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Die guten Feinde

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“Wer die Verhältnisse im sowjetisch besetzten Mitteleuropa nur ein wenig kennt, konnte eine starke Skepsis schon beim ersten Auftauchen jener Nachrichten nicht unterdrücken, die ihre Polonäse durch einen großen Teil der verbreitetsten österreichischen Zeitungen in den letzten Wochen machten, um nach einigen Attitüden und Pirouetten wieder still durch den Seitenausgang unbe-wahrheiteter Gerüchte abzugehen, wir meinen die Tatarennachrichten von „Partisanenkämpfen“ in der deutschen Ostzone, die sich in einer Schlagzeile sogar schon zum „Marsch der Tausende auf Berlin“ ausweiteten. Diese Skepsis wuchs, als wir beim täglichen Abhören dreier deutscher Nachrichtendienste (West) keine Bestätigung dieser Ereignisse erhalten konnten, die sich ja ohne Zweifel zumindest beim RIAS-Berlin herumgesprochen haben müßten, und sie fand ihre bittere Dokumentation in einer schlichten westdeutschen Pressemeldung, daß es sich bei.den hier (von Oesterreich aus) beobachteten Truppenbewegungen um... Manöver der Volkspolizei gehandelt habe.

Vielleicht hätte dieser ganze Stoff (wie so manches andere) am besten in die Hände eines Rabelais oder Cervantes gehört. Und wir möchten zudem nicht verhehlen, daß uns diese zutage geförderte Wahrheit nicht einmal mit Bedauern erfüllt. Wer das nicht verstehen kann, der lese heute und täglich die amtlichen Gerichtsmeldungen aus der Ostzone, studiere die Urteile und Strafbemessungen, hinter denen immer nur ein einziges Datum steht: 17. Juni. Gewiß wird dieses Datum in die Geschichte der menschlichen Freiheit eingehen, wie die polnischen Aufstände von 1833 und 1863, gewiß werden die echten Märtyrer jenes Tages neben denen der französischen Resistance und der antinazistischen Widerstandsbewegung Europas zu stehen kommen, aber die grausam-nüchterne Realität steht daneben. Die westliehen Truppen sind zur Unterstützung des deut- • sehen Aufstandes nicht marschiert, und sie werden auch heute und morgen nicht marschieren. Vielleicht wäre es ratsam, sich diese Grundtatsaehe jeder westlichen Politik, die mehr ist als ein frevlerisches Abenteuerspiel, allüberall einzuprägen, und mit diesem Bleigewicht in der Waagschale beschwert, die Opfer derartiger Aufstandsaktionen in Mitteleuropa doppelt ernsthaft zu wiegen. Aber trotz alledem haben wir die bestätigten und nachweisbaren Ereignisse der letzten Woche in der deutschen O.'tzone mit tiefer innerer Genugtuung als ein echtes Fanal des kommenden freien Europa begrüßt, obwohl oder vielleicht sogar weil sie keine Partisanengefechte waren.

Bei Licht betrachtet, bleibt nämlich dies: Vier tschechische Studenten, namenlose Nachkommen derer von der Prager Brucken Anno 1648, Brüder der Kämpfer gegen die Hitlerherrschaft, Blutbrüder der Aufständischen von 1948, haben sich zusammen mit einer kleinen Zahl anderer, die bei diesem Todesmarsch auf der Strecke blieben, erst über die Erzgebirgsgrenze nach Sachsen und sodann durch die gesamte Sowjetzone bis ins freie Berlin durchgeschlagen. Vier kleine, unbekannte Tschechen mit einer Mauserpistole — und nicht „tausende Partisanen“ waren die Handelnden jener soeben vergangenen Tage. Es ist nicht unsere Aufgabe, und es fehlen uns auch die Unterlagen, ihren jeweiligen persönlichen „Fall“ hier zu analysieren, die Gründe ihrer Flucht im einzelnen zu untersuchen. Es obliegt uns, etwas anderes festzustellen und mit aller Genugtuung festzustellen. Diese Tschechen hätten ihre Flucht nie bewerkstelligen können, wenn ihnen nicht die deutsche Bevölkerung geholfen hätte. Geholfen ist ein schwaches, abgeflachtes Wort. Man müßte sagen: Wenn sich nicht Dutzende, vielleicht Hunderte namenloser Deutscher zu ihnen, mit ihnen in die Todeszone der Kollektivhaftung begeben hätten, die seit Lidice und Oradour zur Praxis der totalen Staaten gehört.

Das alles schreibt sich so leicht hin und liest sich vielleicht auch belanglos. Wer aber weiß, welche Gefühle heute in einem Deutschen aufstehen — und nicht mit Unrecht aufstehen —, wenn er das Wort „Tscheche“ hört, wer weiß, daß sich in eben diesen Tagen vor einem Gericht in einem anderen Teil Deutschlands ein gelassen die Achseln zuckender ehemaliger tschechischer KZ-Kommandant aus Budweis zu verantworten hat, dessen Bestialitäten an wahllos herausgegriffenen Kollektivopfern sich würdig in die klassische Reihe der SS-Taten stellen lassen, wer dies alles weiß und — wie der Verfasser dieser Zeilen — als Sudetendeutscher zudem unmittelbar in diesen nahezu unauflöslichen Antagonismus der beiden böhmischen Völker hineingestellt, hineingedrängt ist, der weiß auch, was dies zu bedeuten hat. Hier hat der Bauer im Erzgebirge, der Bahnbeamte in Cottbus, der Stadtrandsiedler in Pankow um ein paar unbekannter Tschechen willen, mit ihm durchaus bewußter Deutlichkeit riskiert, wenige Stunden nach deren Beherbergung oder auch nur Nichtanzeige aus seiner Wohnung geholt, von einem Schnellgericht verurteilt und für zwanzig Jahre lebendig begraben zu werden. Und dies alles nicht für einen Volksgenossen, vielleicht — wer kennt die politische Gesinnung der vier Tschechen — nicht einmal für einen politischen Kombattanten, vielleicht nicht einmal für einen christkatholischen Mitbruder. Wir waren nicht Zeugen jener Einzelerlebnisse auf der Flucht nach Berlin, aber wir würden es sehr wünschen, daß die Geretteten (bei Beachtung aller Vorsichtsmaßregeln selbstverständlich), diese ihre Begegnungen in schlichter, dokumentarischer Sprache aufzeichneten. Wir hielten ein solches Manifest für wirkungsvoller •ls so manche bei Champagner und Galaempfängen deklarierte europäische Solidarität, die bis zum nächsten Dividendenstreit der Saarkohle reicht und verteufelt an jene Resolutionen erinnert, von denen Tucholsky sagt, daß in ihnen alle Beteiligten gelobten, „im Frieden Pazifisten sein zu wollen“. Unsere Zeit beginnt nun endlich den Aberglauben an die Zahl und die Quantität abzubauen, und das G e f ü g e der Dinge, die Grundstruktur der menschlichen Beziehungen als das Wesentliche und Bestimmende sichtbar werden zu lassen. Voilä, hier ist ein solches Gefüge, von dem man noch sprechen wird, wenn die bloßen Additionen der potenzierten Nullen kaum mehr den Statistiker interessieren werden.

Hält man zu diesen Geschehnissen noch jene seriös bestätigten Meldungen über eine Zusammenarbeit von Deutschen und Polen im gemeinsamen Abwehrkampf, dann vervollständigt sich das Bild. Schattenhaft noch, ber in den Konturen durchaus erkennbar zeichnen sich die Ansätze zu einer Hochschule für Politik ab, deren unendlich schmerzliche Semester heute die besten Mitteleuropäer besuchen, einer Hochschule, in der alles das repetiert wird, was in vergangenen Schuljahren von Cyrill und Method bis Palacky und Franz Ferdinand, bis Masaryk und Hacha nur durch die genannten Vorzugschüler, nicht aber durch den Klassendurchschnitt erarbeitet worden war, die Konzeption eines friedlichen, gleichberechtigten Nebeneinander, einer mitteleuropäischen Gemeinsamkeit, dem Prinzip des genialen Agrariers Svehla folgend: Ich Herr, du Herr.“

Die altchristliche Geschichte erzählt uns von der Beendigung des ersten, die Kirche bedrohenden Schismas. Papst Pontianus und Gegenpapst Hippolyt versöhnten sich in den Bergwerken der gemeinsamen sardinischen Verbannung und ihre Anhänger folgten ihnen ergriffen und erschüttert schließlich auch zu Rom und in allen anderen Städten des Reichs. Sollten die hundertmal erlebten Tode der würgenden Angst, des blutigen Schweißes, die die tschechischen Flüchtlinge und die deutschen Beherberger durchlitten, vielleicht vor Gott das letzte Sühnopfer gewesen sein, das für die Greuel von Lidice und für die Deutschenmassaker der Austreibungen, die wahrhaft zum Himmel schrien wie das Blut Abels, in Gnaden angenommen worden ist? Wir wissen es nicht und es wäre vermessen, hier mehr als eine Vermutung über das auszusprechen, was i s t.

Was aber nicht sein soll, bedarf der Namensnennung. Wenn etwa in diesen Tagen der deutsche Flüchtlingsminister in der offiziellen Bonner Zeitung „Bulletin“ von der Erneuerung des Geistes von München spricht (Wir haben den genauen Wortlaut nicht erhalten können, geben die Nachricht aber so wieder, wie sie sich in den Schlagzeilen der Weltpresse spiegelte und also füglich verstanden werden mußte), wenn damit also der unselige Nationalgedanke, der jenem großen Nationalgedanken Herders, des geistigen Nährvaters auch der tschechischen Nation (Freundschaft Dobrovskysü), wie ein verzerrter Affe gegenübersteht, zur Lösung der mitteleuropäischen Frage herangezogen wird, so ist dies schlimmer als teilnahmsloses Schweigen zu den hier geschilderten Vorgängen, das anderswo geübt wird. Die Beschwörung des Geistes von München, der durch nichts anderes als durch ein Nachgeben der Erpressung Hitlers gegenüber gekennzeichnet ist, mutet in dieser Situation leider nicht nur grotesk an. Gottlob hat das Sudetendeutschtum in der Gestalt des Altösterreichers Dr. Lodgman von Auen, des berufenen Sprechers der Landsmannschaft, einen Vertreter, dessen Bekenntnis zur donaueuropäischen, also nicht nationalistischen Lösung, vor hunderttausend Zuhörern abgelegt, über jeden Zweifel erhaben ist. Es ist nicht nur österreichisches Interesse, diesen Prozeß der Verständigung in Mitteleuropa, der heute in einer Schule von Blut, Tränen und Verfolgung heranreift, zumindest nicht zu stören. Wer ihm keinen durch Leid, Erkenntnis und Verstehen geadelten Beitrag schenken kann, der schweige wenigstens!

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