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Träumerei im Vorherbst

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Wann in deinem leergeräumten Garten hier und dort ein Baum, ein Strauch leise zu gilben, sich zu bräunen beginnt, wann du eines Morgens betroffen am Fenster stehst, weil es so still geworden ist ohne den vertrauten Frühgesang der kleinen Sommervögel, wann du mitten im Auf- und Niedergang zwischen den schütteren Hecken innehältst, um dir den ersten silbrigen Webfaden der Wanderspinne aus dem Haar zu wischen, stockt eine kurze, bange Weile zugleich mit dem Sdiritt auch dein Herz, und deine Seele will dich etwas fragen. Verarge es ihr nicht!

Eines Abends beginnst du dann mit verlegenem Lächeln deinen Kram zu ordnen, du sitzest eine einsame Stunde lang wiederum einmal vor alten Bildern, Briefen und Papieren. Erinnerungen sudien dich heim. Versage dich ihnen nidit! Sie nehmen sidi nur ihr Recht. Es ist ihre Zeit.

Und wann dir in der Frühe zum erstenmal wieder die Kinder mit den Schulranzen begegnen, laß es geschehen, daß ihre kleine Not, daß ihr kleines Glück auch in dir für eine Spanne Zeit wieder auferstehe, schäme dich nicht deines Besten!

Weißt du noch, wie du selbst, ein angehendes Studentlein, einmal im frühen Herbst vom Vater in die .stiftliche Studienanstalt gebracht worden warst, beim Abschied, der dein erster war, dich so wacker hieltest, aber die ganze, deine dunkelste Nacht, die deine erste in der Fremde war und in einem ungewohnten Raum und Bett, so völlig ohne Hoffnung, ohne Heimat, so bitterlich in das Kissen schluchztest?

Wir Sängerknaben waren eine Woche vor den anderen Studenten eingerückt und nützten die letzten' freien Tage noch zu allerlei Kurzweil. Gleich am ersten Vormittag bauten wir in dem geräumigen Wirtsdiaftshof (in dem wir im Winter Schlittschuh liefen auf einem kleinen, von uns selbst aufgestauten Eisgeviert) die aufgeschichteten Holzscheite geschickt zu Häusern und Burgen um, die wir bald erbittert verteidigten, bald tapfer bestürmten. Am Nachmittag durchwanderten wir mit dem Präfekten ein nahes Flußtal, machten unter Urgesteintrümmern Jagd auf „böhmische Granaten“. Mir mußte niemand sagen, daß diese Hänge von dem äußersten Alter waren, ich wußte in meinem traurigen, heimwehkranken Herzen: hier war die Ur-landschaft, weltenfern, zeitenfern, und idi darin, ich mitteninne verschollen und vergessen.

Zwei Tage erst war ich bei den Möndien im Stift, diesem riesigen, diesem labyrinthischen Bau, da machte ich, ihn durchstöbernd, eine herzbewegende Entdeckung. Für den kleinen -Jungen war der lange, ach so lange Weg über den Korridor mit den vielen Bildern der Kaiser, Äbte, Kardinäle eine hallende Wanderung in ein ungewisses, in ein geheimnisvolles Reich mit sich versdiie-benden Perspektiven. Ich stand beklommen an dem einen Ende, und an dem anderen huschte lautlos und winzig eine Puppengestalt über die blanken Fliesen, kam näher, immer tönender näher, wuchs immer größer an und heran, war ein Mensdi, ein diesseitiger Mensch wie ich und du, und sein anfängliches Wispern (er hielt ein Buch vor sich und betete) wurde mehr und mehr vernehmliche Sprache. Aus den angedunkelten Gemälden funkelte die kalte Pracht alter Fürstengewänder, funkelte streng der unruhige Blick verblichener Monarchen auf mich Zerknirschten nieder, oder es schimmerte trostreich und gütig eine vom Schmerz geheiligte Stirne auf. Ich fühlte, wie alles, was ich bisher von Raum und Zeit begriffen hatte, in mir eingestürzt war. Als ich aus meiner Erstarrung auftaute, stand groß der Pater vor mir. Ich zitterte leidit. Er drehte einen Knopf meiner Jacke.

„Ausreißer?“ fragte er. „Tschapiert?“ „Ja.“

„Mitkommen!“ sagte er streng. Ich war auf vielerlei gefaßt. Er sperrte eine große doppelflügelige Türe auf (oft bin ich später staunend vor ihren kunstreichen Intarsien gestanden), wir traten ein, standen in der Bücherhalle des Klosters, der fremde schwarze Mann war also der Bibliothekar.

„Scheint wißbegierig zu sein!“ sagte er lächelnd zu mir auf seine wortkarge Art. „Cupidus rerum novarum!“

Er zeigte mir den ungeheuren zoologischen Globus, er führte mich zu den Glasschränken mit cfcn alten Handschriften, ich kletterte mit ihm zu den kostbaren angeketteten Wiegendrucken hodi. Zwei große, braune Butterbirnen bekam ich zum Abschied. Ich mußte sie noch vor ihm, dem mein Appetit viel Spaß machte, verschmausen.

Am vierten Tage — unterdessen hatten wir gesungen und geprobt, Bücher und Hefte ausgefaßt, sie mit Schutzhüllen versehen, unsere Schreib- und Zeichengeräte zugerüstet — wartete auf mich ein arger Schreck. Der älteste von uns Jungen, der schon ein seidenes Aushängefähnchen in der äußeren Rockbrust-tasdie trug, hatte mich die ganze Zeit her, wo er konnte, genarrt und verulkt, war böse auf midi, weil ich harthörig und stand!.'aft geblieben war, als er, der schon wieder mit Taschengeldsorgen ging, bei mir — vergeblich! — die ersten Pumpversuche gemacht hatte. Es war beim Abendessen, da sprach er midi plötzlich wie selbstverständlich lateinisch an. Ich lächelte sauer. Ich verstand kein Wort. Dann wurde es auffällig still in der Verschwörerrunde. Ob ich denn nidit Lateinisch könne, fragte er midi und sah mich so ehrlich bestürzt dabei an, daß mir angst und bange zu werden begann.

„Noch nicht“, bekannte ich kleinlaut. Da lachte die ganze Bande: „Was will er d nn auf dem Gymnasium?“

Ich war ganz verwirrt. Darauf schl mg der große Junge heudilerisch-liebevoll seinen Arm um meine Schulter: „Ja, dann, Mensch“, sagte er bekümmert und zuckte wie ratlos mit den Achseln, „dann mach' dich morgen heim, zur Mutter, auf die Strümpfe!“

Ich begann zu heulen. Der Präfekt fand mich, in Tränen aufgelöst, in einem Winkel. Stockend berichtete ich, beklagte mein Mißgeschick. Er beherrschte sich, nur sein Kinn begann belustigt zu zucken, er belehrte mich, er richtete mich auf, ich solle mir doch keinen unnützen Vogel einreden und in meinem Wuschelkopf nisten lassen. Wie war mir nachher leidit, wie mußte ich selber lachen!

Ratlos und winzig stand ich am ersten Sonntag früh in dem barocken Prunk des ungeheuren Domes. Nein, es ging mir nicht ein. Und doch sollte einige Monate nachher die unbeschreiblich weihevolle erste Christmette hier für mich eine nadidrüddiche Erschütterung werden. Die anderen Jungen waren selig in die Weihnachten gefahren. Uns vom Schicksal gekränkte Sängerhuben würgte sehr das Heimweh im Schlund. Aber dafür gab es hier im halbdunklen Dom diese sonor hinrollenden Möndisdiöre mit den gewitternden Bässen, die flackernden Kerzen und das Glockengebrumm, ein frommer Schauer rieselte über unsere Haut: puer natus est! — auch für uns. Nein, aber damals, da ich zum erstenmal auf dem Chore stalnd und sang, inmitten all der goldenen, bauchigen, geschweiften und gedrehten Pracht, war mir wie in einem Irrgarten zumute.

Nach dem Mittagessen — unser letzter freier Tag war herangekommen, morgen sollte der Unterridit beginnen — sprach der Präfekt, er war selber noch sehr jung, zu uns: „Burschen, nun machen wir nodi einen Ausflug, tollt euch heute meinetwegen nodi einmal tüchtig aus, doch müssen wir den Rummel nach auswärts verlegen!“ Wir setzten jubelnd mit der Fähre über den Strom, wanderten tief hinein in die hüg lige Landschaft, rauften, liefen um die Wette, tobten auf dem Obstanger eines alten Bauern, der uns schmunzelnd erlaubt hatte, seinen letzten halbvollen Apfelbaum zu plündern, rollten als lebende Räder über den sanften Abhang einer Talwiese hinab, daß die kleine schwarze Hammelherde, deren bukolischen Weidefrieden wir gestört hatten, mitsamt dem Hüterbuben entsetzt gegen das Dorf hin davonstob, kurz, wir trieben es arg und nach Herzenslust. Idi war der Fröhlidi iten einer. Als wir heimwärtszogen (am Horizont begann der, erste Stern zu zucken), marschierte der Präfekt neben mir, dem „Neuen“, dem sie einen tollen, bunten Herbstkranz ins Haar gedrückt hatten, den ich willig trug. Wie ein Kamerad ging der Mann plaudernd und lachend an ngeiner Seite. Bevor wir aber einrückten, hob er meinen Kopf zu sich hoch, strich mir, dem Jüngsten, über die Wange und sagte sehr nachdenklich: „So. Und morgen, mein Lieber, beginnt nun der volle Ernst!“

Und dann fügte er leise, wie zu sich selber, bei — ich verstand das damals noch nidit, aber ich behielt die Worte bis heute treu im Ohr und im Herzen: „Wir werden ja alle einmal aus Arkadien vertrieben! Alle.“

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