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„... die Leute sind gefährlich!“

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Die Liste der ermordeten Tyrannen, das Namens Verzeichnis der hingerichteten Abenteurer sind bei weitem nicht so umfangreich wie jene Galerie, die man aus den tragisch untergegangenen Einsamen aufstellen könnte. Als Heinrich IV. den Weg zum konfessionellen Frieden in Frankreich zu Ende gehen wollte und sich dabei naturgemäß die Eiferer beider Lager zu Feinden machte, traf ihn der Dolch des Ravaillac, Franz Ferdinand wurde ermordet, als er den Weg zur Befriedung des Balkans verwirklichen, Graf Bernadotte fiel, als er die Versöhnung der Gegensätze in Israel realisieren wollte.

Den Namen dieser Großen aber steht ein Heer von Menschen aller Zeiten und Zungen zur Seite, das fast zwangsläufig namenlos sein und bleiben muß. Denn nicht nur die physische Tötung, auch das infame Mittel des Rufmords oder des Totschweigens wird gegen sie angewandt, gegen jene, die sich in die Todeszone alter wie neuer Politik begeben, die da heißt: Einsamkeit zwischen den Fronten.

Einer der letzten dieser Reihe von Namenlosen sei hier genannt: ein tschechischer Student mit dem Durchschnittsnamen Jaroslav N o v a k. Wer weiß schon von seinem Fall? Für die Prager Regierung von heute ein auszulöschendes Subjekt, ein lebensunwertes „Reptil des Kapitalismus“, ein ausländischer Agent, für die nationalistische Emigration ein gern verschmerzter Personalabgang, für einen Teil der Deutschen eine Belanglosigkeit, ja selbst für die bundesrepublikanischen Sicherheitsbehörden sicherem Vernehmen nach eine lästige Störung des schon wieder ganz gut etablierten bürokratischträgen Obrigkeitstrotts... Wer soll also um diesen Mann weinen, diesen knapp dreißigjährigen Studenten aus Prag, der als politischer Flüchtling in der königlich-bayrischen Residenzstadt München gelebt hatte, an einem Februarmorgen einen Vorortzug bestieg und seither spurlos verschwunden ist? Gewiß, er war niemandem zur Last gefallen, hatte weder gebettelt noch gestohlen, die Zeit der Deutschenaustreibung hatte er als sogenannter Kollaborant in einem tschechischen Strafgefängnis unter ähnlich „humanen Bedingungen“ verbracht, wie sie laut Potsdamer Abkommen bei der Ausweisung der deutschen Frauen und Kinder in Anwendung kamen. Sodann hatte er bei Nacht und Nebel die Grenze überschritten, war nach mehrfacher und gründlicher Untersuchung seitens deutscher und amerikanischer Stellen als gern gesehener Gast in der Bundesrepublik aufgenefmmen worden. Daß er sich in der Freizeit, anstatt irgendwo Geschäfteln zu treiben oder sich am Wirtschaftsaufstieg der Ellbögentüchtigen in deutschen Landen zu beteiligen, mit einer Marotte beschäftigte, war ja schließlich sein Privatspaß.

Diese Marotte des kleinen Jaroslav Nowak hieß Versöhnung. Befriedung und neuer Weg angesichts eines Berges von Haß und Blut, von Tränen und Schrecken, vor dem selbst größere- Staatsmänner billigerweise kapitulierten, vor dem bewährte Politiker, wenn schon nicht in das träge Mitheulen, so doch zumindest in eine tatenlose Resignation auswichen. Dieser Berg hieß konkret: Versöhnung der Völker Böhmens, Sammlung aller verständigungsbereiten Kräfte wenigstens im Exil, um über den Grundriß des neuen Hauses, das ja in Wirklichkeit das alte angestammte und einzig passende ist, zu beraten, in harter und phrasenloser Kleinarbeit Stück für Stück zu diskutieren.

II.

Ja, er war ein recht unkluger Mann. Denn es gibt in diesem Fall kaum eine Position, die ein geradezu optimales Maß von Feinden auf sich zu lenken weiß wie jene, die er, zusammen mit ganz wenigen anderen, einnahm. Er mußte damit rechnen, von der Mehrzahl der Sudetendeutschen, wenn nicht mit offenem Haß, so doch zumindest mit großem Mißtrauen verfolgt zu werden und kaum einen wirklich konkreten Gesprächspartner zu finden. Er mußte aber auch wissen, daß die Mehrzahl seiner Landsleute im Exil unbekehrt und durch alles Erlebte ungeläutert der alten verhängnisvollen Benesch-Konzep- tion des Tschechoslowakismus nachhing, die konsequent in das sowjetische Bündnis und in das tragische Ende .der tschechoslowakischen Demokratie geführt hatte. Und er mußte wissen, daß er diesen Kreisen als Volksfeind und Vaterlandsverräter ersten Ranges erscheinen mußte. Er mußte darüber hinaus klar sehen, daß die heute noch in gewissen Vorzimmern gottlob nicht mehr in den Kanzleien selbst des State Departements aus und ein gehenden prominenten Führern der tcheschisch - nationalistischen, kommunistenfreundlichen Emigration, die Herren Ripka und Zenkl, Machtmittel illegaler und halblegaler Art zur Verfügung haben, um einen unbequemen Zeugen ihrer heute verleugneten Tätigkeit der Jahre 1945 bis 1948 .mit allen Mitteln zum Schweigen zu bringen. Wo gibt es heute noch jemanden, der die Originale jener Broschüren besitzt, die dieselben Herren einst in den Jahren 1943 und 1944 in der Londoner Emigration herausgaben und in denen sie die Grundsätze der durchaus nicht rein kommunistischen Greuelpolitik der Nachkriegszeit entwarfen, Grundsätze, die streng genommen ein Nürnberger Gericht beschäftigen müßten? Er mußte darüber hinaus mit den alten Erzfeinden: Dummheit, Trägheit, Egoismus und Vorurteil in größter Kampfausrüstung rechnen, und er mußte schließlich auch wissen, daß der Kommunismus seine Tätigkeit, vor allem, als sie moralischen Erfplg zu zeigen begann, mit tödlicherem Haß verfolgte als die abscheulichsten Auswüchse der Reaktion an anderen Orten. Denn wenn es niemanden sonst klar war: die klugen und berechnenden Analytiker und Taktiker des Kremls und des Hradschins wußten es genau: Von dieser Basis allein konnte und kann man einmal der Machtposition im Donauraum gefährlich werden. Die Revanchegelüste der unbelehrbaren Nationalsozialisten, die phantastischen Träume pangermanistischer Großraumpolitiker mit tausendjähriger Vergangenheit eignen sich wohl zu reißerischen Schlagzeilen in der Sowjetpresse, sie stellen aber keine eigentliche Gefahr dar, die für die Donauvölker als magnetischer Anziehungspunkt wirken könnte. Von da aus wird und kann man der Politik des „Divide et impera“, auf deren uralter Maxime die sowjetische Hegemonie in Mitteleuropa beruht, nicht wirksam begegnen. Hier aber war zumindest im geistigen Ansatz ein Konzept sichtbar, das selbst in seiner verzerrten Verfallsform, in die es seit dem gescheiterten Reichstag von Kremsier geraten war, dem jungen Studenten Stalin zu Wien noch Interesse und eine gewisse Achtung abgenötigt hatte: der Vielvölkerstaat der Donaumonarchie, das ausgleichende Bollwerk Mitteleuropas, legitimer Nachfolger des für immer in dar Geschichte versunkenen Heiligen Reiches ... Und deswegen mußte er fallen. Deswegen haben Agenten, die ohne mit der Wimper zu zucken, die übelsten Hetzer und Haßprediger leben und laufen lassen, sich ausgerechnet diesen wehrlosen, an der „abendländischen Akademie“ dozierenden Studenten herausgesucht. Und es war kein Zufall, daß sie es taten, genau so wenig wie — auf viel höherer Ebene — Sarajewo ein weltgeschichtlicher „Zufall“ war.

III.

Die Welt dreht sich weiter. Was für ein Lärm um einen verschwundenen Tschechen! Ja, wenn das irgendein deutscher General oder ein zügiger Rüstungsmanager wäre, dann lohnte es sich zu schreien und zu protestieren. „Wird vielleicht eh ein Agent gewesen sein“, meinte ein besonders ruhebedürftiger deutscher Sicherheitsbeamter mit hörbarem Aufatmen. Gewiß: Wir sind keine Kriminalisten und weder befugt noch in der Lage, die Spur des Verschleppten, Verschwundenen aufzunehmen, aber eine kleine Ueber- legung nach dem „Warum“ dieses Schicksals wäre vielleicht auch bei jenen ganz heilsam, die sich über die wirksamste Methode der Verteidigung der Freien Welt von Berufs wegen oder als Fleißaüfgabe den Kopf zerbrechen: Die wirksamste Methode ist ja wohl logischerweise die, die den Gegner zu den schärfsten Reaktionen bringt, das beste Konzept ist ja wohl nicht das für das eigene Trommelfell lauteste, sondern das dem andern am gefährlichsten erscheinende. Und das war in diesem Falle nicht der Marschtritt der Bataillone oder die dezenten Trommelwirbel eines „Volkes in schimmernder Wehr“, sondern das schlichte, geduldige, unsäglich schwierige Versöhnungsgespräch zwischen denen, die einmal im Vaterhaus gemeinsam lebten und dermaleinst wieder leben werden.

Der Abgrund zwischen den beiden Völkern des böhmischen Raumes ist so entsetzlich weit aufgerissen, daß ihn weder liberaler Zuspruch noch machtpolitisches Diktat oder bloßer gutwilliger Zuspruch schließen kann. Nur der wird ihn überbrücken, der ganz ernst bei sich selbst und beim Nächsten, der, wenn irgendwo in Europa, dann hier, ein echter „Feind“ im alttestamentlichen Sinn des Wortes ist, anfängt.

Und dort erwächst schließlich auch jene Kraft, vor der, mehr als wir Blinden es sehen und nachfühlen können, nicht zuletzt die kalten Realisten des Kommunismus am meisten zittern. Denn wenn sich einst die künstlich zu Abgründen erweiterten Risse im Donauraum durch das namenlose stille Wirken der kleinen Novaks doch schlössen ... was wäre dann?

... Und deswegen mußte er fallen, mitten in der sorglosen, gutsituierten westlichen Welt, dieweil er einen Vorortzug zum schönen und poesievollen Starnberger See bestieg... Wir aber fahren weiter zum Starnberger oder irgendeinem andern See! Es wird schon alles gut werden!

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