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Europäische Nabelschau

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350.000 Bücher, davon über 100.000 Neuerscheinungen, 8.300 Verlage aus 90 Ländern. Soweit die Daten zu einem Fest, das die wichtigste internationale Begegnung aller Menschen ist, die mit Büchern zu tun haben.

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350.000 Bücher, davon über 100.000 Neuerscheinungen, 8.300 Verlage aus 90 Ländern. Soweit die Daten zu einem Fest, das die wichtigste internationale Begegnung aller Menschen ist, die mit Büchern zu tun haben.

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Die beeindruckenden Zahlen sind allerdings nur eine Seite der Medaille. Die andere sind stagnierende bis rückläufige Verkaufszahlen der Bücher der industrialisierten Länder. Die Verlage reagieren darauf zur Zeit mit einer schwachen Reduktion der produzierten Titel, diese dafür mit höheren Auflagen und einem noch größeren Budget für Werbung. Wie lange kann das gutgehen?

Solche Fragen werden bei der Messe aber im besten Fall vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels gestellt. Die Branche selbst blickt in diesen fünf Herbsttagen nicht auf ihre eigenen Probleme, sondern genießt es, wenigstens einmal im Jahr aus dem Schatten der Tages- und Wirtschaftspolitik herauszutreten und bei den zahlreichen Veranstaltungen rund um das Großereignis ihre Wichtigkeit durch die Diskussion „weltbewegender" Fragen zur Schau zu stellen.

So ganz ist das heuer nicht gelungen. Denn obwohl das mit dem 500-Jahr-Jubiläum der Entdeckung Amerikas korrespondierende Schwerpunktthema „Mexiko - ein offenes Buch" hieß, standen ganz andere Weltgegenden im Zentrum des Interesses. Mexiko, das für die ursprünglich für dieses Jahr geplante Sowjetunion eingesprungen ist, wurde zwar mit zahlreichen Veranstaltungen und einem schönen Pavillon geehrt, doch beim intellektuellen Diskurs spielte es eine marginale Rolle. Europa ist mit sich selbst vollauf beschäftigt. Charakteristisch für diese Buchmesse war daher, daß mehr über Abwesende als über Anwesende gesprochen wurde. Skinheads (beziehungsweise Neo-Nazis), serbische Generäle, bosnische Flüchtlinge, Brüsseler EG-Beamte und Altkommunisten waren die „Protagonisten" in Frankfurt.

Die ausgefallenen Staaten der ehemaligen Sowjetunion spielten auf dem geschätzten und vielbesuchten „Ost-West-Treffpunkt" eine entscheidende Rolle. Hier wurde zum Beispiel unter dem Titel „Über die Nostalgie nach dem Sozialismus und ihre Quellen" vor allem über Rußland diskutiert. Hatte der bekannte Dissident und Atomphysiker Juri Orlow noch in seiner im Frühjahr erschienenen Au-tobigraphie von einer „demokratischen Tradition" Rußlands geschrieben, die es wiederzubeleben gilt, so überraschte einmal mehr Aleksander Sinowjew die Zuhörer mit der These, daß die „kommunistische Gesellschaft in Rußland keine künstliche, jedenfalls nicht weniger natürlich als die kapitalistische" war und durchaus ihre Vorzüge hatte. Für ihn ist die westliche Gesellschaft keineswegs Allheilmittel für alle Menschen und Völker dieser Erde. Die Frage nach der Universalität der westlichen Werte blieb umstritten. Einig waren sich die Dis-kutanten darüber, daß ein ebenso starkes wie unbefriedigtes Sicherheitsbedürfnis, ein „Heimweh nach Sicherheit" die kommunistischen Parteien Osteuropas stärkt.

Zuliefererland Österreich

Indirekt spielte bei diesen Treffpunkten Österreich seine stärkste Rolle - nämlich als „literarisches Zuliefererland". So wäre die osteuropäische Literatur ohne die verdienstvollen Bemühungen einiger österreichischer (Klein)Verlage wohl kaum so stark ins Bewußtsein der westeuropäischen Öffentlichkeit gedrungen. Namen wie Drago Jancar, Dragan Velikic oder Ali Podrimja sind auch dem deutschen Feuilleton heute schon geläufig. So wird etwa Karl-Markus Gauß' neue Anthologie mitteleuro-

päischer Literatur, „Das Buch der Ränder", auch von den großen deutschen Zeitungen bereits wahrgenommen. Offensichtlich ist auch dort bemerkt worden, daß von diesen Texten für die sich in postmodernem Geplänkel aufreibende deutschsprachige Literatur Impulse ausgehen können.

Nach wie vor sind aber auch österreichische Autoren am Belletristik-Sektor überproportional vertreten, allerdings bei deutschen Verlagen. So kann es nicht verwundern, daß auch die auf der Messe vorgestellten Gespräche Bundeskanzler Franz Vranitzkys mit dem Falter-Chefredakteur Armin Thurnher von einem deutschen Verlag ediert werden. Anregungen zur Lösung des Konflikts um das Gleichbehandlungspaket holte sich der Kanzler vermutlich bei seinem langen Aufenthalt am Stand des Wiener Frauenverlags. Seine Präsenz (gemeinsam mit Kunstminister Rudolf Schölten) konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Österreich heuer nur über einzelne Autoren und Verleger, nicht jedoch als Land an sich Beachtung fand.

Besonders die Deutschen haben mit sich selbst zu tun. Der Rechtsradikalismus und die damit in Zusammenhang stehende Asylrechtsfrage lassen unsere Nachbarn den Atem stocken. Diese Thematik stellte bei der Pressekonferenz mit dem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 1992, den Israeli Arnos Oz, daher auch die näherliegende nach dem Friedensprozeß im Nahen Osten in den Schatten (siehe nebenstehenden Kasten). Die türkischstämmige deutsche Autorin Emine Sevgi Özdamar (Bachmann-Preisträgerin 1991) meinte in einem Interview im hessischen Rundfunk, daß „ein Skinhead in Deutschland ja viel weniger zu Hause ist als ich".

Der deutsche Paradeintellektuelle Hans Magnus Enzensberger hat dazu wieder einmal zum richtigen Zeitpunkt ein Büchlein unter dem Titel

„Die Große Wanderung" vorgelegt, in dem er in „33 Markierungen" erst den Anfang einer Völkerwanderung ortet, die im übrigen nichts Neues in der europäischen Geschichte darstellt. Auch wenn manche Kritiker in diesem Büchlein keine Neuigkeiten und schon gar keine Lösungsvorschläge finden konnten, so hat Enzensberger damit doch eine der brennendsten Fragen dieser Zeit der kurzsichtigen Tagespolitik enthoben, und sein Buch war deshalb in aller Munde. Daß auch der neue deutsche Nationalfeiertag, also der „Tag der deutschen Einheit", sowie Helmut Kohls zehnjähriges , Amtsjubiläum in die Zeit der Messe fiel, machte es den Deutschen nicht eben leichter, von ihren Problemen abzusehen.

Im Schatten des Balkankrieges

Selbstverständlich stand die Messe auch im Zeichen des Krieges im ehemaligen Jugoslawien - nicht nur wegen der ungeklärten Flüchtlingsfrage. Dabei wurde an Kritik an der EG nicht gespart und immer wieder die Forderung nach einem internationalen Gerichtshof laut. Auffallend war dabei, daß in der Frage eines militärischen Eingreifens am Balkan die Deutschen sich sehr vorsichtig äußerten und das damit begründeten, daß ein Land, das aus historischen und verfassungsrechtlichen Gründen an einer solchen Operation nicht teilnehmen kann, keine Ratschläge zu erteilen hat. Ähnliche Zurückhaltung, meinte Milo Dor (siehe auch unteren Beitrag), stünde auch Österreich gut an.

Die Frankfurter Buch-Messe ist bei aller Gigantomie doch eine unerläßliche Institution geworden, weshalb viele, die nicht mehr mitmachen wollten am „Jahrmarkt der (intellektuellen) Eitelkeiten" wieder zurückgekehrt sind. Und deshalb wird sie auch in einem geeinten Europa fixer Treffpunkt bleiben.

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