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Viele Bücher, kein Buch

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Frankfurter Buchmesse: Die Polizisten waren wieder dein Freund und Helfer. Wie sie so mit ihren Walkie-Talkies den israelischen Stand bewachten, sahen sie beinahe adrett, jung und sympathisch aus. Und selbst die Herren vom Einsatzkommando wirkten mehr wie ein Werbetrupp für ein Buch über die Polizei denn wie Polizei im Einsatz. Manche trugen sogar Barte.

Der Einsatz fand Samstag nach Tisch statt, und nicht mit Samthandschuhen, trotz der Barte. Linke wollten Nazibücher entfernen, genauer die Bücher des Verlages K. W. Schütz und seiner prominenten Autoren, darunter eine Frau Emma Gö-ring, Gattin weiland des gleichnamigen Reichsmarschalls. Friedenspreis für Janusz Korczak, einen polnischen Pädagogen (und Juden), der in Auschwitz starb, weil er die ihm anvertrauten Kinder nicht verlassen wollte — auf der einen Seite die Reden auf Korczak, auf der anderen die Unmöglichkeit, eindeutig neonazistische Bücher von der Messe fernzuhalten, eine fast unerträgliche, böse Dissonanz.

Retter in der Not: Jene Linken, die fürchten müssen, mit ihren eigenen Verlagen draußenzubleiben, ist das Zulassungsprinzip der totalen Liberalität einmal durchbrochen. Schütz durfte ausstellen, damit war deutsche Meinungsfreiheit dokumentiert, es wurde gegen ihn demonstriert, damit wurde deutsches Unbehagen an einem solchen Aussteller dokumentiert, die Demonstranten kamen aber nicht an die Bücher heran, und damit wiederum war die Fähigkeit der deutschen Polizei, die Ordnung zu schützen, dokumentiert. Man fühlte sich an die nicht von Herzmanovsky-Orlando erfundene Szene in einem österreichischen Botschaftsgebäude erinnert, wo der Botschafter jüdischen Demonstranten, die gegen den Freispruch eines Massenmörders durch österreichische Geschworene protestierten, österreichische Zeitungen mit Photos von einer Demonstration gegen ebendiesen Freispruch vorlegte: eh alles in Ordnung.

Die Buchmesse hat sich konsolidiert. So normale Pressekonferenzen hat es lang nicht gegeben, und die Insider mit Sektglas und Brötchenteller waren wieder ganz unter sich. Auch durften alle Autoren ungestört lesen.

Köstlich zum Beispiel, wie Walter Kempowski („Uns geht's ja noch gold“, bei Hanser) nach seiner, nun ja, anstößiges Wort, seiner Dichterlesung artig die Fragen altersloser Damen beantwortete; Autogramme, bewundernde Blicke.

Das Buch im Mittelpunkt, von dem jeder sprach, gab es diesmal nicht. Viele fanden diese Messe fad. Dabei gab es eine ganze Reihe von Neuerscheinungen, die man gerne nicht nur an-, sondern gleich ganz gelesen hätte.

Weltpremiere in deutscher Sprache für ein englisch geschriebenes Werk von Han Suyin: „Die Morgenflut — Mao Tsetung, ein Leben für die Revolution“ (Diana-Verlag, Zürich). Han Suyin zerstört Legenden pro und kontra, Maos Kindheit wird auf den sicheren Boden dessen zurückgeführt, was man durch Edgar Snow über ihn weiß; wichtige Ergänzungen zum wichtigsten Teil des Buches, betreffend den Langen Marsch, finden sich im neuen Suhrkamp-Taschen-buch Nr. 54: „Der Lange Marsch“ von Claude Hudelot.

Auch Jean Orieux räumt Legenden ab, stützt sich mit seiner nun auch deutsch publizierten Biographie „Talleyrand — die unverstandene

Sphinx“ unter anderem auf dessen Memoiren, „die nicht so verlogen sind, wie man allgemein annimmt“ — ein eng gesetztes, komprimiertes 768-Seiten-Werk, das mit jedem Roman konkurrieren kann.

Rosa Meyer-Levine („Levine, Leben und Tod eines Revolutionärs“, Hanser) legt die Motive dar, die den russischen Großbürgersohn zum Revolutionär machten — es war die Begegnung mit den Unterdrückten. Das

Buch enthält, erstmals veröffentlicht, die Akten des Standgerichtes, das Eugen Levine nach dem Zusammenbruch der Münchner Räterepublik zum Tod verurteilte.

Zwischen Biographie und Autobiographie, ein seltsamer Zwitter, eines der faszinierendsten Bücher seit langem: „Der Wolfsmann vom Wolfsmann“ (S. Fischer). Über den Wolfsmann referierte Freud ausführlich, aber ohne komplette Krankengeschichte, deren Preisgabe er für „sozial unzulässig“1 hielt. Sie wird jetzt nachgeholt: Der „Wolfsmann“ erzählt, kommentiert von seiner Ärztin, sein Leben, gibt sogar seine Familienphotos preis; nur der Name bleibt im Dunkel. „Wolfsmann“ bleibt ein anonymer Patient, ein Mann, der sein Leben erzählt, ein Patient Freuds.

Legt man Hans Magnus Enzensbergers „Der kurze Sommer der Anarchie“ daneben, so wird die Grenze zwischen „Roman“ und „Dokument“ fast nur noch durch den Namen des Autors markiert: Wenn Enzensberger Dokumente über Leben und Tod des spanischen Anarchisten Bonaventura Durruti sammelt und durch acht eigene Betrachtungen („Glossen“) kommentiert, kann es sich wohl nur um ein Produkt der Literatur handeln. Dieser Erwartungshaltung, keinem anderen Bedarf an Kennzeichnung, wird der Untertitel „Roman“ gerecht.

Drei klassische Ausprägungen des Sachbuches, beziehungslos nebeneinandergestellt: Das klassische archäologische Sachbuch: L. Sprague de Camp, „New York lag einst am Bosporus — Metropolen der Antike“. Ein informiertes, gescheites, auch spannendes Buch aus dem Econ-Verlag.

Ferner: Der zeitgeschichtliche Report vom Werden des Staates Israel, ausgezeichnet recherchiert, bibliographisch gut dokumentiert: „O Jerusalem“ von Larry Collins und Dominique Lapierre, die mit „Brennt

Paris?“ bekannt geworden sind — bei Bertelsmann.

Und, auf einem neuen Niveau, das totgesagte und tatsächlich fast ausgestorbene Buch über die verdrängten, aus dem Leben in die Geschichte dekretierten NS-Verbrechen: „Menschen in Auschwitz“ von Hermann Langbein im Europaverlag. Erstmals so umfangreich und so konsequent wird versucht, eine „soziologischpsychologische Studie der Menschen in Auschwitz“ zu schreiben, es wurde daraus'eine Studie über individuelle Reaktionen auf extremen physischen und psychischen“ Druck. Auschwitz ist hier nicht nur ein historisches oder ein politisches, sondern fast mehr ein medizinisches und soziologisches Thema.

Differenzierte zeitgeschichtlich-zeitungswissenschaftliche Information bietet (als Herausgeber) Will Schaber mit seiner Dokumentation „Aufbau — Reconstruktion“, einer deutsch bei Kiepenheuer & Witsch publizierten, zusammenfassenden Darstellung der wichtigsten deutschen Emigrantenzeitung des zweiten Weltkriegs, in der die ersten Informationen über Hitlers Konzentrations- und Vernichtungslager standen und die auch heute noch erscheint. .

Wie die Sache von der anderen Seite aussah, mit den Augen des verführten Deutschen, das beschreibt sehr menschlich, sehr gerade, sehr resigniert die deutsche Buchhändlerin Marianne d'Hooge in ihrem Büchlein „Mitbetroffen“ (Schriftenreihe Agora).

Bestseller wird keines dieser Bücher sein, auch nicht der harte, schreckliche, großartige Roman „Mauern“ von Hubert Selby (Rowohlt), der das Leben in der Zelle und Leben als Leben in einer Zelle beschreibt, den unablässigen Leerlauf einer frustrierten, sadistischen Phantasie. Aber auch der freundliche violette Kranz auf braunem Grund auf den „Liebesgeschichten“ von Adolf Muschg (der damit erstmals bei Suhrkamp veröffentlicht) verspricht Illusionen und hält Realität.

Bücher mit Seiler-Chancen: Vielleicht, hoffentlich, die „Russische Prosa heute“ bei Herbig und der Auswahlband „Heimat und Fremde“ von Twardowskij, bei Langen Müller, übersetzt von Alexander Kaempfe — damit kann die Affäre Solschenizyn vergessen werden. Gut übersetzt, russische Literatur, die in Rußland erschien — sie gerät heute über dem, was hinausgeschmuggelt wurde, oft unberechtigt in Vergessenheit.

Romane, die ihren Weg machen werden: Etwa „Im Auftrag meiner Regierung“ von Pierre Salinger (Marion von Schröder). Kein „Schakal“, aber ein gekonnter Thriller aus der Schreibmaschine eines echten Kennedy-Pressesprechers. Raffinierte fernöstliche Mächte bedrohen im Verein mit der Mafia die USA, ein „Gewebe aus Liebe, Haß und Treue“ — das kann geschäftlich unmöglich schiefgehen.

R. F. Delderfield schrieb den Roman des Viktorianischen Zeitalters: „Gott ist Engländer“ — Deutsch: „Die Swan-Saga.“ Breit, spannend, glatt lesbar. Sandra Paretti beschrieb frühe amerikanische Geschichte und das Schicksal der als Soldaten nach Amerika verkauften hessischen Landeskinder („Der Winter, der ein Sommer war“, Bertelsmann) — breit, glatt, lesbar, spannend. Edmonde Charles-Roux, deren Roman „Elle, Adrienne“ in Frankreich eine Auflage von 200.000 erreichte, beschreibt hingegen das „Zerbrechen einer Gesellschaft im zweiten Weltkrieg“ — und diese Frau kann schreiben: „Aber der Bart war nicht lang genug, und die Zähne waren zu vollständig. Das konnte nur ein Großfürst im Exil sein.“

Auch in Frankfurt werden die Barte wieder kürzer — lösen wieder einmal Großfürsten Anarchisten ab?

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