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ÜBER DIE KURGANE

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Am letzten Abend vor dem Abmarsch eines unserer Dragonerregimenter in den äußersten Osten der Ukraine war den Offizieren einiger Eskadronen auf einem polnischen Gut ein Abschiedsfest gegeben worden. Ich erinnere mich noch deutlich des ebenerdigen', weißgetünchten Herrenhauses mit seinem Säulenvorbau, der hohen, nächtlichen Zimmer, in denen da und dort Licht aiuf silbernen Leuchtern brannte, des Vorplatzes, dessen Wände mit bräunlich wrMeichenden Daguer-reotypen von Pferden und Hunden über und über bedeckt waren wie mit unzähligen Fischschuppen, der Zimmer überhaupt und des unruhig wehenden Kerzenlichts, das auf den Goldborten und Spangen der Offiziere und auf dem Schmuck der Damen aufleuchtete. Man tanzte polnische Tänze, im Reigen sich an den Händen haltend. Der Gastgeber (der übrigens, kaum ein halbes Jahr später, von den Russen erstochen werden sollte) zeigte Briefe Griegs herum, die der Komponist an einzelne Enthusiasten aus jener Familie geschrieben, man gab die Blätter von Hand zu Hand weiter. Ich trat ans Fenster, draußen im Garten mit seinen träumerisch verwilderten Lauben schwankte das Blätterwerk im warmen Lufthauch, als wüchse es in die Nacht hinauf wie in ein schwarzes Wasser, oder es rührte sich, wie langes Haupthaar Ertrunkener mit den Strömungen hin und her geht. Damals, zum erstenmal, spürte ich auch die Anzeichen der Krankheit, die man zu jener Zeit noch nicht genau erkannt hatte und die „spanische“ nannte, vielleicht deshalb, weil sie bei der Kaiserin zuallererst aufgetreten. Aber die Kaiserin war eine italienische, keine spanische Bourbon. Die Krankheit jedenfalls war die Grippe. Sie verließ uns alle auch während der noch übrigen Monate des Krieges nicht mehr.

Vom nächsten Morgen an, wie nun das Regiment in enormen Zügen von Waggons nach Rußland hineingeführt ward, eichenbestandene Hügel fast schon vertraut gewordener ruthenischer Landschaft mählich zurückblieben und versanken, wie das Land selbst seine Gehöfte, Flußläufe und Bäume immer mehr in bewohnte Mulden zurücknahm, um, oben schließlich ganz zur menschenlosen Steppe geworden, den ungeheuren blauen Ausblick auf Asien völlig freizugeben,

entstanden und verstärkten sich, neben dem reisenden Regiment, die Visionen und Schatten früherer Heere, die vor uns hier gezogen waren. Der heiße Sommerwind begünstigte Phantasien, ja er rief sie, fiebrig wie er war und wie wir selbst es waren, sogar erst hervor. Ein Gefühl vom namenlosen, nomadisch durchwanderten Alter dieses Landes drängte sich uns auf und verstärkte sich in uns um so geheimnisvoll-unabweisbarer, als ebendieses Alter selbst so ganz, ohne Zeichen zu hinterlassen, dahingegangen war. Unzählige Schritte dahinziehender Völker, Fußspuren und die Bahnen nachgeschleifter Zeltstangen waren in diesem weichen Boden und im Gras wieder verweht, aber über der Steppe erschien die gleißende Luft von dem Rieseln und Wehen längst vorübergezogener und schattenhaft wieder vorüberziehender Heere immer noch erfüllt. Der berühmte ukrainische Zug Karls des Zwölften von Schweden ward vor allem so deutlich vor dem

inneren Auge, als erhübe sich wiederum sein furchtbares Heer, das hier gefallen war, blutig, verwest und wrschmiert, in modernen Uniformen, mit Trommeln und Fahnen, aus dem Staub, aus dem Schlamm, aus dem Gras, mit Bataillonen auf wunden Füßen und in vermorschten Schuhen und mit Eska-drons auf toten Pferden, phantastisch und heroisch. Es war auch schon, wenn man bloß um sich sah, einzusehen, warum Karl im Leben nicht mehr aus diesem Land herauszubringen gewesen war, warum er sich so versessen darauf gezeigt hatte, zu bleiben, so daß er mit allen seinen Regimentern auch im Tode hier noch umging. Denn das Land war so riesig groß, so aufgetan gegen die Unermeßlichkeit Asiens, so schrankenlos offen dem Schrankenlosen, daß es den Krieg, die Völkerwanderung, das Schweifende förmlich verlangte, zu sich hereinlockte und in sich lebendig erhielt. Hier war Raum zu jeder Bewegung und hier auch mag der König, in unserer Erinnerung, Krieg führen bis zum Jüngsten Tag.

Nach achttägiger Fahrt war das Regiment zu seinen neuen Standplätzen endlich gelangt und teils in einer kleineren Stadt, deren Bewohner die fast schon orientalisch anmutende Gewohnheit hatten, bei Tag zu schlafen und Nacht für Nacht bis zum Morgen in den öffentlichen Gärten und Teepavillons sich zu unterhalten, teils in entfernteren Dörfern einquartiert worden. Der Landstrich war, um diese Zeit unerträglich heiß. Trat man zu den Leuten in die Zimmer, so knirschte es einem unter den Schritten von toten Fliegen. Enorme Fabriken, wie Haufen aufeinandergeworfenen, verrosteten Eisens, und turmhohe Gesteinshalden und Aufbereitungen aus dem Inneren der Bergwerke zeigten sich hin und hin über der ganzen Ebene. Zwischen der Stadt und den Dörfern aber waren die Wege häufig abzureiten, damit, für den Fall der Gefahr, Ordonnanzen sich zu den entfernten Abteilungen sicher durchschlagen könnten. Beordert, solche Reiter zu instruieren, fand ich die Kurgane.

Indem ichs gefolgt von etlichen Korporalen und Dragonern, unter dem leisen Anschlagen der Säbel an die Sporen und dem Schnauben der Pferde, auf deren Sommerfell die Sonne glänzte, eine Erhebung hinaufritt, sah ich vor mir den ersten Kurgan. Die eigentliche Natur des etwa zwanzig Fuß langen, zehn Fuß breiten und übermannshohen, steinuntermengten Rasenhügels, der sich wie der Rücken eines riesigen Tieres drohend aus der Steppe erhob, war nicht sogleich festzustellen; doch ging, kaum daß er einem ins Auge trat, auch echon ein schwer zu beschreibender Eindruck von ihm aus, unibestimmt zwar, aber in rätselhafter Weise aufs tiefste ergreifend wie eine Art magischen Schreckens. Es war nicht einzusehen, warum uns der grasige Gegenstand auf einmal so sonderbar ansprach oder was sonst Unheimliches von seiner runden Erhebung ausging wie von einem schweren Atemzug der Erde. Aber während des Amhaltens der Pferde hörte plötzlich auch der schwache Luftzug auf, der einem das Gesicht abgekühlt hatte, die umgehängten Pelze lagen schwer und heiß auf dem Zügelarm, und das Gespenstische des Mittags war völlig da.

Ich saß ab, ich ging auf den Erdhügel zu. In Abständen von Viertelstunde zu Viertelstunde etwa zeigten sich, unter dem weißlichen Himmel der Steppe, andere derlei Kurgane, in zwei deutlichen Reihen von Osten nach Westen ziehend, abwechselnd links einer und rechts einer, gleichsam wie Fußstapfen eines ungeheuren Tieres. Eine Richtung war sogleich wahrnehmbar, die Hügel sahen wie Wegzeichen aus, wie eine Straße, eine Heeresstraße; und kaum war dieser Gedanke gefaßt, so erzeugte er auch schon Leben. Es waren Völker hier gezogen: das stellte sich nun auch in der Einbildung dar. Als rieselte Wind durch das Gras, als schlichen die Füße Unsichtbarer, fing in der heißen Stille des Mittags ein Geräusch wie von vielen Schritten an, von geisterhaften Schritten sich bewegender Menschen und Pferde, ein leiser Lärm wie von Wagen und Vieh, schwach im Anfang, dann deutlicher, und ein Glitzern ging auch in der Luft mit, man bildete sich ein, einen zarten Andrang zu spüren wie vom Luftzug der vielen Phantome. Die Stelle war zauberisch, ganz offenbar. Kaum waren sie gedacht worden, so zogen sie auch schon wieder vorbei: Völker, von Osten nach Westen. Das war ihr Weg gewesen und der innere Hinweis dieses Wegs auf ein Ziel zu, sein Zwang, zu geleiten, war, auch nach Jahrtausenden, immer noch so stark, daß die Bewegung Wandernder in ihm unsichtbar lebendig blieb. Dieser Heerweg füllte sich, sowie einem nur der Gedanke daran kam, mit Schatten, ziehenden Schatten, wandernden; und da, mit einem neuen Erschrecken, fiel einem bei, daß, wenn Völker hier gegangen wären, auch das eigene dabei gewesen sein müsse oder eines der vielen Völker, aus denen man her war, Leute aus eigenem Blut, aus dem Osten nach dem Westen ziehend, an die hundert Geschlechter uns voraus, aber doch aus ganz demselben Blut, das man noch in sich selber pulsen fühlte. Die waren hier gezogen. Auf wen zu? Auf einen selbst. Hier, in dieser Fremde, fand man auf einmal wieder die eigene Spur.

Hier waren sie vorüber: Männer, Frauen, Kinder, nicht erst seit zwischen Mongolen und dem Wei-Volk jene Schlacht geschlagen worden war, mit der die Völkerwanderung begonnen, sondern schon seit früher, seit jeher: Kymmerier, Sigambrer, Mongolen, Verwandtschaft von einst, ungeheure Verheißung im blauen Blick mit sich bringend aus irgendeinem Paradies. Das war ihr Weg nach Europa gewesen, diese Kurgane waren ihre Gräber. Wie Ermüdende zu Seiten der Straße liegenbleiben, waren sie aus dem Zug des Heers getreten, da hatte man sie begraben unter den heilig-drohenden Malen der antikischen Kurgane, als Wegweiser der Zukünftigen, diese, die Toten, die man hier in der Ferne wiederfand, sie, die so gewesen waren wie wir selbst. Die ganze Erschütterung, die geheimnisvolle, furchtbar-sinnliche Gewalt des Blutes fühlte man bei diesem Wiederfinden. Zu denken: Hier waren sie zu Pferd begraben, die aus dem Völkerzug, hier, angesichts ihres Weltweges, schwand die Zeit zu nichts, noch immer war alle Wanderung im Gange wie seit je, und als man wieder aufsaß um weiterzureiten, trug einen das lebendige Pferd noch immer so, und mit allen Waffen, wie, innen im Hügel, den gewaffneten Toten das tote.

(Aus „Götter und Menschen“, Paul Zsolnay-Verlag)

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