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Der Wasserträger von Comisa

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In einem offenen Brief an die Arne' rikaner schrieb einst Jean Cocteau: „Ich weiß, wir leben in einem Hühnerstall und Ihr in einem Badezimmer. Aber seit Ihr den Wasserträger verdrängt und die Waschschüssel an die Wände Eurer Zimmer genagelt habt, ist es aus mit der Kultur.“

Die Versorgung mit Trinkwasser auf den dalmatinischen Inseln wir in meiner Jugendzeit, also vor Beginn des zweiten Weltkrieges, noch mittelalterlich. In Comisa galt der öffentliche Brunnen vor der Kirche Maria Korsariea zwar als künstlerische Sehenswürdigkeit der Renaissance, aber als Wasserspender hatte er ausgedient. Dann gab es noch die Zisternen in den Höfen der Häuser, und selbst diese warten keine Selbstverständlichkeit. Frisches Wasser mußten sich die Leute aus der Quelle Kamenice holen, in einer Bucht am Meer, etwa eine halbe Wegstunde von Comisa entfernt. Die gesegnete Geberin war an einer Felsgrotte am Strand künstlich gefaßt. Man betrat sie über einige Stufen, die in einen tunnelartigen Raum, dem Himmel zu geöffnet und mit einem kunstvollen Natursteinmauerwerk verkleidet, hinabführten. Das Wasser quoll aus den Mäulern zweier steinernen Löwenköpfe und ergoß sich durch unsichtbare Rinnsale ins Meer. Eine Posse der Natur: die Stadt ohne Wasser, und hier die Vergeudung des Kostbarsten! Das nicht abgekochte Zisternenwasser war sehr gefährlich und verursachte manche Epidemien. Den Durst mit Wein zu stillen, war also nicht bloßer Genuß, sondern hygienische Notwendigkeit. Man verdünnte zwar den Wein mit Quellwasser, doch mit diesem mußte eben gespart werden. '

Es ist begreiflich, daß es unter solchen Lebensbedingungen als hoher Liebesdienst gewertet werden mußte, wenn einem jemand frisches Quellwasser ins Haus brachte. Und ich hatte einen so hingebungsvollen Diener, einen Außenstehenden, der mir aus reiner Sympathie jeden Morgen einen vollen Tonkrug mit Wasser aus der Kamenice vor die Haustür stellte. Er sagte immer: „Das ist für das junge Fräulein.“ Ich habe diese rührende Geste aus jugendlichem Unverständnis nie richtig wahrgenommen und gewürdigt.

Der Weg zur Quelle lief in Serpentinen über einer Steilküste, die an der Meeresseite nur von Stauden und Agaven, auf der anderen von steil aufsteigenden Weinhängen gesäumt war. Alte und junge Wasserträger beiderlei Geschlechts bewegten sich hier in den kühleren Morgen- und Abendstunden neben Eseln und Maultieren, die das Wasser — nicht anders als den Wein — in Fässern und Ziegenhäuten nach Comisa beförderten. Die Inselbevölkerung, diese niemals von Eitelkeit gefährdeten und doch die Schönheit liebenden Menschen, trugen ihre Armut leicht und unbekümmert und mit einer unnachahmlichen Grazie. Ich hebe dieses menschliche Völkchen, das so glücklich zu leben versteht, dessen Zorn- und Wutausbrüche rasch verbranden und dessen kleine Freuden immer bestehen bleiben. Stets war es das Blut meiner Mutter, das diese Emotion in meiner Seele anfachte.

Mein Wasserträger hieß Milan. Er war ungefähr dreißig Jahre alt und Junggeselle. Mit achtzehn war er zur Marine gegangen, doch das Land, die Heimat zogen ihn bald wieder zurück. Diese Heimkehr trug ihm den Spottnamen „pagnoca“ ein, aber völlig zu Unrecht; denn pagnoca heißt Komlßbrot. So nannten die alten Marineure das nichtmaritime Militär. Milan aber war Privatmann durch und durch. Von Beruf war er dennoch alles: Fischer, Netzflicker, Zimmermann, Faßbinder. Er war auch Chorsänger und Ministrant und etwas, das kaum jemand wußte — er war ein Poet Sein Herz war voller Gesang und in seinem Gemüt ewiger Sonntag. Manchmal machte er sich mit viel Umständlichkeiten und Rücksicht an mich heFan, ich möge ihm aus einem Schullesebuch kleine deutsche Verse ins Kroatische übersetzen. Das tat ich nun auch, so gut es mir gelang; war ich doch selbst einige Jahre in die kroatische Schule gegangen. Besser natürlich lag mir das Italienische, das wir zu Hause sprachen. Milan revanchierte sich, indem er abends am Strand unter unserem Haus die schönsten alten Liebeslieder sang; da war er stark; alle Schwäche und Hemmung schwand bei diesen schmerzlich schönen, slawischen Gesängen wie: „Kako si lijepa, baä kao jedna vila...“ „Schön bist du wie eine Fee“, oder „Ich liebe dich und deine schwarzen Augen“. Man sage nicht, das seien hausbackene Worte. Es gibt nichts Abgenütztes, nichts Banales, wenn es aus der Tiefe kommt.

Mit diesem Singen in Moll stieg Milan in seinen innersten Grund hinab, und um ihn war nur die Nacht und die Horchenden.

Die Kamenice, nach der die ganze Bucht benannt war, betrachtete Milan im Hochsommer als seinen privaten Bezirk Er verstand es, sich dort unter freiem Himmel ein idyllisches Dasein einzurichten; dazu gehörte, daß er manches Küchengerät und wohlriechendes Staudenholz für eine Feuerstelle zusammentrug. Auf die rote Glut setzte er die sogenannte gradicula, ein auf vier niederen Füßen stehendes Gitterwerk, einen Rost, tunkte die Sardellen, Scombri oder Branzini in Olivenöl, wälzte sie in etwas Mehl und legte sie auf den glühenden Rost. Dann ging er mit den Lippen nahe ans Feuer heran und blies in die Glut, denn einen Blasebalg besaß er nicht. Milan trank dazu den Rotwein aus der Korbflasche, und er trank ihn so, als gäbe es in seinem Inneren etwas zu löschen.

Eines Abends setzte ich mich zu ihm und bestaunte alles, was er da tat und was sich mir bot. Obwohl beim Netzflicken und beim Fischebraten alle das gleiche tun, fielen mir hier tausend kleine Einzelheiten so wundersam ins Auge. Milan war zu schüchtern, um mir von seiner Speise aufzuwarten, aber ich selbst bat ihn, am Mahle teilnehmen zu dürfen. Das beglückte ihn offensichtlich. So wurde es dunkel, man erblindete langsam von der mondlosen Nacht, und wie Katzenaugen sah einer nur noch die Pupillen des anderen. Ich hätte so gerne etwas über den Dichter Milan erfahren und fragte Ihn zunächst, warum er keine Frau habe. Da machte er Andeutungen von einer unerwiderten Liebe. Er sagte, daß der empfindlichste Schmerz immer von jenen Menschen komme, die wir am meisten lieben. Diesen Gedanken habe er bis auf den Grund empfunden. Er wollte mir seine Gedichte zeigen und brachte sie tatsächlich tags darauf zusammen mit dem Wasserkrug in unser Haus. Ein ganzes Schulheft war mit winzig kleinen Schriftzeichen vollgeschrieben. „Das ist ein Stück meines Lebens“, sagte er. Die ungelenke Handschrift und die Orthographie dieses einfachen Mannes ließen mich sofort erkennen, daß mir die Lektüre einige Schwierigkeiten bereiten werde, und nun bat mich der Verfasser auch noch, ihm eines der Gedichte, nämlich dasjenige, welches ich für das schönste hielte, ins Deutsche zu übersetzen. Das konnte ich aber aus mangelhafter Sprachkenntnis des Kroatischen wieder nur ganz frei nachdichten, und so wollte er es auch. Ich vertiefte mich also in das Büchlein und bekam Einblick in die Seele eines Menschen, der das Glück letztlich nicht darin suchte, geliebt zu werden, sondern zu lieben, und nur kleine Annäherungen an das geliebte Du zu erhaschen. Nur einmal heißt es: Vergiß mich nicht, damit auch ich Dich nicht vergesse. — Ich habe also eines der Gedichte, das mit besonders bemerkenswert erschien, in ein gehobeneres Deutsch zu übertragen versucht. Die beiden letzten Strophen lauten:

Ich hätte deine Neigung nie vergeudet,

Und meine Brandung dich auch nie berührt,

Doch hätten wir uns jemals angefreundet,

Ich hätt' ins Unentdeckte dich geführt.

Nun sind die Grenzen zwischen uns gezogen,

Dem Schicksal wehrten deine zarten Hände,

Ganz nah an meinem Schatten bist du abgebogen, Mitten in einem blühenden Gelände.

Als ich Milan diese kleine Nachdichtung überreichte, nahm er sie mit einer tiefen Verbeugung, ohne mir ins Auge zu sehen, entgegen und drückte mir das Heftchen, so wie ich es ihm zurückgeben wollte, wieder in die Hand, indem er sagte: „Jetzt weiß ich, daß Sie es nicht nur gelesen, sondern auch nachempfunden haben. Es gehört Ihnen ...“ Dieses mit Gedichten übervolle Heftchen war, wie ich erkennen mußte, das Ergebnis langer, mühevoller ; und sehnsuchtsschwerer Stunden.

Milan brachte mir weiterhin täglich das Wasser ins Haus, und ich gab ihm stückweise etwas von der deutschen Sprache, deren Anfänge er bei der österreichischen Marine gelernt hatte und die zu können sein Herzenswunsch war. Alles andere verfiel in Schweigen und wurde durch kein Wort mehr geweckt.

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