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Gott trauckt die Mensclien

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Die Insel lag in Dunkelheit. Jähe Stürme wühlten die See auf, jagten weißen Gischt an Kap Raz empor, verboten den Barken die Ausfahrt. Doch gab -es wenige ganz düstere Tage, und der Unterschied zwischen den Jahreszeiten war zwar deutlich, aber nicht so scharf wie am Kontinent. Zur Ebbezeit grünten die Algen am Strand und die Farbschichten hoben sich klar voneinander ab wie im Regenbogen oder an den Flanken der Schiffe: hartgraues Geröll — brauner und schwarzer Meeresauswurf — gelblich und lichtgrau schimmernder Kiesel — mattgelber Sand — und samtgelber Fels, grüner, schwarzer und goldener Fels. Stieg die Sonne hoch, irisierten Sand und Stein und jeder Wassertümpel spiegelte den Himmel. Kein kahler Baum, kein Stoppelfeld zeugte vom Winter auf der Düne, die nur täglich flacher dalag und blütenlos.

Aber da war der Wind. Der Wind, von der Kälte geschärft, der neue Wind aus dem Nord verhinderte jeden Trug der immer noch milden Tage. Seine langen Äste griffen plötzlich aus, schössen als eisiger Garten zur Höhe, seine frostigen Blüten fegten dahin, fielen auf Stirne, Lippen und Brust. Als wogendes Feld rollte er in die Weite, warf er sich über die Erde, als wolle er Wurzel schlagen, als wolle er laichen und nisten auf ihr. Denn sprang er die See an und zwang sie, ihm zu Willen zu sein. Sie machte sich hohl und sie bäumte sich auf, sie schüttelte zornig ihre milchweiße Mähne, aber der Wind jagte sie auf, sprühende See über der See, bis sie niederbrach unter den Krallen des Regens.

Aber da war die Nacht. Das Licht, immer karger und immer grauer, trug nicht mehr und nährte nicht mehr. Die Insel versank in die Finsternis, und nun gewann das Meer an Gewalt. Aber die Insel war auf der Hut. Wollte das Meer sie, eines Nachts, zur Hälfte verschlingen? Schon zerflossen auch tags im bösen Zwielicht Form und Gestalt, schon verbargen sich tückisch Klippe und Riff, die alten Feinde der Barken, im schäumenden Meer. Heimliche Stürme, Palastrevolutionen am Grunde der See warfen regellos Tang und Fels an den Strand, brachten die Ufer zum Einsturz, machten das Hohe niedrig, das Niedrige hoch. Diese irren Gewalten, fürchterlich in ihrem Wahn — wehe, fanden sie eines Nachts, gesammelt, ein Ziel: die Vernichtung der Insel!

Wild rangen die Leute von Sein noch den Ungewittern Gewinn ab — in ihrem Tiefsten doch hatten sie Angst, in ihrem Tiefsten lag das Entsetzen. Grausam lockten sie eines Nachts, vielleicht, ein Schiff an die Klippen — aber zum Großteil war dies Rache und Durst nach Gerechtigkeit. Die Rache meinte das Meer und traf die Matrosen, aber sie traf, Schlag um Schlag, und darauf kam es an!

Fiel der Wind nur ein wenig, so fuhren die Männer hinaus, und auch wenn 6ie nicht fuhren, fischten sie noch in der Bucht. Spannten Seile von Block zu Block, von den Seilen hingen die Angelschnüre und an den Angeln fing sich der Fisch. Welches Vergnügen, mitten im Sturm und Chaos aus dem wüsten Anfluten der See so ein schönes Geschöpf zu holen, dessen Schwanzschlag nicht blindlings geschieht, dessen Körper Gestalt ist, nicht Schaum!

Der beste Fang ging in diesen mageren Zeiten täglich ins Piarrhaus. Im Pfarrhaus saß Thomas, ein Fischer wie die andern Menschen dieser Insel. Als durch Jahre kein Pfarrer auf die Insel kam, hatte er sich des Volkes erbarmt, war ins Pfarr-bao« gezogen und hatte jeden Sonntag das Evangelium verkündet, hatte die heiligen Handlungen vollzogen, hatte die Kinder getauft, die Toten bestattet, so gut er konnte. Bis eines Tages dies alles dem Bischof von Quimper zu Ohren kam und er schnell dies alles abstellte. Thomas mußte das Pfarrhaus verlassen.

Die Insel und Quimper blieben von nun an in Kontakt, doch gelang es dem Bischof nicht, einen Priester zu finden, der es gewagt hätte, sich für die Dauer auf dies „verlorene Riff“ zu verbannen. Nur von Zeit zu Zeit fuhr ein Geistlicher hinüber, las eine Messe und spendete die Sakramente.

In Sein schwelte Unzufriedenheit. Sie hätten kein Verbrechen begangen, als sie Thomas zu ihrem Pfarrer machten, murrten die Leute. Ein verlassene« Kind dürfe jeder Mann adoptieren, ein verlaufenes Schaf jeder Hirt in seinem Stalle bergen — warum dann nicht Thomas eine verlorene Pfarre? Er sei nicht Priester gewesen, ehe er sie barg, aber al« er sie barg und hütete, Priester geworden! Was niemand sonst wolle, sei dem, der es fände, zu eigen. Quimper sehe in Sein eine zweite Stadt Ys, ein

Dorf, das über Nacht im Meer versinken und nur noch traurigen Glockenklang emporsenden werde. Thomas dagegen habe sein Riff gesegnet und ihm Widerstandskräfte verliehen: Sturm und Wogen würden es nicht.überwältigen, wenn es sich nur selbst nicht verloren gab.

Als seine Boten ihm meldeten, die Gemeinde werde Thomas binnen '^kurzem zwingen, wieder ins Pfarrhaus zu übersiedeln, berief Seine Eminenz ihn nach Quimper und bot ihm an, im dortigen Priesterseminar vier Jahre lang auf bischöfliche Kosten zu studieren. Auf die flehentlichen Bitten der Seinen hin nahm

Thomas an. Es wurden die härtesten Jahre seines Lebens. Es gelang ihm nicht, sich in das Studium hineinzufinden. Er konnte lesen und schreiben und verstand das Latein der Messe — aber mehr wollte und konnte er nicht. Durch das eigene Versagen unausgesetzt gedemütigt, von der Sinnlosigkeit der ihm gestellten Aufgabe im besonderen und all dieser Abstraktionen im allgemeinen überzeugt, fühlte er sich todunglücklich. Er sehnte sich nach seiner rauhen Insel. Regen und reiche Vegetation ersetzten ihm nicht den Wind aus den Weiten. Er war viel älter als seine Kollegen und blickte auf sie herab. Den Händen dieser Bürschlein sollten große Pfarrgemeinden anvertraut werden! Er, er hatte schon eine Pfarre auf seinen Schultern getragen, er fühlte sich als erfahrener Praktiker. Er hatte Beichten gehört, Gott auf , den Altar heruntergerufen, hungernden Lippen die Hostie gereicht. Er kannte die Starrköpfigkeit der Alten, die wilden Leidenschaften der Jungen, den Zwang und die Abstumpfung der Armut. Er kannte Verbrechen, Laster und Opfertat. Auf einer Insel ereignet sich mehr, als solche Grünschnäbel auch nur ahnen!

Während Thomas,“ fern den Gewittern, fern dem Sonnengefunkel auf Düne und Tang, sich vergeblich mit den Büchern herumschlug, war die Insel stolz auf ihn. Sie würde ihren eigenen Priester haben, würde im Wichtigsten, das es im Leben gab, vom Festland unabhängig sein. Sie brachte nicht ihr Brot, aber sie brachte ihren Priester hervor so wie sie aus ihren Gewässern ihre Fische holte. Man durfte niemals verzweifeln: ehrte der Bischof jetzt nicht die Insel, belohnte er sie nicht für den Kampf, den sie gegen die eigene Trägheit geführt? Als des Bischofs Gast oblag ein Mann von der Insel dem Studium der Gotteslehre!

Als Thomas bei den Prüfungen durchfiel und wegen Unfähigkeit auf die Insel zurückgeschickt wurde, riß die Geduld der Seinen. Ein Fallstrick war ihnen gelegt worden und gerade von ihm, dem dies am wenigsten zukam: vom eigenen Bischof! Unfähig ein Mann, der so hinreißend predigte und dem eine ganze Insel aufs Wort folgte! Vier lange Jahre hatte man ihnen allen guten Trost entzogen: das Wort Gottes, die Messe. Sie hatten dieses Opfer willig gebracht, weil es das Ende ihrer Leiden bedeuten sollte. Und nun, da sie ihre Demut und ihre Sehnsucht bewiesen hatten, im letzten Augenblick, brach der Bischof sein Wort! Vergeblich versicherte ihnen Thomas, das Bücherwissen sei ihm einfach zuwider, und so hätte man ihn bei den Prüfungen eben nicht durchlassen können — sie glaubten kein Wort davon und zuckten nur die Achseln: er sei doch sonst nicht so naiv! Das Ganze sei ein Schwindel, eine abgekartete Sache, und Thomas' Mißerfolg sei von Anfang an beschlossen gewesen! Man konnte ja alles so leicht erklären: dieser Fischer war eben zu alt und zu unwissend — man konnte bei bestem Willen keinen Priester aus ihm machen!

Die Insel glaubte sich also betrogen und begehrte auf. Thomas, von den vier zwischen Büchern und Mauern verbrachten Jahren zermürbt, bat inständig, man möge ihn in Ruhe lassen, aber die ganze Gemeinde, an ihrer Spitze seine eigene ' Familie, drang täglich mehr in ihn. Die schlechtesten und die besten Argumente mußten herhalten. Er möge doch wenigstens wieder ins Pfarrhaus übersiedeln, denn er wäre jetzt doch nur mehr ein sehr mittelmäßiger Fischerl Er hätte die Pfarre schon früher gut geführt, er würde sie jetzt noch viel besser führen!

Thomas ließ seine Insel nicht im Stich: eines Tages nahm sie seine Zustimmung im Sturm, und wieder, wie in der glücklichen Zeit, da er ihr die Gnade Gottes zurückbrachte, hatte auch der graueste Morgen seine heilige Handlung, empfing auch der armseligste kranke Alte die heilige Kommunion. Wieder war die Insel Sein kein Riff, kein Felsbrocken im Chaos der Wogen, sondern sie war eine christliche Pfarre, und das Meer rings um sie war der Pfarrgarten.

Der Bischof gab vor, nichts zu bemerken, aber seine Beauftragten behielten die Insel im Auge.

Eines Morgens im Sommer kam der Pfarrer von Leseoff herüber mit der Botschaft, Seine Eminenz habe neue Erkundigungen eingezogen und sei daraufhin anderer Ansicht geworden. Er wolle Thomas bei erster Gelegenheit im Dom von Quimper zum Priester weihen!

Der Pfarrer von Leseoff und der zukünftige Pfarrer von Sein fielen einander in die Arme, und am Abend, als alle Boote vom Fischfang heimgekehrt waren, rief die Glocke der Kirche die ganze Insel zu einem festlichen Tedeum. Zwar war Thomas noch nicht zum Priester geweiht, aber eine Unregelmäßigkeit mehr oder weniger spielte schon keine Rolle mehr, und so überließ M. Kerharve Thomas die Feier der Zeremonie, Die Leute brüllten das Tedeum lauter als je zuvor.

Schon mehrere Male hatten sie in der Vergangenheit dem Lob Gottes mit äußerster Tonstärke zu dienen geglaubt — heute aber entdeckten sie in ihren Lungen ungeahnte Quellen neuer Kraft.

Die Sonne neigte sich zum Horizont. Die Insel war ruhevoll und still. Fische für den Winter trockneten auf den heißen Steinen.

Aus dem Roman „Gott braucht die Menschen“, Verlag Herold, Wien VIII.

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