eigenen Lebens, der eigenen Freiheit das trojanische Pferd sichtbar werden lassen, das schon weit in unserem eigenen Lager stand. Wenn über den Frieden und den Weltausgleich — Gott gebe, recht bald — gesprochen wird, dann wünschen wir dies beiderseits mit offenen Karten zu tun, in einer Situation, die es uns ermöglicht, Kommunismus bei allem Respekt Kommunismus, sowjetische Interessen sowjetische Interessen zu nennen. Und das, diese einzige wirklich reale Voraussetzung eines Gesprächs muß erreicht werden. Die Opfer des 17. Juni haben dazu einen stummen Beitrag geleistet, den die Geschichte würdigen wird.

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