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Der Unbekannte von Ciurea

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Der herbe Atem des Frühlings schlug dem alten Mann entgegen, der unbeholfen aus dem Abteil kletterte. Er wartete mit gesenktem Kopf auf den Pfiff der Lokomotive, das Zischen unter den Rädern, das Rattern des weiterfahrenden Zuges. Erst als sich der Rauch in blauen Schleiern über den Feldern verflüchtigt hatte, sah er wieder auf, lächelte scheu und hob die Arme, als wolle er die Steppe umfassen, die sich weit und ohne Grenzen nach allen Seiten hin dehnte. Der Zug war verschwunden, und die Stille brachte wieder das Knistern des Windes im trockenen Schilfgras neben den Gleisen näher, den Unkenruf aus dem grünen Sumpf, die Lerchenstimmen am durchsichtigen Himmel. Hunde-bellen mischte sich dazu, verwehte Rufe, Schafgeblök.

Der Bahnwärter streifte den Ankömmling mit unsicherem Blick. In der Osterwoche fuhr keiner mit dem Zug von einem Ort zum andern, wenn nicht ein ganz dringender Grund vorlag. Der Kleidung nach war der Fremde weder Bauer noch Städter, doch irgendwie kam dieser hagere Alte mit den grauen Bartstoppeln im zerfurchten Gesicht, der tief in die Stirn gedrückten Pelzmütze ihm bekannt vor. „He, wohin gehst du?“ rief der Bahnwärter und zuckte die Achsel, weil der andere nicht antwortete, sondern in plötzlicher Hast, als sei ihm der Weg ins Dorf vertraut, über die Böschung setzte, seinen Knotenstock in den weichen Boden schlug und sich rasch entfernte. „Er ist wohl doch aus unserer Gegend!“ Der Bahnwärter sah ihm unschlüssig nach, rollte das rote, rußige Fähnchen zusammen, klemmte es unter den Arm und schlurfte in das niedrige Stationsgebäude. Es war eine unbedeutende Haltestelle, an der die Güterzüge vorbeirasselten, der Schnellzug kaum seine Fahrt verlangsamte, sondern höchstens mit kurzem, hochmütigem Pfeifen die kleine Station grüßte. Nur der Personenzug hielt an und wartete geduldig, bis die Dörfer der Umgebung mit ihren Säcken, Körben, gackernden Hühnern und schreienden Kindern ein- und ausgestiegen waren. Aufträge wurden mitgegeben, Hände geschüttelt, und der Lokomotivführer winkte zum Abschied aus dem Fenster. An diesem Karsamstag jedoch war außer dem Fremden kein Reisender zu sehen.

Die nächste Gemeinde lag eine gute Stunde entfernt, wenn man rüstig ausschritt. Im Winter brauchte man doppelt so lange. Dann wurde selbst der Gang des Kräftigsten gebückt und mühsam in dem Nordwind, der ihm den Atem von den Lippen stahl; Schnee trieb in Fahnen über die Steppe , und wirbelte ihn zu hohen Wächten zusammen, die den Weg verlegten und die Menschen in die Irre schickten.

In der guten Jahreszeit war es anders! Der alte Mann ließ sich müde und glücklich zu Boden sinken. Jetzt erst, da seine Finger in die Erde griffen, fühlte er sich daheim. Seine Augen suchten die dampfenden Wiesen ab. Immer noch ragte der Ziehbrunnen wie ein abgeknickter Arm aus dem Dunst. Sicherlich stand auch das Holzkreuz noch daneben, mit dem gemalten Christus zwischen Hahn, Leiter, Zange und Hammer aus rostigem Blech. Dort beim Brunnen hatte es begonnen ...

Er war damals ein junger Mann von achtzehn Jahren gewesen und gerade vom Markt zurückgekommen. Der Bahnwärter — ein dicker Mann mit rotem Gesicht, das immer von Schweiß glänzte — hatte vor dem Stationsgebäude gestanden und neugierig gefragt: „Was hast du in der Stadt getrieben, daß du so spät zurückkommst, Vasile? Die Leute aus Dobrunu sind schon lange zurück. Gründonnerstag ist heut!“ „Auf einen Tag wird es nicht ankommen“, hatte er lachend erwidert, den Sack mit den Ostereinkäufen geschultert und nach den Münzen im Gurt getastet. Dann war er pfeifend querfeldein in den linden, lerchen-durchjubelten Frühlingstag gegangen. Da und dort hatten auf den Wiesen noch rostige Gewehrkolben, Räder und zerbrochene Wagen gelegen und an die sinnlose Flucht der Städter in die Steppe erinnert. Gottlob, der Krieg war vorüber! Vasile und sein Vater hatten ihn nicht mitgemacht — der eine war zu jung, der andere zu alt gewesen. Sie lebten seit dem Tode der Mutter zu zweit in dem kleinen Gehöft am Dorfrand, wo der Wind im Winter mit Distelköpfen an die Fenster klopfte und Unkrautsamen in die kleinen Gärten trug.

Die Leute von Dobrunu waren genügsam, unwissend und fromm, hielten an den Geboten fest, gaben Glauben und Aberglauben an ihre Enkel weiter. Selten verirrte sich ein Fremder in die Baragan-Steppe. Deshalb hatte sich Vasile gewundert, als er beim Ziehbrunnen eine fremde Gestalt in zerfetztem Soldatenmantel wahrnahm, die auf ihn zu warten schien. Der junge Bauer hatte tastend nach dem Messer im Gurt gegriffen — einem frisch geschärften, handlichen Messer, das er zum Schlachten der Lämmer benutzte — und war wortlos auf den Brunnen zugegangen.

Fuselgeruch war aus dem Munde des Fremden gedrungen, in dem eigentümlich rot-schwärzliche Zahnstummel zu sehen waren. Schmutzige, harte Hände hatten Vasile gepackt, während das erdverschmierte, aufgedunsene Gesicht näher kam und der Fremde fragte: „Was hast du in deinem Sack?“ Dann hatte er gelacht, ihm zugetrunken und von seinem Plan erzählt.

Er habe, so sagte er, bei Ciurea ein paar Eisenbahnschwellen entfernt, dadurch einen Zug zum Entgleisen gebracht und dann die Reisenden be-stohlen, mußte jedoch die Beute zum Teil wieder fallen lassen, weil man hinter ihm her gewesen sei. „Du kannst reich werden, wenn du mir hilfst. Es ist ganz leicht: wir heben zwei, drei Schwellen aus — auf offener Strecke. Wir verstecken uns in der Nähe, und das Übrige geschieht allein.“ Die Augen waren vor Erregung aus den Höhlen getreten. „Wir warten, bis alles vorbei ist, dann schleichen wir uns heran. — Es wird alles durcheinandergehen ... wird Tote und Verwundete geben. Du brauchst nur zu ernten — da einen Ring, dort ein Armband, einen Koffer, eine Uhr. Du kommst mit!“ Der breitschultrige Mann im Uniformmantel hatte ihn befehlend angesehen und eine Axt in der Hand geschwenkt.

„Komm nur mit nach Ciurea! Doch erst gib das da her!“ Unvermutet hatte er dem Bauern das Messer aus dem Gurt gerissen.

„Laß mich gehen, ich will nicht — ich kann nicht!“ hatte Vasile bitten wollen, stattdessen jedoch die Lippen zusammengepreßt. „Ich muß mit, um es zu verhindern!“ Ein erniedrigendes Gefühl der Mitwisserschaft hatte ihn an diesen Menschen geheftet, wie im Sog eines schmutzigen Lastenkahns war er hinter ihm hergezogen, bis sie zum Bannemin gelangten.

„Rasch, bevor es dunkelt!“ hatte der Fremde gedrängt, und er war entschlossen gewesen, ihm die Hände in den Hals zu krallen, sobald sich eine Gelegenheit bot. Der andere schien die Absicht zu fühlen, denn plötzlich hatte er höhnisch gelacht, die Axt gehoben und war ausgeglitten. Kämpfend war auch Vasile zu Boden gegangen. Sie hatten nicht gemerkt, daß es dunkelte, den Pfiff der Lokomotive nicht gehört. Erst als sich der Zug mit gelben, bösen Augen näherte, war Vasile aus der Umklammerung freigekommen und auf ein Trittbrett gesprungen. Hinter sich hatte er einen spitzen Schrei gehört und sich — während der Zug ruhig seine Fahrt fortsetzte — ständig gefragt, ob der andere umgekommen und er selbst an seinem Tod schuld sei. Zitternd hatte er in einem Winkel des Abteils gehockt und war bei der nächsten Haltestelle unbemerkt ausgestiegen. Nicht mehr nach Hause! Vielleicht war er schuldig.

Alles war längst vergangen und überwunden. Die Angst, die Selbstvorwürfe, das Heimweh... In der ersten Zeit hatte er an eine Rückkehr nach Dobrunu geglaubt, mit den Jahren jedoch den Gedanken von sich geschoben. Wozu? Der Vater lebte sicher nicht mehr. Das Leben verging mit Arbeit und Mühsal. Jetzt besaß er eine Kürschnerei, erwachsene Kinder, eine zänkische Fräu. „Woran denkst du, Vasile?“ wollte sie wissen, wenn er nachts wach lag: Er antwortete nicht, malte sich seine Rückkehr nach Dobrunu aus.

Jetzt, endlich, war es kein Traum! Der Alte stand auf und setzte seinen Weg fort. Die Sonne versank hinter der Einsamkeit der Felder und die Steppe färbte sich rot. Immer noch säumte die Dornenhecke das Dorf, duckten sich Lehmhäuser unter Strohdächern, bellten heisere Hunde hinter Lattenzäunen. Da der Abend den Rauch niederdrückte, roch es süßlich nach Rutenfeuern und verbrannten Stauden von Kletten, Brennesseln, Disteln. Die Gasse war feiertäglich leer. Aus der offenen Kirche drangen Weihrauch und fromme Lieder. Er nahm die Fellmütze ab und trat ein. Alle Gesichter drehten sich ihm zu, der Gesang stockte. Der weißbärtige Pope starrte ihn an, und seine Hand, die das Weihrauchfaß geschwenkt hatte, blieb erschrocken in der Luft hängen, ehe er mit der Litanei fortfuhr.

Augenpaare stierten ihn an, die Blicke saugten sich an ihm fest Im Gestühl der alten Leute begann halblautes Getuschel. Er bemerkte, wie sich die Bauern zunickten und einen Halbkreis um ihn bildeten. Ihre breiten Rücken mit den Schafpelzen schoben sich zur Tür und verwehrten ihm den Ausgang. Was wollen sie von mir? Warum sehen sie mich alle so gehässig an? Plötzlich überlief ihn heiß die Erkenntnis: Die Rückkehr eines Mörders bedeutete für die Dörfler die Ankündigung schweren Unheils — Seuchen, Brand, Hungersnot konnte sie treffen, blieb eine solche Tat un-gesühnt!

Er war also doch tot damals! Er sah sich um. Dort steht Ilie, der Nachbarsohn von einst, dort Dumi-tru, ein Greis, und doch kaum älter als ich. Keiner ward meine Geschichte über den Mann im Soldatenmantel glauben, diese Geschichte von Ciurea ... Alle würden sie über ihn herfallen, sobald er die Kirche verließ, ihn mit Stöcken und Steinen erschlagen! Selbst die Heiligen der Ikonen zeigten jetzt mit Fingern nach ihm, und aus dem Chorgesang klang es: „Packt ihn!“

Da begann er laut zu beten, warf sich nieder und schlug mit der Stirn auf den-Boden. „Erbarme Dich, um Deiner Auferstehung willen!“ Erschöpft, mit ausgebreiteten Armen, lag er da.

Der Gottesdienst ging zu Ende. Der Pope hob den dreiarmigen blumenumwundenen Leuchter. „Christ ist erstanden!“ und streckte ihn gebietend gegen die Menge aus. Die dunkle Mauer der Schafpelze wich zurück, eine schmale Gasse bildete sich, durch die Vasile ins Freie wankte. Niemand folgte ihm. Laut läutete die Glocke ihr „In Wahrheit erstanden!“ in den Himmel, während der alte Mann langsam zur Haltestelle zurückkehrte. Er stützte sich schwer auf seinen Stock, als drücke eine Last seine Schultern nieder.

(Copyright by Kalmer, London)

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