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Bücher, aber kein Buch

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So ruhig wie heuer war die Buchmesse noch nie. Die Demonstranten vom Dienst beschränkten sich auf lustlose Pflichtübungen. So wurde etwa eine Aktion gegen den südkoreanischen Stand so spät angesetzt, daß die .herannahende abendliche Sperre jeder möglichen Eskalation die Spitze abbrach — ein Meisterstück defensiver Konfliktstrategie. Aber auch die sonst so üppig zelebrierten Pflichtübungen in literarischer Esoterik wurden so hastig und knapp abgewickelt wie möglich, um . ąuf das eigentliche Thema zurückzukommen: Das Geld, das im Zeichen der Kostenexplosion in größeren Mengen als je zuvor benötigt würde und im Zeichen der Rezession, die schon da ist, und der Krise, vor der sich alle fürchten, spärlicher fließt als noch vor wenigen Monaten.

Zwar erreichte die Zahl der Neuerscheinungen wieder einmal eine Rekordmarke (mehr als 40.000 Neuerscheinungen aus Bundesrepublik und Westberlin), aber es war leicht zu erkennen, daß es sich bei einem nicht unbeträchtlichen Teil dieser Neuerscheinungen um Titel handele te, die nur deshalb auf den Markt kamen, weil man ihre Produktion ohne Verlust nicht mehr stoppen konnte. Dafür wurde für die produzierten Titel offensichtlich weniger geworben.

Mit Sicherheit wird das kommende Jahr einen erheblichen Titelrückgang bringen — gleichgültig, ob die Rezession in eine neue Konjunktur oder in eine Krise übergeht. Und um ehrlich zu sein: Ein Abbau des Überangebotes an neuen Titeln ist genau das, was der Buchmarkt seit vielen Jahren braucht. Denn die Stände sind Jahr für Jahr überfüllt mit Büchern, die nicht geschrieben wurden, weil ein Autor etwas zu sagen hatte, die nicht geschrieben wurden, um ein Bedürfnis zu befriedigen, und die nicht einmal einem nüchternen Erfolgskalkül entsprangen, sondern einzig und allein der Hoffnung, sie schon irgendwie verkaufen und damit die Produktionsmühle auf Touren halten zu können.

Es ist ganz einfach falsch, wenn immer wieder behauptet wird, diese Titelvielfalt sei notwendig, um jungen, vielversprechenden Talenten zum Start zu verhelfen, um auch schwierigen Werken eine Existenzmöglichkeit zu verschaffen. Im Gegenteil, gerade diese Titelinflation wurde zum Untergang echter Minderheitenproduktionen, die nicht mehr den Weg in die vollgerammelten Buchhandlungen finden konnten, weil sie in der Flut untergingen. Eine einschneidende Verminderung der Titelzahlen kann geradezu zur Voraussetzung dafür werden, daß es kleinen, ambitionierten Verlagen, die es immer geben wird, möglich wird, mit Büchern, die nur wenige tausend Leser interessieren, die aber wirklich, den Weg zu dieser Minderheit finden. Wenn hervorragende Autoren wie etwa ein Peter Marginter oder ein Gabriel Garcia Märquez über Miniauflagen nicht hinauskommen, so liegt das nicht daran, daß die Minderheit, die zur treuen Leserschaft solcher Autoren werden könnte, nur wenige tausend

Menschen stark ist. Es liegt vielmehr daran, daß sie den Weg zum Leser nicht finden, weil dieser Weg von der Flut dessen, was an alle und niemanden adressiert ist, total blok- kiert ist. Ein Autor, der selbst nur einen einzigen Menschen unter zehntausend interessiert, müßte auf einem Markt von hundert Millionen Menschen 10.000 Leser finden.

Bücher für Minderheiten finden seit vielen Jahren diese ihre Minderheit nicht mehr, weil sie in der Masse der 1967 immerhin 30.000, heute bereits mehr als 40.000 Neu-

erscheinungen .untergehen. Es., ist eine große Frage, ob bei einer Reduktion um, sagen wir, ein Drittel der Titel oder einen noch höheren Prozentsatz die Zahl der verkauften Bücher wesentlich sinken muß. Auch die Autoren sollten daran interessiert sein, die Heilige Kuh des deutschen Buchmarktes, nämlich den Irrtum, daß viele Titel die Chancen des einzelnen Autors erhöhen, abzustechen. Tatsächlich führte die Titelflut zu einer Verelendung der Autoren: Wenigen Bestsellern stehen Durchschnittsauflagen gegenüber, von denen nur noch Autoren leben können, die Bücher werfen wie

Kamickel ihre Jungen. Die anderen leben entweder schlecht oder von etwas anderem — beides ist nicht im Interesse der Literatur.

Es ist allerdings eine andere Sache, daß der notwendige und gesunde Schrumpfungsprozeß, der, früher durchgeführt, die Branche krisenfester gemacht hätte, nun unter dem Diktat allgemeiner Krisenerscheinungen stattfinden muß, so daß zu befürchten steht,. daß einmal mehr das, Anspruchsvolle . untergeht und das Beiläufige überlebt. Man wird die Buchproduktion des kommenden Jahres unter dem Gesichtswinkel zu sehen haben, welche Verleger die Substanz ihres Berufes über Bord werfen und wer wirklich das ist, was er zu sein behauptet.

In der schönen Literatur möchten wir, mit dem Akzent’ auf’ der Literatur, vier Bü’cher’/hervorheben, die uns bedeutend erscheinen — bedeutend nicht nur . aus der Perspektive einer Herbstproduktion, die entweder in fünf Wodien vom 19. auf den dritten oder vierten Platz der Bestsellerliste turnt oder im Vergessen versinkt. Von Franz Innerhofer wird man nicht nur im Herbst 74 reden — hier kündigt sich, mit dem Erstlingsroman „Schöne Tage” (Residenz Verlag), ein bedeutendes Erzählertalent an, dessen Erfolg, sprich Chance auf Tantiemen, von denen er leben kann, davon abhängen wird, ob ihm das Überschreiten autobiographischer Themen gelingt. Gabriel Garcia Märquez, von dem (bei Kiepenheuer und Witsch) ein Band Erzählungen unter dem Titel „Das Leichenbegängnis der großen Mama” erschien, ist, im Vergleich zur Größe des Marktes, nur einem winzigen deutschen und österreichischen Publikum bekannt. Das ist eines der negativen Wunder dieses Marktes, denn Märquez’ Roman „Hundert Jahre Einsamkeit” kann in mancher Beziehung, vor allem aber auf Grund seines literarischen Ranges, mit der „Blechtrommel” verglichen werden. Er könnte ein gewaltiges Publikum auch in Deutschland haben — wäre nicht Werbung mit Millionenaufwand offenbar bereits der. einzige Weg zu diesem, Publikum, Zumindest für einen Südamerikaner.

Stanislaw Lern hingegen kommt, nicht zuletzt dank’ den Bemühungen seines deutschen Verlages (Insel), als Pole in Deutschland hervorragend an. Er schreibt Science fiction, die viel mehr ist, als unter dieser Rubrik zu erwarten, und schrieb nun „Memoiren gefunden in der Badewanne” — eine „surrealistische Antiutopie” von der Durchdringung zweier Spitzelapparate, deren Macht dem Individuum keine Chance mehr läßt. Schließlich, im Bertelsmann-Verlag: „5 Tage im Juni” von Stefan Heym.

Der Roman eines in der DDR lebenden Dichters über den 17. Juni und somit ein deutsches Dokument.

Die Buchmesse 74 ist eine Buchmesse ohne Moden gewesen. Keine Sex-Buchmesse, keine Hitler-Buchmesse, schon gar keine Buchmesse linker Theorie, und auch keine Mystik-Messe. Obwohl Mystik stark da war. Sie war auch keine Spionage- Buchmesse, obwohl der gehobene Unterhaltungsröman dieses Milieu gegenwärtig sehr favorisiert. John le Carre, mit dem „Spion, der aus der Kälte kam” berühmt (und reich) geworden, schrieb nun „Dame, König, As, Spion” (Hoffmann und Campe) und damit einen jener Romane, die, in deutscher Originalsprache, leider so selten sind: Den Unterhaltungsroman mit literarischem Anspruch, der Reißer-Qualitäten mit stilistischer Qualität vereint. Ähnliches versucht Colin Forbes mit „Target V” (Marion von Schröder), aber auch hier ist Spannung — erzielt ohne Spekulation auf die sogenannten niedrigsten Instinkte.

Hier die angelsächsischen Agenten- romane — da die politischen Romane, in denen Agenten eine meist sehr viel realistischere Rolle spielen. In der unter Bertelsmann-Fittichen erscheinenden Autoren-Edition schrieb Bemt Engelmann den Tatsachenroman „Großes Bundesverdienstkreuz” — ein zorniges Buch über die Nichtbewältigung (oder allzu glatte Bewältigung) deutscher Vergangenheit. Bei Scherz erschien „Die Kanzlerreise” von Michael Hor bacb. Ein Buch, welches genau das liefert, was der aktuelle Titel verspricht.

Das — mit weitem Abstand — Bedeutendste, was auf dem Gebiet der Memoirenliteratur erschienen ist: „Ich bekenne, ich habe gelebt” von Pablo Neruda (Luchterhand).

Das — mit weitem Abstand — folgenreichste Buch des Jahres erschien, in deutscher Übersetzung, in dem überaus ambitionierten und anspruchsvollen Verlag Droste: „Portugal und die Zukunft” von Antonio de Spinola. Die Ereignisse mögen, in des Wortes brutaler Bedeutung, über den Verfasser hinweggeschrit ten sein. Ohne dieses sein Buch hätten die Ereignisse nicht stattfinden können — denn es gab den entscheidenden Anstoß zur portugiesischen Revolution des 25. April. Es ist eine Abrechnung mit der Vergangenheit. Eine andere Abrechnung hat Spinola mit der Zukunft mittlerweile durch seinen Rücktritt vollzogen.

Nicht weniger als drei brandaktuelle Themen werden in diesem Jahr von Buchhandels-Zwillingen abgehandelt. Es erschienen, bei Hoffmann und Campe von Stephen Graubard und bei Ullstein von Marvin und Bernard Kalb, zwei Bücher mit demselben Titel: Kissinger. „Zwischenbilanz einer Karriere” nennt sich im Untertitel das erste, „die definitive Biographie” das zweite. Aber jedes Definitivum bei Kissinger kann heute wohl nur wiederum eine Zwischenbilanz sein. Ein dritter Verlag tat das Klügste und verschob seinen „Kissinger” auf einen späteren Zeitpunkt. Das Thema bleibt zweifellos aktuell. Neue Blickwinkel könnten sich durchaus ergeben.

Einander ergänzende Buch-Zwillinge sind die Bücher „CIA” von Marchetti/Marks bei der Deutschen Verlagsanstalt und „KGB” von John Barron bei Scherz. Das erste Buch hat den Vor- und Nachteil, von einem CIA-Insider zu stammen — es ist von zensurierten Stellen gespickt, denn das Manuskript mußte dem ehemaligen Dienstgeber Marchettis, der CIA, vorgelegt werden.

Auch zwei Bücher über die Araber [ergänzen einander in durchaus positiver Weise. „König Feisal — Koran Į und öl” von Ruth Seering (bei Lübbe) und „Die Araber” von Gerhard Konzeimann (Nahostkorrespondent des deutschen Fernsehens in Beirut, Nachfolger des erschossenen Walter Mechtel) im Desch-Verlag.

Kurt Desch, der Vorbesitzer des Desch-Verlages, bescherte der Branche einen Skandal, der ihr gerade noch gefehlt hat. Wie sich herausstellte, hat er die Autoren seines Verlages um Millionenhonorare verkürzt — wenn es wahr ist, daß die Witwe eines Autors einige Tausend Mark Vorschuß „abstottern” mußte, obwohl ihr’ ein höherer Betrag zugestanden hätte, würde diese „kleine Affäre am Rande einer Affäre” wohl charakterlich ein noch «schlechteres Licht auf den Verantwortlichen werfen als die zurückbehaltenen Millionen eines Kirst oder wie sie alle heißen.

Aber die Buchmesse hatte auch | noch eine andere Affäre, über die i wenig geschrieben und um so mehr I getuschelt wurde. Deutschlands Großpoet Günter Grass, der heuer nur mit einer Sammlung älterer Reden aufschien, profiliert sich mehr und mehr als der oberste politische ‘ Sittenwäohter der Literatur, der sich berufen fühlt, anderen zu sagen, was sie dürfen und was nicht. Grass zufolge dürfen Sowjetdichter zwar in den Westen emigrieren und vielleicht sogar schreiben, aber eine Zeitung herausgeben dürfen sie nicht. Jedenfalls nicht unter Springers Fittichen. Worauf sich Grass sagen lassen mußte, zwischen Springer und den Herren vom Archipel Gulag bestehe doch einiger Unterschied. Er, Grass, hat auf diesen Unterschied zwar selbst schon hingewiesen — aber für die emigrierten Autoren läßt er ihn neuerdings nicht gelten. Was schade ist. Denn gerade dieses Thema hätte der Differenzierung bedurft.

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