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BESTSELLER VON EHEDEM

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Bestseller hat es auch früher gegeben, nur war diese amerikanische Bezeichnung damals unbekannt. Aber sie gab es, nur: wir sprechen heute nicht mehr von ihnen. An einige deutsche Erfolgsbücher soll hier erinnert werden.

1901 erschien der Roman Jörn Uhl von Gustav Frenssen. Innerhalb eines Jahres erlebte er eine Auflage von über hunderttausend Exemplaren (Gesamtauflage heute: 522.000). Frenssen, Pastor aus Schleswig-Holstein, hatte vorher zwei Romane geschrieben, die aber unbeachtet blieben: Die Sandgräfin und Die drei Getreuen, die dann im Kielwasser des Jörn Vhl große Auflagen erlebten, wie später auch Peter Moors Fahrt nach Südwest (440.000). Damals gab es noch kein Radio, kein Fernsehen, keine Zeitungen mit Massenauflagen, keine Illustrierten, über deren Kanäle heute so viel Propaganda läuft. Wer liest heute noch den Jörn Uhl? Wer spricht überhaupt noch von Frenssen? Aus meiner Buchhändlerzeit in Hamburg erinnere ich mich an ein Buch, das 1917 erschien:

Der Wunschiraum jedes Verlegers ist der Bestseller. Vielleicht wird es bald einige neue geben: Nach der Frankfurter Buchmesse, die vom 13. bis 18. Oktober stattfindet, werden 38 österreichische Verlage vom 22. bis 29. Oktober im Wiener Künstlerhaus rund 25.000 Publikationen ausstellen. Im Rahmen der Osterreichischen Buchwoche werden vom Hauplverband der österreichischen Buchhändler auch Ausstellungen in Baden, Dornbirn, Eisenstadf, Graz, Innsbruck, Klagenfurt, Linz, Salzburg, Tamsweg und Zell am See veranstaltet.

Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer von Johannes Gallhoff, einem Mecklenburger. Der Erfolg stellte sich ohne jede Propaganda ein. Heutige Auflage: 550.000.

Einen geradezu märchenhaft anmutenden Erfolg errang Richard Voss mit seinem zuerst 1911 erschienenen Roman Zwei Menschen (Auflage heute über anderthalb Millionen). Und dann Waldemar Bonseis, erkorener Liebling aller Frauen und Mädchen, die man heute Teenager nennt: Indienfahrt (470.000). Aber ein Buch von ihm hatte den größten Erfolg: die bereits 1912 erschienene Biene Maja (eineinviertel Millionen). Sein Himmelsvolk erreichte 520.000.

Besonders nach dem Ersten Weltkrieg wurde Hermann Löns populär. Große Erfolge hatten seine Romane Der Wer-wolf (450.000), Das zweite Gesicht (475.000) sowie seine Lieder Der kleine Rosengarten (über eine Million). Er ist heute so gut wie vergessen, auch wenn da und dort noch seine einst so beliebten Tiergeschichten Mümmelmann (450.000) gelesen oder seine von Fritz Jode vertonten Lieder gesungen werden. Immer gab es einige Glückspilze in der deutschen Literatur, deren Namen durch viele Jahre am literarischen Himmel strahlten, zum Beispiel: Cäsar Flaischlen (Hab Sonne im Herzen). Seine erfolgreichsten Bücher hießen Von Alltag und Sonne (280.000) und Jost Seyfried. Er wurde sehr ernst genommen; kein Geringerer als Frank Thiess schrieb 1914 eine Studie über ihn. Und dann, damit wir ihn nicht vergessen, den Freund von Hermann Hesse: Ludwig Finckh. Seine Bücher Rapunzel (200.000) und Der Rosendoktor (220.000) standen in vielen Familienbibliotheken.

Liest man noch die Romane von Rudolf Herzog? Das große Heimweh (648.000), Die vom Niederrhein (470.000), Die Hanseaten (430.000) oder Die Wiskottens (740.000). Wie erinnern uns kaum noch an seinen Namen oder an die vielen anderen ehemals erfolgreichen Volksschriftsteller wie Ernst Zahn, Rudolf Hans Bartsch, Karl Hans Strobl, Walter Bloem, Clara Viebig, deren Romane jahrelang zum „Brotgeschäft“ der Buchhändler zählten. Ihre jeweiligen Auflagen, die von Jahr zu Jahr beträchtliche Höhen erklommen, können mit den heutigen Bestsellern durchaus konkurrieren. Einer der erfolgreichsten war — neben Herzog — J. C. Heer: An heiligen Wassern (445.000), Der König der Bernina (480.000) und Der Wetterwart (480.000).

Auch Hermann Sudermanns Stern strahlt nicht mehr. Aber wer hat sie nicht gelesen, seine Romane Frau Sorge (495.000), DerKatzensteg (540.000), um nur die beiden zu nennen? Dann: Wer spricht noch von den Romanen Paul Kellers, Liebling aller Leihbibliothekleser? Waldwinter (680.000). Vorbei, vorbei, oder Vom Winde verweht ist der Ruhm. Das kann man auch sagen von dem seltsamen Buch der M. B. Kennicott Das Herz ist wach, das so viele Leser begeisterte (250.000).

„Wo sind sie geblieben.“ Ich meine, die ehemaligen Bestseller? Wo die einst unschlagbare Agnes Günther mit ihrem einzigen Buch Die Heilige und ihr Narr? (1,200.000)? Erinnert man sich noch an Elisabeth Heykings Briefe, die ihn nicht erreichten, die über eine Million Käufer fanden?

Einer der erfolgreichsten Lyriker unserer Zeit war Börries Freiherr von Münchhausen, dessen Gedichte eine Gesamtauflage von 390.000 erreichten, davon allein Die Balladen und ritterlichen Lieder 95.000. Ob sie auch heute noch gefragt sind?

Interessant müßte eine Wiederbegegnung mit zwei Büchern von Gustav Meyrink sein: Der Golem (200.000) und Das grüne Gesicht (100.000). Und warum lesen wir heute die Romane von Bernhard Kellermann nicht mehr, zum Beispiel Ingeborg, Der Tunnel, Der Tor, Das Meer, die alles in allem von 1913 bis 1933 doch Millionenauflagen erlebten?

Ältere Leser erinnern sich sicher noch an längst verschollene Bücher, die einmal Bestseller im besten Sinne waren, zum Beispiel an die Familie Buchholz von Julius Sünde, einem Zeitgenossen von Theodor Fontane. Der Erfolg dieses Romans war ungeheuer; schon 1883 konnte die 76. Auflage erscheinen. Bismarck lobte und Theodor Mommsen verurteilte das harmlos-humorvolle Buch. Wie dem auch sei, es war ein richtiger Bestseller, von dem heute keiner mehr spricht.

Aus der Fülle jährlicher Neuerscheinungen gelangen immer nur wenige zu Ruhm, der, nach einem Wort von Wilhelm Busch (übrigens auch er ein Bestseller-Autor), „Schwindelware“ ist. Sei's drum: der Leser und Käufer entscheidet über Erfolg und Mißerfolg. Hat er einmal einen Dichter „in sein Herz“ geschlossen, dann darf jener sicher sein, daß er ihm über längere Zeit die Treue hält. So entschied er sich vor Jahren für Rudolf G. Binding, Opfergang (920.0000), Mosel-fahrt aus Liebeskummer (500.000).

Früh schon gewann sich Rainer Maria Rilke die Liebe und Bewunderung vor allem mit seinem Cornet (über eine Million). Wenn heute auch nicht mehr viel über den Cornet gesprochen wird, so heißt das noch nicht, daß er nicht mehr gelesen wird. Das gleiche gilt wohl auch für Bindings Novellen. Hierher gehört auch die schwelgerische Prosa von Max Dauthendey, vor allem sein Geschichtenbuch Die acht Gesichter am Biwasee, das seit seinem ersten Erscheinen (1911) begeisterte Leser fand (200.000).

Zu allen Zeiten las man gern die sogenannten heiteren oder fröhlichen Bücher. Zu ansehnlichen Auflagen brachte es der längst vergessene Rudolf Presber mit seinem Skizzenbuch Von Leutchen, die ich lieb gewann und der Geschichte eines leichten Lebens Mein Bruder Benjamin. Bücher, die einige hunderttausend Leser fanden.

Noch stärker war später die Nachfrage nach den heiteren Büchern von Heinrich Spoerl: Man kann ruhig darüber sprechen (450.000), Der Maulkorb (460.000), Die Feuerzangenbowle (940.000), Der Gasmann (560.000). Auch Josef Winckler eroberte sich mit dem Tollen Bomberg eine beträchtliche Gefolgschaft (600.000).

Ähnlich erfolgreich war Kurt Kluges Roman Der Herr Kortüm (265.000), der dann noch von seiner auch verfilmten Zaubergeige übertroffen wurde (450.000).

Wie steht es mit den erfolgreichen Büchern aus dem Ersten Weltkrieg? Der Superbestseiler hieß Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque. Nie wieder erreichte ein Buch derartige Auflagenhöhen: insgesamt sollen in aller Welt über zehn Millionen verkauft sein. Allein die deutsche Ausgabe soll über zwei Millionen betragen. Natürlich werden die neueren Romane von Remarque viel gelesen, ob aber auch Im Westen nichts Neues, mag fraglich sein.

Bestimmt wird ein Buch heute nicht mehr gelesen: In Stahlgewittern, das einst die Gemüter erregte (250.000). Ernst Jünger schrieb es, dessen andere Bücher noch und immer wieder im Gespräch sind, nicht aber seine erfolgreichen Kriegsbücher. Nein, über sie wird nicht mehr gesprochen, wie auch nicht über die Chroniken von Edwin Erich Dwinger: Die Armee hinter Stacheldraht (280.000) oder Zwischen Weiß und Rot (450.000). Nach Dwinger hatte ein bis dahin Unbekannter, Theodor Kröger, einen durchschlagenden Erfolg mit seinem Sibirienbuch Das vergessene Dorf (anderthalb Millionen). Vergessen auch dieser Bestseller, obwohl er noch in Leihbüchereien anzutreffen ist, wo ich vor kurzem auch die alten Kriegsnovellen von Detlev von Liliencron entdeckte (350.000). Verschollen und vergessen natürlich Hermann Stegmanns vierbändige Geschichte des Krieges 1914 bis 1918 (800.000). Auch die von Philipp Witkop herausgegebenen Kriegsbriefe gefallener Studenten (210.000).

Es ist und bleibt ein Geheimnis, warum das eine Buch bei den Lesern „ankommt“ und das andere nicht. Trotz Presse, trotz vielfacher Propaganda, die vieles, aber nicht alles kann, erreichen die meisten Bücher nur eine recht bescheidene Verbreitung. Es gibt viele Begleitumstände, die Anlaß zu Erfolgen sein können, zum Beispiel (ich weiß, es ist eine Binsenwahrheit) die Zeit, der rechte Augenblick, der manchem Autor zur Sternstunde wurde. Erinnern wir uns: im Ersten Weltkrieg erschien ein schmales Buch von Walter Flex: Wanderer zwischen beiden Welten. Flex wurde für viele Jahre vergöttertes Idol all jener, die im Wandervogel Heil und Zuflucht fanden. Da kam dieses Buch, das einen beispielhaften Erfolg errang (über eine Million). Sein Tod — er fiel 1917 — glorifizierte ihn und umgab den erst Dreißigjährigen mit dem Glanz des „Frühvollendeten“. Der Erfolg wurde nicht gemacht; er stellte sich ganz folgerichtig als Ausdruck der Zeit ein. Für dieses Buch war die aufnahmebereite Leserschicht vorhanden, vor allem unter der Jugend.

Wenige Jahre nach dem Kriege erschien ein Buch, das die deutsche Familie zum Hausbuch erhob: Wilhelm Schäfers Dreizehn Bücher der Deutschen Seele (245.000). Verständlich wenn es heute vergessen ist, im Gegensatz zu seinen glänzend erzählten Anekdoten, die man auch heute noch mit Vergnügen liest.

Bedeutend war auch der Erfolg eines ganz anders gearteten Buches und Mannes Hermann Graf Keyserling, bekannt geworden auch durch die „Schule der Weisheit“ in Darmstadt. Sein Reisetagebuch eines Philosophen wurde leidenschaftlich diskutiert, wie der 1922 erschienene zweibändige Untergang des Abendlandes von Oswald Spengler (260.000).

Alle diese Bücher erschienen in einer Zeit, da man ihren propagierten Ideen gegenüber aufgeschlossen war; Werbung, im heutigen Sinne, gab es damals noch nicht. Was es aber immer gegeben hat, war die Mundpropaganda, die damals und heute vielen Büchern zum Erfolg verhalf. Zudem: Familie und Schule waren und sind große „Werbeträger“. Vor allem zum Geburtstag und zu Weihnachten gab es „Standardgeschenke“, die immer wieder gewählt wurden, jahrein, jahraus. Wir alle kennen diese sinnigen Buchgeschenke, die immer richtig waren; es konnte eigentlich nichts schiefgehen; noch kürzlich mußte ich ein früher beliebtes Buch besorgen, Hinter Pflug und Schraubstock von Max Eyth (400.000).

Kann man Bestseller „machen“? Ich glaube nicht. Kommt ein bestimmtes Buch ins Gespräch, dann kann ein geschickter Verleger dem so heiß ersehnten Erfolg in vielerlei Formen und mit entsprechenden Mitteln nachhelfen. Hauptsache aber ist, daß „man“ über das Buch spricht, egal, ob „man“ es auch gelesen hat. Das Geflüster muß stärker und stärker werden, so lautstark, bis der sensationslüsterne Leser das Buch kauft. Fällt das Gerede über ein Buch in die Zeit der Frankfurter Buchmesse, dann hat der Verleger gute Chancen, als Sieger um den neuen Bestseller hervorzugehen. Wir alle sind anfällig, lassen uns zu gern und oft beeinflussen, vor allem auf den Messen, die bekanntlich Brutstätten von Gerüchten sind. Dort wird geklatscht (von sehr klugen Leuten), daß es nur so seine Art hat. Von hier aus nimmt dann das Gerücht unaufhaltsam seinen Lauf. In der Gesellschaft, auf jeder Party fragt man: Haben Sie? Nein? Unbedingt, Sie müssen. Nun also, her mit dem neuen Bestseller, koste er, was er wolle.

So entstehen im Laufe von wenigen Wochen die begehrten Erfolgsbücher; die Mundpropaganda, die den Verleger nichts kostet, beeinflußt Tausende von Menschen, die eigentlich gar keine Bücherleser sind. Es sind (mit den berühmten Ausnahmen) die typischen Illustriertenleser, jene, die zu Hause keine Bibliothek haben, nur Zufallsbücher (eben die Bestseller, damit man mitreden kann); oder solche, die ihnen durch eine „Buchgemeinschaft frei Haus“ geliefert werden. Die Flüsterpropaganda wirkt wie eine Suggestion, die ihre Wirkung kaum verfehlt, weil diese Art von Leser zumeist ganz und gar unkritisch ist. Hinzu kommt die mächtige Presse; pausenlos wird der neue Titel vorgestellt, analysiert und damit natürlich propagiert (auch wenn die Kritiken teilweise negativ sind). Der umworbene Leser, immer auf der Suche nach dem Neuen, dem Neuesten, wird so systematisch „weich“ gemacht. Der Buchhändler jammert, weil er tausend andere Bücher am Lager hat, gute Bücher, spannende Bücher, die er nicht verkauft. Aber immer wieder erlebt der Buchhändler, Freund der Dichter, reine Freude, wenn die richtigen Bücherleser in den Laden kommen, die beraten sein wollen, die mehr von ihm verlangen, als nur den oder die Bestseller über den Ladentisch gereicht zu bekommen.

Um nochmals auf die Frage zurückzukommen: wie „macht“ man große Bucherfolge? Ich weiß es nicht, keiner weiß es. Wüßte man doch das Rezept, wie gerne würden wir es den Dichtern verraten, vor allem jenen, die wir lieben. Aber das Glück kann man bekanntlich nicht zwingen. Fortuna ist launisch wie eine schöne Frau. Mit Werbung allein kann man sie nicht gewinnen oder erobern, so viel Geld und Zeit wir auch in sie investieren. Wenn „sie“ nicht will — das hat jeder von uns erfahren — nützt alles Flirten und Umwerben nichts, gar nichts.

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