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Unbekannte Ufer

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„Gottes Wälder sind überall zerstreut“, sagt Selma Langerlöf in ihrem „Gösta Berling“. Hier soll von Gottes Ufern die Rede sein, von jener Küste, über deren Ungastlichkeit Ovidius Naso seine Klagelieder sang, wo man noch heute die Stätte zeigt, an der Iphigenie ahnungslose Fremdlinge dem Meeresgott opferte, die aber ein Kranz blühender Griechenkolonien säumte. Hohe Felsen oberhalb des. weißen Strandes tragen alte Klöster und noch ältere Befestigungen, die Vergangenheit und Namen haben. Sanfte, fruchtbare Bodenwellen, goldbraunes Weingebirge und Steppengelände wechseln bis zu der großen Hafenstadt.

Neben jenen bekannten, auch berühmten Ufern besitzt dieses Meer einsame Gestade, von denen soviel Romantisches und auch Grausames zu berichten wäre. Dort erheben sich keine Luftschlösser. Der schmale Strand, eingeengt zwischen Felsen, Erdwall und Wasser, wäre dazu wenig geeignet.

Vom Schiff, das auch hier vorbeifährt, entdeckt der Weltenbummler dicht am Wasser ein paar zusammengebastelte Hütten. Es fällt seiner Phantasie nicht leicht, sich in diese sonderbaren Wohnhäuser zu versetzen. Aber was sich von der Ferne als Siedlung vermuten läßt, würde sich ihm in der Nähe als primitive, drei bis vier Meter hohe, mit Schilf gedeckte Zelte entpuppen, in denen einige Dutzend Menschen hausen.

übrigens eine merkwürdige Gesellschaft, die dem Fremden manche Überraschung bietet. Kräftige Männer stehen vor ihm, mit üppigen Barten, so daß er zunächst an die Banditen Stjenka Rasins denken möchte, des von Sage und Lied umwobenen Wolgaräubers vergangener Jahrhunderte. Der Gast sieht sich von ihnen umgeben, während Frauen und Kinder mehr erstaunt als scheu den Eindringling beäugen. Die erste Aufregung hat sich bald gelegt. Er bemerkt die meisterhaft bewältigte Disziplin, völligen Frieden und wohltuende Einigkeit, Hilfsbereitschaft in erschütternd echter Kameradschaft.

Eine vergnügliche Sache, mit Hilfe eines Zufalls in ein Reich einzudringen, das wie ein verkleinertes Abbild einer vorsintflutlichen Welt anmutet. Du stehst mittendrin, gaffst die Leute an, kommst dir ungeheuer zivilisiert vor, aber es dauert nicht lange und du erkennst, daß es die Welt ist, wie sie der Schöpfer ursprünglich haben wollte.

Jahrzehnte sind dahingegangen, seit ich sie zum letzten Male sah, aber mir ist, als vernähme ich noch die tiefen Stimmen dieser Männer. Rauhe Gesellen — aber man gewinnt sie lieb und lernt ihre Ausdauer und einfache Größe bewundern. Ihr Leben — dieses merkwürdigste aller Fischerschicksale — ist so reich an Ereignissen und Abenteuern, daß die Wahrheit genügt, um es der Romantik einzuverleiben.

Das erstemal sah ich sie, als ich den langweiligen Gästen meiner Tante entfloh und über die moosbewachsene Treppe zum Meer hinabstieg. Einige Minuten später hatte ich über dem Erdwall das Fischerreich betreten, und damit hörte zunächst die gesellschaftliche Welt für mich auf. Auf einer Linde grüßte mich ein Clld unter einer kleinen Holznische, St. Nikolaus, vor dem ein einsames Licht glomm, der Patron der Fischer. Eine Menge Barken lag vor , mir auf dem Strand, umglüht von Sonne, umtobt von Wettern und Winden. Aus dem Dunkel ihrer „Kurinjs“ tauchten Menschen auf, schon mit Lachen und Schwatzen auf den

Lippen, samt ihren Hütten, den Booten und dem stillen Meer, von dem grellen Licht wie. zum Malen umstrahlt. Lieder erschollen, klangen herüber zu St. Nikolaus, wo ich stehenblieb und ihnen lauschte, uralte Lieder, die ihre Väter und Großväter schon gesungen haben, lange vor Peter dem Großen und den Orgien Katharinas der Zweiten.

Ich wagte mich näher heran. Als man mich entdeckte, gab es schier lautes Gewieher. Ich hatte wohl für ihre Begriffe ein viel zu feines Kleid an. Trotzdem boten sie mir ihre köstliche Fischsuppe an, leerten rasch ihre Schüsseln, forderten mich auf, ihr übriges Mahl mit ihnen zu teilen. Plötzlich stand Wodka vor mir, gebratene Wildente, ein Hering, mit Zwiebeln, Oliven und saurer Gurke garniert.

„Das soll ich alles essen?“

„Das will ich meinen“, lachte der Fischer-Ataman, „an diesem glühend heißen Tag am Schwarzen Meer? Das gehört sich doch so, wenn ein Gast kommt.“ Er lächelte wieder und schien zu sinnieren, wie er einem jungen Mädchen, wie ich es war, eine Freude bereiten könnte. Dann hob er den Kopf und lauschte einer Herdglocke, die mit langsamem, gedämpftem Läuten von den Felsen erklang.

„Die Schafe Ihrer Tante! Gestern fiel eines vom Felsen herab und ertrank. Sie sollte besser acht geben.“

„Du solltest acht geben, daß deine Leute nicht ertrinken“, knurrte ein Männlein, dessen Sohn ein Jahr vorher in der Nähe den Tod gefunden hatte.

Ich, der diese Menschen wohlgefielen, hockte mich auf dem Sand nieder und schaute dem hübschen „Ali Baba“ zu, wie seine flinken Hände die Netze flickten. Der einzige Sohn des Atamans, und nicht nur sein Liebling, auch der sämtlicher Uferbewohner. Sein Witz und sein Flötenspiel brachten stets Abwechslung und Fröhlichkeit in die Einsamkeit der Fischer.

Mich stimmte der Anblick dieser Leute über alle Maßen heiter und glücklich. Ich wunderte mich, daß es mir bis zu diesem Tage nicht eingefallen war, Farben und Staffelei mitzubringen und ihnen meine bescheidene Kunst zu widmen. Ich war jung, und es schien mir das Beste, das Kindliche meines Einfalles zu belächeln und einen Künstler herzuwünschen. Ein Großer muß es sein, der den Pulsschlag dieser Menschen fühlt, ihre Tapferkeit erkennt und ihr Leben zu erfassen vermag.

Einmal kam ich um fünf Uhr früh, um das Ereignis des reichen Fischfanges mitzuerleben. Die Fischer werfen ihre Netze gewöhnlich des Nachts aus. Bei Tagesanbruch winden sie Seile um die Hüften und beginnen die mächtigen, weit ins Meer reichenden Geflechte ans Ufer zu ziehen, indem sie sich mit den Füßen wuchtig gegen den Sand stemmen.

„Hoiho ... hoiho ...“, hörte ich die Männerstimmen ertönen. Dann brach es los. Und natürlich war es „Wolga, Wolga ...“, die unsterbliche Klage einer längst versunkenen Zeit. „Wolga, Wolga, das Blutmütterchen“, das so viele gebiert und so viele begräbt. Höher steigt und tiefer sinkt der gewaltige Chor, bis er sich in leisem, melancholischem Summen verliert.

Das Meer wirbelte und leuchtete, und als man die Netze herausgezogen hatte, blitzte schon das erste Silber zwischen den Maschen. Zahllose Fische erhoben ihre Köpfe und schnellten ihre wendigen Leiber aus dem Wasser. Dann teilte sich die gefangene Schar und taumelte erschrocken auseinander. Schlanke Makrelen schössen empor. Schöne, fette Kerle waren es, die ihre unbeweglichen Augen traurig auf die Menschen richteten.

Endlich gewahrte man mich. Natürlich las man den edelsten Fang für mich auf. Die Männer lachten nur; denn seit ich ihre „ Kurinj“ und ihre Kinder- konterfeite, hingen sie mir mit heimlicher Zuneigung an. So bekam ich die fettesten Bissen, bis der späte Herbst uns schied.

Jetzt jubelten sie, als sie das endlose Gewimmel überschauten. Aber wiewohl es Gottes Geschenk war, lachten und lobten sie einander, und erst nach der Mahlzeit sparten sie nicht mit frommem Dank an den Schöpfer. Es ist nicht der flammende, stürmende Glaube, der sie bewegt, ihn zu preisen; es ist schlicht die Liebe der Menschen, die mit Gott nicht hadern, sondern das Ungleiche irdischer Schicksale als selbstverständlich auf sich nehmen.

Ein ruhiger, sonniger Tag lag über dem Meer wie stille Freude über Kinderherzen. Ich malte einen bärtigen Mann, der wieder einmal sein Boot anstrich. Himmel und Wasser boten sich endlos, weitenblau, wolkenfrei, über dem Feuer hingen rußige Kessel, in denen Grünzeug und Fische brodelten. Plötzlich hielt der Mann mit der Arbeit inne und schaute auf die See. Und dann brach auch ich ab und schaute wie er. Was er sah, erblickte auch ich. Es lag eben ein Stück Feindseligkeit quer über dem Himmel.

Der Ataman befahl einigen Burschen, hinauszurudern, um die Netze zu sichern. Seine Frau brach in Tränen aus, weil Wassilij, ihr Sohn, mitfahren mußte. Der junge Bursche erblaßte vor dem Ausbruch. Aber er wankte und wich nicht, und sobald sich seine Mutter entfernte, bestieg er als fünfter Mann die Barke.

Am nächsten Tag sollte ich Patin bei einem neugeborenen Mädel sein. Als wir aus der Kirche zurückkehrten, sahen wir mächtige Feuer am Ufer lodern. Mein Onkel hatte ein Ferkel gestiftet, das jetzt lichterloh über dem Feuer schmorte. Auch Schnaps war zur Genüge da. Jeder durfte einen kräftigen Schluck tun. Das taten sie denn, ohne zu zählen, obwohl es wieder stürmischer wurde und der Tag zur Neige ging. Aber sie hatten, wenn sie feierten, wenig Gefühl für das Schwinden der Zeit.

Vier Männer lösten sich aus dem Trinkgelage und ruderten hinaus; denn morgen war auch ein Tag, und man mußte fischen, um zu leben. Heute schien ihnen das Meer wie — ein Spielzeug, ähnlich einem großen Schaukelpferd. Dabei boten sie einen seltsamen Anblick, als sie im Wettersturz in ihrem Boot kauerten, ihre erschrockenen Gesichter dem Himmel zugewandt. Oben war es wie ein blutiger Kampf, den Dämmerung und Nacht miteinander ausfochten.

In einem vernünftigen Augenblick während des Tanzes löste sich Wassilij von dem Mädchengeranke. Draußen bei den Booten gewahrte er einige Jungen. Keiner sprach, aber es ergab sich deutlich genug, daß die Sorge um die Männer im Sturm sie marterte. Bevor Wassilij etwas sagen konnte, wurden alle durch einen gewaltigen Donnerschlag aufgeschreckt, der den Zauber der Musik im Zelt auslöschte.

Acht starke Hände beförderten ein zweite Barke ins Meer. Wassilij selbst sprang als erster hinein. Seine Mutter lief zu St. Nikolaus, brach in die Knie und richtete ein Bittgebet an den Heiligen. Jetzt war der Schrecken allgemein und allgegenwärtig bis auf die Zechbrüder in dem „ Kurinj“ der Wöchnerin. Sie tranken eins auf das und jenes, sie tranken ein Mehreres auf das Glück des Kindes, sie leerten ihre Gläser, bis die überwältigende Mehrzahl auf dem Sandboden lag und von dort aus immer noch Lieder lallte.

Die Blitze kamen blendendweiß, Schlag auf Schlag, so daß das ganze Ufer von gewaltigen Scheinwerfern erleuchtet war.

Die Spitzen der Zelte stachen schwarz gegen die unheimliche Lichtflut, und das Wasser fiel schon in Sturzbächen hernieder.

Kinder und Frauen' rüttelten an den Männern, schlugen an die Alarmglocke. Der Wind kam durch die kahlen Felsen-ris'se, fegte zur See hinab mit dem Lied des Todes, das er unzählige Male an diesen Ufern sang.

Der Knecht kam mit einer Laterne und holte mich hinauf, und erst frühmorgens erfuhr ich die neueste Fischertragödie; die Männer des ersten Bootes und zwei von dem nachfolgenden, darunter Wassilij, waren ertrunken.

Das Meer war wieder klar wie Glas; Sand und Kiesel leuchteten golden auf dem Grund. Zwischen den kleinen, sanften Muscheln flitzten Silberfischlein hindurch. Das Meer lachte und lockte zu neuem Fang und — ließ die Fischer manchmal nie mehr zurückkehren.

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