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Das stumme Gesetz

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Die Sonne brannte noch heiß vom Himmel, obwohl man schon Oktober schrieb, den 5. Oktober 1938. Keine Wolke stand am Firmament, kein Windhauch wehte über die Stoppelfelder. Regungslos hing das goldgelbe Laub an den Bäumen, in deren Ästen sich manchmal ein Strohhalm von heimkehrenden Erntewagen verfangen hatte. Weit draußen hob sich der Kamm des Erzgebirges sanft vom Horizont ab. Eine unendliche Milde lag über der Landschaft. Aber niemand von den Menschen, die hier am Bahnhof saßen oder standen und warteten, bemerkte etwas davon. Ihre ausdruckslosen und erloschenen Gesichter zeigten nur mehr ein Ihteresse: in den Zug zu kommen, der als letzter hier aus dem Sudetenland ins Innere Böhmens fuhr. Das Leben dieser Deutschen, Tschechen und Juden hing an einem Faden, den dieser Schienenstrang darstellte. Denn drüben, am Kamm standen schon die Deutschen und zwei Stationen weiter unten ebenfalls schon und nur mehr diese Linie führte noch ins Innere, Totenstille lag über dem Bahnhof, gespenstisch inmitten dieser Herbstschönheit. Von dem Antlitz der Kinder dieses Landes konnte man das Schicksal dieses Landes ablesen, das sich in diesen Stunden vollzog. Diese Menschen waren nur mehr lebende Leichname, und auch Böhmen war nur mehr ein lebender Leichnam. Seit Tagen wurde es Zerrissen und seine natürliche Einheit zerstört und seine Kinder zu gegenseitigen Feinden gemacht. Böhmen wär gestorben, zerbrochen, in den Rachen eines Unersättlichen geworfen, in der trügerischen Hoffnung, den Frieden für die andern damit zu erkaufen. Milde Sonne lag über Böhmen und zeigte es in seiner ganzen Pracht, ließ das Antlitz des toten Landes erstrahlen. Dieses Antlitz, daß in seiner letzten Stunde noch einmal jenes Gesetz hatte auf leuchten lassen, nach dem es in der Geschichte angetreten war und daß es hätte erfüllen sollen, da dieses stumme Gesetz sein einziges Lebensgesetz gewesen wäre, nach dem es stark und unerschütterlich hätte leben können. Dieses stumme Gesetz war die Einheit der Kinder des Landes, gleichgültig welche Sprache sie redeten, und die Zugehörigkeit zur großen Einheit jener Völker, die an der Donau lagen.

Nicht nur, daß die Regierung in letzter Minute die Gleichberechtigung aller Sprachen verkündete, nicht nur, daß der böhmische Adel, vertreten durch seine glanzvollsten Namen, in seiner letzten Proklamation, die er m der Geschichte vollzog, die Einheit des Landes aufs neue beschwor, vor allem waren es die Deutschen selbst, jene Deutschen, die Böhmen verlassen sollten, die in einer überwältigenden Mehrheit sich zu diesem Böhmen bekannten. Dieses Land war schon ein Sterbender gewesen, als aus den Lautsprechern in den sechs Sprachen der Republik die allgemeine Mobilmachung befohlen worden war, und praktisch gab es keinerlei Sanktion mehr, die die Erfüllung von Gesetzen hätte erzwingen können. Und dennoch leisteten über 85 Prozent aller Deutschen der böhmischen Länder der Mobilmachung Folge und bekannten sich in einem Maße zu jenem stummen Lebensgesetz Böhmens wie nie zuvor. Das sollte ihnen nie vergessen werden.:

Und noch der zweite Teil des stummen Gesetzes ward erkennbar in diesen Todesstunden. Nicht nur ein Bekenntnis zur Einheit der Völker des Donauraumes, sondern auch zur Notwendigkeit dieses Donauraumes als Erziehungs- und Verwaltungsfaktor großen Stils. Denn inmitten dieses Chaos gab es nur mehr einen unerschütterlichen Halt, der unberührt scheinbar von allem Geschehen lebte. Mit einer Präzision, die ihresgleichen suchen wird, amtierte die Verwaltung des Staates weiter, arbeiteten die Bezirkshauptmannschaften, die Gerichte, die Post, die Eisenbahn, harrten aus bis zur letzten Minute und verhinderten ein noch Größerwerden des Chaos. Es war'eines der Glanzstücke, die die alte, noch aus der Tradition Österreichs lebende Verwaltung vollbrachte. Und sie bewies damit, daß nur in der Einheit', die jenes alte Österreich dargestellt hatte, die kleinen Völker ruhig leben und gedeihen hätten können…

Endlich kam der Zug, ein unendlich langer Zug, in dessen alte Wagen sich die Flüchtenden ergossen. Er fuhr gleich ab, als dürfte er keine Minute versäumen. Und die er dennoch versäumte, da er durch die Landschaft kroch wie eine Schnecke. Schweigen herrschte im Abteil, niemand sprach. Draußen sah man eine Zeitlang die Elbe, für kurz tauchten die Türme von Leit- meritz auf, Theresienstadt huschte vorüber, in Bauschowitz hielt er kurz, ein Aufatmen schien durch den Zug zu gehen, man war auf tschechischem Sprachboden, hieher würden die Soldaten Hitlers nicht mehr kommen. Dann kroch der Zug weiter, Raudnitz tauchte auf, die Türme seiner Pfarrkirche, der Riesenquader des Lobko- witz-Schlosses, die barocke Kuppel des Kapuziner klosters. „Raudnitz“, unterbrach plötzlich der alte Bezirkshauptmann, der in der Ecke saß, die Stille. „Ich stamme nämlich aus Raudnitz", fügte er gleichsam entschuldigend und erschrocken hinzu, daß er das Schweigen gebrochen hatte. „Mein Großvater war hier Stallmeister beim Fürsten Lobkowitz. Er hatte unter Radetzky in Verona gedient, bei den Neuner-Ulanen, und, seine große Liebe waren die Pferde geblieben. Sein größter Wunsch war, daß seine Erfkel zum Militär als Offiziere kämen. Zwei meiner Brüder wurden auch Offiziere, Infanteristen natürlich, denn wir waren ja arm. Der eine ist in Przemysl gefallen, der andere 1917 auf der Hermada. Mich ließ der alte Fürst Lobkowitz studieren. Hier in Raudnitz kam ich zur Bezirkshauptmannschaft. Was waren das für glückliche Zeiten. Wie schön war es dann in Prag bei der Statthalterei oder dann im Wiener Innenministerium. Jetzt sind es bald zwanzig Jahre, daß ich, ähnlich wie heute, in einem solchen überfüllten Zug fuhr, im November 1918, als die Monarchie zusammenbrach und ich nach Prag zurück mußte. Damals war allerdings viel Jubel. Aber ich wußte, was Verwaltung heißt, was ein großes Reich für ein Schutz für eine kleine Nation ist. Es ist leicht gesagt: „Detruisez!“ und schwer, etwas Besseres an die Stelle zu setzen. Damals fuhr ein alter Hofrat mit mir, er war vom Verwaltungsgerichtshof, er zeigte wie ich ein tief bekümmertes Gesicht. Ich erinnere mich noch gut an seine Worte. ,Wir werden das nicht durchhalten', sagte er, wir werden zugrunde gehen. Österreich hatte schon Schwierigkeiten, wir werden noch mehr bekommen, ohne seine Vorteile zu besitzen.

Und nie werde ich vergessen, was er damals leise flüsterte: ,Finis Austriae, finis Bohe- miae‘

Im Abteil herrschte weiter Grabesstille, niemand antwortete auf den halb vor sich hingesprochenen Monolog des Bezirkshauptmannes. Der Zug kroch weiter. Es war schon Abend, als wir in Prag waren und der Zug in die Halle des Bahnhofes einfuhr. Draußen auf der Straße standen die Zeitungsverkäufer. Die große Schlagzeile auf der ersten Seite war kurz und weit sichtbar: „Beneš odstoupil“ stand darauf, „Benesch hat abgedankt.“

Am Abend dieses 5. Oktober 1938 hatte Dr. Benesch zum erstenmal abgedankt, am 7. Juni 1948 das zweitemal. Diesmal endgültig. Hatte zweimal abgedankt, weil jedesmal eine Politik Schiffbruch erlitten hatte.

Masaryk wird oft mit einem Philosophen verglichen, der sich zufällig in die Politik verirrte, Benesch mit einem Politiker, der seine Politik philosophisch zu unterbauen versuchte. Beides it falsch, denn Masaryk war, wie er selbst bekennt, Politiker und nur Politiker, während Benesch weder Politiker noch Philosoph war. Benesch war, dies war seine Stärke und Schwäche zugleich, immer nur der große Sekretär seiner Nation, angefangen vom Conseil national m Paris, über seine Stellung als Außenminister, bis zu seiner bedeutenden Rolle, die er im Völkerbund spielte. Er hatte alle Eigenschaften und Fähigkeiten eines großen Sekretäre. Er kannte alle Menschen, er wußte alle ihre Fehler und alle ihre Vorzüge, er war unübertrefflich am Parkett, er konnte, um ein Wort Kaiser Wilhelms über Bismarck abzu wandeln, gleichzeitig mit fünf Kugeln jonglieren, er sprach viele fremde Sprachen, er wußte mit Menschen umzugehen, war mit vielen gut Freund, mit Freimaurern, Sozialisten, Kommunisten und Katholiken, weshalb er auch bei seiner Wahl zürn Präsidenten so viele Stimmen erhielt, wie Masaryk niemals erreicht hatte. Es sei nicht vergessen, daß er tolerant war in religiösen Fragen: er wußte, wie ein guter Sekretär, von den kommenden Mächten und hat als solcher das Hereinbrechen des Nationalsozialismus viel früher erkannt als berühmte Politiker, aber er war — und dies ist sein Schicksal — abhängig als Sekretär von seinen Auftraggebern, konnte nur abbiegen, umbiegen, kaschieren, vertuschen, verbessern, er war unentbehrlich, das erklärt sein langes Bleiben in der Politik, und war deshalb ebensooft unbeliebt, aber er mußte schließlich das durchführen, was seine Auftraggeber verlangten. Und er tat dies oft nicht gern und oft nur zu gern, dann nämlich, wenn sich die erhaltenen Aufträge mit seinen so sorgsam geheimgehaltenen Wünschen deckten. Denn er war von zwei großen persönlichen Affekten beherrscht. Der eine war ein antiösterreichischer und war von seinem über alles geliebten Lehrer und Vorbild, war von Masaryk in ihn gepflanzt worden. Der zweite war ein antiwestlicher, den er empfangen hatte, als 1938 seine Politik durch den Westen zerstört worden war. Diese Affekte machten ihn, den sonst so Hellhörigen, unfähig, die Forderung jenes stummen Gesetzes zu hören, das für Böhmen ein Lebensgesetz gewesen ist: die Gleichheit, seiner beiden Völker und das Eingebettetsein in eine Union aller Völker des Donauraumes. Sie ließen ihn den Versuch machen, durch künstliche Konstruktionen einen sicheren Ersatz dafür zu finden, und noch mehr: dynamische Entwicklungen, die nur durch dieses natürliche Gesetz hätten aufgehalten werden können, durch papierene Konstruktionen zurückdrängen zu wollen. So kam er in der ersten Hälfte seiner Tätigkeit zur Allianz mit dem Westen und in der zweiten zur Allianz mit dem Osten. Beide Male mußte er es erleben, daß seine künstlichen Gebäude sich als unhaltbar erwiesen. Es blieb ihm nur mehr der letzte Protest eines Sekretärs: seinem Auftraggeber zu kündigen. Er hatte beidemal den Mut, diese Handlung zu vollziehen.

Es soll die bittere Tragik im Leben dieses Mannes nicht verkannt werden. Wozu von Schuld sprechen? Öarüber zu richten ist einem anderen überlassen. Am Grabe eines Toten können nur mehr Lebende über ihre eigenen Verschuldungen und Fehler nachdenken. Und am Grabe eines Mitteleuropäers bleibt uns Mitteleuropäern nur mehr eines zu tun: einen Stein zu nehmen, nicht um ihn auf das Grab dieses Mannes zu werfen, sondern um uns an die Brust damit zu klopfen und zu bekennen, daß wir alle schuldig seien,

da wir zuwenig getan haben, um ehe Ordnung und Einheit der Völker Mitteleuropa und darüber hinaus Europas zu verwirklichen. Und daß wir insbesondere zuwenig getan haben, um den Haß zwischen den Völkern zu vernichten, jenen Haß, aus dem Affekte entstehen, die es Menschen sooft unmöglich machen, die Gesetze der Natur und der Geschichte zu erkennen.

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