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Verwechselte Post

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Wenn ein Dichter so zwanzig, dreißig Jahre lang sich Mühe gegeben und sich eine Anzahl von Freunden und Feinden erworben hat, dann wird er nicht nur mit allerlei Ehren überhäuft und erlebt es, daß dieselben^ Redaktionen, die ihm seine Gedichte immer wieder mit höflichem Bedauern zurücksenden, Studienräte beschäftigen, um lange Artikel über ihn zu schreiben, nein, er bekommt die Stimme des Volkek auch unmittelbar zu hören. Jeden Morgen bringt ihm die Post ein Häufchen Briefe und Päckchen, aus denen er ersehen kann, daß er nicht vergebens sich Mühe gegeben hat. Er wird gewürdigt, die Manuskripte und ersten Bücher zahlreicher junger Kollegen zu lesen, er wird von denselben Redaktionen, die beständig seine Mitarbeit erbitten und ihm seine Gedichte dann beständig wieder zurücksenden, dringend und oft sogar telegraphisch um seine feuilletonistische Meinung über den Völkerbund oder über die Zukunft des Segelflugsports befragt, er wird von jungen Leserinnen' um seine Photographie gebeten und von älteren Leserinnen in die Geheimnisse ihres Lebens und die Gründe ihres Beitrittes zur Theosophie oder zur Christian Science eingeweiht, und er wird aufgefordert, auf Konversationslexika zu abonnieren, da in ihnen auch sein geschätzter Name sich finde. Kurz, es beweist einem solchen Dichter jeden Morgen die Post, daß sein Leben und Tun nicht vergeblich gewesen sei. Jedem Dichter geht es so.

Manchmal ist man nun nicht gestimmt, schon gleich beun ersten Schluck Brot und Kaffee sich respektvoll dieser Gemeinde gegenüberzustellen und ihre Grüße, ihre Wünsche und Ratschläge zur Abfassung künftiger Bücher entgegenzunehmen. So ging es gestern auch mir, und ich schob die Post, die diesmal ganz unerwartet reichlich eingetroffen war, beiseite, setzte den Hut auf und ging erst ein wenig spazieren.

Ich ging die Treppe hinab, an der Zimmertür meines Nachbarn H. vorüber, der jetzt wohl in seiner Bank saß und Zahlen schrieb. Denn er war Bankangestellter, aber se^i Ehrgeiz ging nach anderen Sphären; im Herzen war er Sportsmann und hatte dieser Tage, wie ich aus der Zeitung und aus den Gesprächen der Nachbarn wußte, mit einer von ihm erfundenen Spezialität den ersten großen Erfolg gehabt. Herr H. war nämlich Sportschwimmer und hatte mir mehrmals geklagt, wie beschränkt auf diesem Gebiete die Möglichkeiten seien. Er hatte den Züricher See in etwa zehn Minuten durchschwömmen, ich weiß nicht mehr, ob der Breite oder der Länge nach, es war unglaublich, fix gegangen, und ich hatte ihn sehr bewundert, aber er hatte mit düsterem Blick gesagt, im Schwimmen sei nicht mehr viel zu machen. Man sei jetzt L. diesem Sport soweit trainiert, daß binnen kurzem der äußerste Punkt erreicht sein werde: man werde dann den Kilometer in einer Minute zurücklegen, und selbst wenn dieser Rekord noch überboten werden sollte, so würde man es nach Ansicht der Fachleute doch niemals weiterbringen, als daß der Schwimmer bestenfalls zur gleichen Zeit am jenseitigen Ufer ankomme, in der er das diesseitige verlassen habe.

Aber Nachbar H. war kein gewöhnlicher Schwimmer, er war ein Genie. Er erfand von einem Tag auf den andern einfach eine neue Schwimmkunst. Es sei, so sagte er, bisher ja recht gut und brav geschwommen worden, und das letzte Kleinkinderwettschwimmen von Gibraltar nach Afrika habe ja gezeigt, daß man in der Tat im Schwimmsport eigentlich keine Hindernisse und Grenzen mehr kenne. Aber naiverweise war man eben bisher immer der Luftlinie nach und an der Oberfläche des Wassers geschwommen. Freund H., der schon immer ein guter Taucher gewesen war, brachte nun den neuen Sport auf, bei dem der Schwimmer am Grunde des Sees wie ein Gratwanderer den Erhebungen und Vertiefungen des Geländes folgt. Er hatte den Bodensee vor wenigen Tagen auf diese Weise durchschwömmen, immer zwanzig Zentimeter über dem Seeboden, und alle Welt war über die Leistung außer sich. '

Dennoch, so dachte ich bei mir, haben wir Dichter es besser. Es wird der Tag kommen, da wird jeder guttrainierte Schwimmer das leisten, was H. neulich geleistet hat, und sein Ruhm wird erblassen, und wieder wird der Schwimmsport sich um neue Aufgaben bemühen müssen. Bei uns Dichtern dagegen, wie war da alles noch offen, wie weit und noch kaum betreten lag die ganze Welt vor uns! Zugegeben, daß in den 2500 Jahren seit Homer wirklich ein Fortschritt erzielt worden war — und selbst darüber konnte man streiten —, wie klein war dieser Fortschritt!

Der Gedanke erfrischte midi, in guter Laune kehrte ich nach Hause zurück und wollte eigentlich sofort an meine Arbeit gehen. Aber da lag noch diese Morgenpost, und bei Gott, sie war heute drei- oder viermal so umfangreich als gewöhnlich! Etwas verdrießlich schnitt ich zunächst einmal ein Dutzend Briefe auf und begann zu lesen. Aber das war heute wirklich ein Glückstag. Brief für Brief, alle waren sie erfreulich. Jeder begann mit der Anrede „Hochverehrter Meister“, und enthielt Angenehmes end Schmeichelhaftes. Die Universität meines Landes, obwohl ich doch weder Fabrikant noch Tenorsänger war, hatte beschlossen, mich zum Ehrendoktor zu ernennen. Die berühmte „Schweinfurter Zeitung“, die mir meine eingesandten Gedichte wieder zurückgesandt hatte, forderte mich flehentlich zur Mitarbeit auf, sei es in welcher Form und auf welchem Gebiete auch immer, jede Zeile von mir werde der Redaktion und den Lesern hochwillkommen sein. Und so ging es weiter, Schlag auf Schlag. Die Sängerin Ida vom Stadttheater, diese süße, braune Hexe, lud midi zu einer Autofahrt ein. Ein Photograph in Dortmund und einer in Karlsruhe baten mich flehentlich, sich zum Zweck einer Aufnahme hieher verfügen zu dürfen. Man bot mir kostenlos für ein Vierteljahr einen neuen Wagen zum Versuch an. Weder von Theosophinnen noch von Anhängerinnen des Mazdaznan waren Briefe da, weder römische Tragödien von Quintanern noch Revolutionsdramen von Sekundanern waren dabei. Es war erstaunlich, es war ein großer Tag. Weder mein fünfzigster noch mein sechzigster Geburtstag hatte mir auch nur annähernd solche Triumphe gebracht.

Es war mir beinahe zu viel. Ich beschloß, den Rest der Briefe erst später nach Tisdi zu lesen. Aber ein hübsches, flaches Päckchen lag noch da, das machte midi neugierig. Man sah ihm an, daß weder ein Buch, noch ein Manuskript darin verborgen sein konnte, sein Inhalt konnte nur ein erfreulicher sein. Ich schnitt also die Schnur auf und faltete die Umhüllung auseinander. Rosa Seidenpapiere kamen zum Vorschein und ein zarter Duft verbreitete sich, weich und zart fühlte der Inhalt sich an. Ich enthüllte ihn sorgfältig und feierlich wie ein Denkmal und fand eine Handarbeit aus feinen, trikotartigem Stoff. Verwundert legte ich das Ding auseinander und breitete es über einen Stuhl aus. Es war ein schwarzer Badeanzug, aus seidig schimmerndem Trikot, und auf der Brust des Anzuges war ein großes, hellrotes Herz aufgenäht und mit Kreuzstich einge* faßt, und in dem roten Herzen stand mit schwarzen Buchstaben gestickt: „Dem großen Heinrich, dem unvergleichlichen Unterwassern Schwimmer.“

Teufel, und jetzt begriff ich endlich und sah, daß diese ganze ausgiebige Morgenpost gar nicht mir gehört hatte, sondern meinem Nachbar H, dem Schwimmer, der jetzt auf seiner Bank saß und Bleistifte spitzte, der aber morgen seine Stelle kündigen und einem der zahllosen ehrenvollen Rufe nach Berlin, nach Amerika, nach Paris oder London folgen würde, die ihn jetzt täglich erreichten.

Ärgerlich und ein wenig betrübt ging ich nochmals aus und schlenderte an den Kai hinaus. Da lag der Züricher See und ich sah ihn mir an und überlegte sehr, ob ich nicht wohl daran täte, zum Schwimmsport überzugehen. Konnte ich auch nicht auf Weltrekorde zählen, so war ich doch noch leidlich rüstig, und einst als Knabe hatte ich sehr gut schwimmen können. Zu schönen Achtungserfolgen bei kantonalen Senioren-Wettschwimmen würde es mir vielleicht doch noch reichen. Aber dann sah der See so widerlich kalt und naß aus, und ich dachte daran, daß Meister H. die unabsehbare Strecke von hier bis zum andern Ufer in zehn Minuten durchschwömmen hatte, und es fiel mir auch wieder ein, wieviel dankbare und nie auszuschöpfende Ziele und Aufgaben meiner in der Dichtkunst noch warteten.

Nein, ich würde meinem Nachbar H. seine Post mit höflichen Entschuldigungen überschicken, würde ihn um eine Eintrittskarte zu seinem nächsten Schauschwimmen bitten und ihn gelegentlich ersuchen, bei ein paar Redaktionen großer Blätter ein Wort für mich einzulegen behufs Abdruck meiner Gedichte. Im übrigen aber wollte ich den Schwimmsport den Karpfen' und Hechten überlassen und es weiter mit dem Dichten probieren. Es beschäftigte mich da seit einigen Tagen ein Gedicht über den Frühling oder vielmehr über den merkwürdigen Geruch von jungen, harzigen Baumknospen und seine Wirkung auf junge und auf alte Menschen, eine außerordentlich verschiedene Wirkung, und wenn es auch schwer und nahezu unmöglich sdiien, diese Sache mit den Knospen und den Herzen der Menschen jemals einigermaßen befriedigend zu formulieren, so wollte ich doch nicht derjenige sein, der sein Handwerk vernadilässigte und sich um seine Lebensaufgabe drückte.

Zu Ende dieses Jahres wird zum erstenmal der Turmalmanach der österreichischen Kulturvereinigung erscheinen, den Dr. Egon H. Seefehlner in der Amandus-Edition herausgibt. Dieser Almanach, der ein Lesebuch für weiteste Kreise sein möchte, enthält außer einem Kalendarium „Betrachtungen“, „Er* Zählungen und Gedichte“, „Dramatisches“! „Gedichte der Jungen“ und einen biographis sehen Anhang über die Autoren. In der Rubrik „Betrachtungen“ finden wir von Otto Mauer eine Neujahrspredigt, von Max Meli „Worte vom Stephansturm“, von Rudolf Henz einen Beitrag „In einem kalten Zimmer“, der ein geistiges Fazit unserer Situation in Österreich zieht, und schließlich von Paul Claudel eine in Österreich unbekannte neue Bibel-Interpretation „Die Flucht nach Ägypten“. Erzählungen haben Alexander Lernet-Holenia, Oskar Maurus Fontana, Alma Holgersen, Paul Graf Thun-Hohenstein, Ann Tizia Leitich, Sigismund-von Ran decki und andere beigetragen. Übertragungen von Gedichten der großen modernen Autoreri der Weltliteratur, von Blake, Keats, Yeats, Lawrence, Rimbaud, Verlaine, wechseln mit Gedichten von österreichischen Autoren und erzählenden Beiträgen aus der modernen Lite* ratur des Auslandes. Die dramatische!* Szenen sind: vonHofmannsthal „Vorspiel zur Antigone“, Franz Werfel: „Jakubowski und der Oberst“, ödön von Horvath aus dem Nachlaßdrama „Pompeji“, und Thorntoa Wilder aus dem berühmten Drama „Unsere kleine Stadt“. Egon Cäsar Conte Corti hat eine Reihe von Anekdoten beigesteuert.

Der Almanach bringt überdies Bilder voü Kostbarkeiten des Kunsthistorischen Museums. Als ein erster Versuch, einen Quern schnitt durch die geistige Gegenwart Österreichs zu geben, verdient der Almanach ernste Beachtung.

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