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Die rekonvaleszente Buchmesse

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Die Frankfurter Buchmesse glich 1970 einem fetten Mann, der zwar noch unter der Schockwirkung einer knapp überstandenen Gefahr japst, aber schon wieder fleißig ißt und neuen Speck ansetzt. Das bißchen Radau, das sich ein mitleiderregend vom Fleisch gefallenes Revolutionsgespenst abrang (Aktionen gegen einen Verlag der äußersten Rechten, den griechischen Stand und den Indonesiens, das neuerdings sehr an vogue ist) wurden zwar pflichtschuldigst mißbilligt, aber angesichts der Entgleisungen einiger nationaler Schreier in der Paulskirche hinter vorgehaltener Hand eher als willkommenes Alibi begrüßt. In einem Prospekt, der in drei Sprachen auflag und für den Besuch der Buchmesse warb, prangte sogar ein Photo jener Tumulte, die vor zwei Jahren die Buchmesse in ihren Grundfesten erschütterten, mit einem Text, der jene Ereignisse als Beweis für die Lebendigkeit der Buchmesse reklamierte. Freilich, es wirkte eher ein wenig wie jene bunten Reiseprospektbildchen längst vermoderter Ritter, mit denen sich mittlerweile friedlich gewordene Landstriche dem Reisenden interessant zu machen versuchen.

Die Büfetts wurden nicht von der APO, sondern wie einst von lieben, willkommenen Gästen gestürmt, und die Frage, wo sie denn wohl geblieben seien, die Bärtigen, die Gefürchteten, die Provokateure des Schrek-kensjahres 1968, kam nur über die Lippen krasser Außenseiter, denn man kannte sie ja, 1970 standen sie wieder, wie 1967 und 1966 und 1965, brav mit dem Sektkelch in der Hand, die Revolution erlaubt ihren Kindern wieder gesittet zu fressen. Die Lektion des Jahres 1966 (keine glanzvollen öffentlichen Empfänge, kein Sekt) hat gewirkt.

Freilich, ihren alten Glanz hat die Buchmesse auch 1970 noch nicht wiedergewonnen. Bärmeier & Nikel veranstalteten (im Zoo-Restaurant) etwas Dürftiges, was vielleicht hätte ein Happening werden sollen. (Was ein Happening wirklich ist, läßt sich in der Rowohlt-Neuerscheinung „Aktionen — Happenings und Demonstrationen seit 1965“ von Wolf Vostell nachlesen und nachsehen.) Lustiger war schon die von Jandl und Artmann umfunktionierte Pressekonferenz der österreichischen Verleger, die Meister des falschen Zungenschlags geblieben sind. (Zitat aus der Presseinformation: „Der Wiener Heldenplatz würde gerade noch ausreichen, um den in Frankfurt gezeigten 213.000 Büchern aus aller Welt eine genügend große Ausstellungsfläche zu bieten.“ Kommentar eines Teilnehmers: „Ja, ja, der Beldenplatz war schon einmal gerade noch groß genug...“) Im Zweifrontenkrieg gegen die zornigen Österreicher und einen stillvergnügtprovokant fragenden Jüngling vom „Spiegel“ stand selbst der eloquente Wolfgang Kraus auf verlorenem Posten.

Es gab keine turbulente Lesung (wie die unseres Wolfgang Bauer im Vorjahr). Boll und Grass und Thilo Koch rezitierten andächtig Lauschenden Tschechisches. Droemer nahm als Erster und Einziger den im Vorjahr ausgesetzten Brauch barbarischkultivierter Massenabfütterung wieder auf: 500, wenn nicht 1000 Gästen war es unmöglich, alle Platten abzuräumen und alle Flaschen zu leeren, obwohl sie dabei von keiner

Rede, vielleicht gar über Bücher, gestört wurden. Wer weiß, vielleicht veranstaltet nächstes Jahr gar Kohlhammer wieder seinen traditionellen Empfang. Dann erst ist die Buchmesse wieder im alten Geleise. Im Untergrund freilich, da gärt es. Leitmotivisch, dumpf grollend, meldet sich ein Moloch: Ein zitternder Buchhändler raunte es dem anderen in die gespitzten Ohren, daß Bertelsmann, und ganz groß noch dazu, nun auch in Konkurrenz mit dem herkömmlichen Buchhandel zu treten gedenke.

Gleich dem sich, einer Flut populärwissenschaftlicher Werke zufolge, immer weiter ausdehnenden All befindet sich die Buchproduktion der Welt in unaufhaltsamer Flucht nach vorn vor sich selbst. 213.000 Titel wurden gezeigt, um 5000 mehr als im Vorjahr, davon 69.000 Neuerscheinungen, um 1000 mehr. Die deutschen Verlage dürften 1970 mit Umsatzsteigerungen von rund zehn Prozent abschließen. Das bedeutet aber nicht um zehn Prozent mehr Bücher. Denn auch die Bücher werden von Jahr zu Jahr teurer. Die Buchmesse 1970 war keine von jenen, die auf die tausendmal gestellte Frage nach dem großen Hit oder dem besten Roman nur tausend unschlüssig hochgezogene Achseln sehen. Mit den Knef-Memoiren („Der geschenkte Gaul“) hat es Molden schon wieder fertiggebracht, in aller Munde zu sein, und diesmal ohne den im Swetlana-Jahr so häufigen spöttischen Unterton. Die Knef ist ein neidlos anerkannter Erfolg. Und zwar auch im für den kommerziellen Endeffekt so wichtigen Lizenzgeschäft, das die Knef sich vorbehielt.

Kaum jemand redet (einstweilen) von einem Buch, das dem Verleger Erwin Barth von Wehrenalp (ECON) unter dem Titel „Soziologie der Cowboys“ angeboten wurde und den zündenden Titel „Das waren noch Männer“ erhielt. Aber hinter den Kulissen (Lizenzgeschäft) war es einer der großen Messeerfolge und in den deutschen Buchhandlungen beginnt es wegzugehen wie warme Semmeln. Es ist ein Sachbuch im besten Sinn: der Stil ist flüssig, aber er plätschert nicht, sondern transportiert eine Fülle von Information. Der Autor heißt Stammel. Unter den vielen Romanen ein ganz großer Wurf, ein Erzählwerk vielleicht von Grass'schem Kaliber, von Einfällen überquellend, aber gebändigt von einer starken stilistischen Disziplin: „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcia Märquez, geboren in Kolumbien, Jesuiten-gymnasiast und Journalist in Bogota, nach Aufenthalten in New York und Mexiko jetzt in Barcelona ansässig. Das Buch erschien bei Kiepenheuer und Witsch.

Artiflzieller, elektizistischer, „literarischer“, auch dicker, aber ebenfalls ein Roman der tasusend Einfälle und der überschäumenden Fabulierkunst im historischen, kunstvoll antiqier-ten Gewand: „Der Tabakhändler“ von John Barth, in deutscher Sprache erschienen bei Rowohlt. Suhrkamp brachte den neuen Roman ■von Thomas Bernhard („Das Kalkwerk“) heraus. Gisela Eisner schrieb eine grandiose Antiporno-graphie, den Roman des verklemmten Spießers im (angeblich) enthemmten Zeitalter, eine Phänomenologie des Kleinbürgersex und hat sich damit als Dichterin endgültig etabliert („Das Berührungsverbot“, Rowohlt).

Ein überraschend neuer, weil noch unroutinierter, man möchte sagen ungeschickter und auf diese Weise seltsam verfremdeter Maugham („Der eigenartige Ehrbegriff des Herrn Sebastian und sechzehn andere eigenartige Geschichten“) erschien bei Rainer Wunderlich. Es handelt sich durchwegs um frühe, seit einem halben Jahrhundert nicht mehr publizierte Erzählungen, die von der Österreicherin Dr. Elfriede Wagner hervorragend übersetzt wurden.

Ereignis ersten Ranges bei Suhrkamp: ödön von Horvath, Gesammelte Werke, 1. Band. Unbekannte Fassungen („Sladek“) und ein nie gespieltes, nie gedrucktes Stück „Mord in der Mohrengasse“. Drei weitere Bände folgen demnächst.

Längst keine Provokation mehr: „Gesammelte Gedichte und visuelle Texte“ von Rühm bei Rowohlt. Drei ECON-Sachbücher sollten, müßten, Institutionen erschüttern: Der Bericht des uruguayischen Ex-delegationsgeneralsekretärs Casäs („Korruption in der UNO“) die Vereinten Nationen. Die Erinnerungen des pensionierten Presseattaches Drenker („Diplomaten ohne Nimbus“) das deutsche Außenamt. „Das seltsame Leben des Erich von Däniken“ (Roscholl/Roggers-dorf) die Schweizer Justiz. Was wird geschehen? Einige Zöpfe werden wackeln.

Wer kultivierte Wälzer (kein Schimpfwort!) mit literarischem Anspruch liebt, Unterhaltungsliteratur im besten, und das heißt allemal im angelsächsischen Sinne, wird zu Henry Roth („Nenne es Schlaf“) oder Thomas Berger („Der letzte Held“) greifen, beide bei Kiepenheuer und Witsch. Für Thomas Berger verfaßte Henry Miller eine Empfehlung, die es in sich hat: „Ein Roman, wie Mark Twain ihn geschrieben haben könnte, hätte er eine andere Frau gehabt.“

Härtere Ware liefert Harold Robbins mit seinem Supererfolgsroman „Die Bosse“ (bei Scherz), glatt erzählt, aber mit dem ganzen „Gewußt-wie“ dessen, der sein Publikum zu nehmen versteht. Zukunftsanalyse ohne Schwarzmalerei, aber mit Alarmkling ed.• „Der Zukunftsschock“ von Alvin Toffler. Ein Buch, das man in mancher Beziehung mit »Die Zukunft hat schon begonnen“ (Jungk) vergleichen kann. Erschienen bei Scherz.

Noch vor wenigen Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, daß im Schatten der Verlag9giganten immer weniger Lebensbaum für anspruchsvolle, bemühte, aber sehr kleine Verlage bleibt. Heute kann man sagen, daß im großen Teich der deutschen Buchproduktion zwar die großen Fische die mittleren Fische zu fressen drohen, die kleinen Fische bleiben dabei relativ unbehelligt, so lange sie den Versuchungen des Wachstums standhaft widerstehen. In den letzten Jahren entstand eine ganze Reihe kleiner Verlage mit anspruchsvollem Programm und sicherem Stammpublikum. Die meisten von ihnen politisch oder sex-profi-liert.

Geheimtip für Bibliophile, für Kenner und Liebhaber: „Das Märchen aller Märchen“, eine Neuauflage der hintergründigen Geschichten von Giambattista Basile (geboren um 1575) mit den „12 Scheuchen“ von Helmut Thoma, die „losgelöst vom Text“ und „ohne inhaltliche Beziehung“ die „Emotionen des Textes reflektieren“. Hervorragende moderne Graphiken, denen man, im Gegensatz zu allem, was in Zehntausenderauflagen erscheint, nicht nur ein Überdauern als Werk, sondern auch materielle Wertsteigerung prophezeien darf. Erschienen im „Henstedter Handdruck Verlag“, den kaum jemand kennt.

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