Der Eros des Ostens

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Das faszinierende an der Kultur der EU-Kandidatenländer.

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Das faszinierende an der Kultur der EU-Kandidatenländer.

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"Von der Politik als reiner Servicefunktion wie der der Stadtverkehrsbetriebe werden keine Fundamente einer neuen Gesellschaft errichtet, sondern einzig von der Kreativität." Drago JanÇcar in "Brioni und andere Essays"

Es war eine Landschaft, in der Menschen und Bücher lebten" - so beschrieb Paul Celan in der Bremer Literaturpreis-Rede seine einstige Heimat, die Bukowina. Als Maturant kam mir dieser Satz unter, aber verstanden habe ich ihn erst 10 Jahre später als Germanistik-Lektor in Litauen. Dort habe ich gesehen, dass Bücher leben können, dass Kultur nicht Freizeitbeschäftigung, sondern ein Überlebensmittel war, ohne das der dumpfe sowjetische Alltag nicht zu überstehen gewesen wäre. Mittlerweile hat die Kultur diese singuläre Rolle in Litauen wie in allen Reformstaaten verloren, weil den Menschen eine Fülle von Möglichkeiten, sich zu äußern und ihre Zeit zu verbringen, offen steht. Dass uns in den letzten Jahren aus den meisten dieser Länder eine Literatur von besonderer Tiefe und Einzigartigkeit erreichen, hängt jedoch auch damit zusammen, dass in Abgeschiedenheit und "freiwilliger Einkerkerung" (so Imre Kertész in seinem "Galeerentagebuch") Werke entstanden sind, denen die Erfahrung der Diktatur und damit ein besonderes Wissen um den Menschen eingeschrieben ist; eine Literatur, die vor allem eines erschließt: "jenes zentrale Gebiet des Geistes, der weiß, dass das Zentrum dort ist, wo die künstlerische Tat existiert, sei es auch am geographischen, politischen oder an jenem ökonomischen Rand, wo das Überleben kaum möglich ist", wie Drago JanÇcar in seinem eben erschienenen Essayband "Brioni" schreibt. "Und das wissen wir Marginalen, die wir sowohl die Regierungspaläste als auch die Kerkerzellen von innen kennen, die Salons und die Bahnhofsspelunken, die Heiligen und die Huren, die Ekstase, die Versuchung, die Angst, den Mut, den Zweifel, die Aktivität und die Apathie". Schon in der Rebellion gegen die Unterdrückung der Habsburger oder der russischen Zaren und erst recht in der kommunistischen Diktatur haben Literatur und Kunst in Mittelosteuropa eine zentrale Funktion und Intellektuelle eine öffentliche Rolle gespielt.

Eine Salzburger Bank warb im Vorjahr mit dem Slogan "Ideen für Ihr Geld". Freunde aus Siebenbürgen haben darüber herzlich gelacht und gemeint: "Ich bräuchte doch Geld für meine Ideen!" Einfacher lässt sich der Unterschied der Lebenskultur nicht auf den Punkt bringen.

Hinter dem Überschuss der Ideen gegenüber dem Geld wittern wir meist nur Rückständigkeit, weil wir den kulturellen Reichtum nicht kennen. Ihn kennen zu lernen hindern uns nicht nur fehlende Sprachkenntnisse, sondern auch der Mangel an jedem historischen Wissen bezüglich der EU-Beitrittskandidaten. So wird nicht nur der Surrealismus zu einer französischen Angelegenheit, weil wir von seiner Entstehung in Rumänien nichts wissen, auch die Tatsache, dass Budapest die erste Stadt auf dem europäischen Festland mit einer U-Bahn war, fällt uns kaum ein. Der "Osten", das sind bestenfalls idyllische Landschaften, aber nicht die Kunst des aus Ungarn stammenden Designers Marcel Breuer, dessen Sesselformen aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken sind.

"Die Mitte liegt ostwärts"

Bekannte mit Universitätsabschluss haben mich gefragt, ob Ungarisch eine slawische Sprache sei. Unseren Nachbarn gegenüber fühlen wir uns zu beinahe gar keiner Kenntnis verpflichtet, weil wir uns selbst für die Mitte halten. Von manchen Ländern wollen wir auch besser nichts wissen: Die Polen mussten mit Erstaunen feststellen, dass sie von allen EU-Ländern in Österreich das schlechteste Image haben; darum gibt es jetzt ein Polenjahr in Österreich.

"Die Mitte liegt ostwärts", so der thesenhafte Buchtitel des Historikers Karl Schlögel. Geographisch liegt die Mitte Europas jedenfalls in Litauen. Diesem Land verdanken wir etwa den Philosophen Emmanuel Levinas, den Semiotiker Algirdas J. Greimas und den Geiger Jascha Heifetz, doch sie alle haben im Ausland studiert und konnten nicht mehr zurückkehren, und so werden sie auch nicht als Litauer wahrgenommen. Ähnlich lang hat es gedauert, bis wir realisiert haben, dass der Dramatiker Eugène Ionesco, der Bildhauer Constantin Brancusi oder der Denker E. M. Cioran aus Rumänien stammen.

Klischee vom "wilden Osten"

Dabei könnte das Interesse für "kleine" Kulturen und randständige Länder viele Einsichten vermitteln - vor allem das begründete Misstrauen in die begrenzte Reichweite unserer Medienmaschinerie, die uns ein Weltwissen vorgaukelt und gleichzeitig ganze Regionen systematisch ausblendet. Dabei führen gerade die Reisen in Gegenden, die im 20. Jahrhundert zu Randgebieten geworden sind, zu kulturellen Quellen. In der Ostslowakei findet man nicht nur den größten existierenden gotischen Flügelalter in LevoÇca (Leutschau), sondern auch die Stadt KoÇsice (Kaschau), den Geburtsort des österreichischen Schriftstellers Andreas Okopenko und des in den letzten Jahren wiederentdeckten ungarischen Romanciers Sándor Márai; und nicht weit von dort ist Andy Warhol geboren. Die mittelosteuropäischen Länder sind erst spät national homogenisiert worden, und manche Gebiete sind bis heute multikulturell geblieben: Siebenbürgen etwa, wo eine ungarische "Minderheit" von zwei Millionen lebt und der Schriftsteller Eginald Schlattner als 99. und letzter Pfarrer von Rothberg bei Hermannstadt zum Seelsorger der Roma geworden ist, weil seine Sachsen binnen eines Sommers das Land verlassen haben. Um Europa zu verstehen, muss man nicht nur in Prag oder Budapest gewesen sein, sondern auch in der einst blühenden mittelböhmischen Bergbaustadt Kuttná Hora (Kuttenberg), die erst nach der Entdeckung Amerikas zur unbedeutenden tschechischen Provinzstadt wurde, oder im südungarischen Pécs, der Geburtsstadt des Malers Victor Vasarely, mit seinem steil ansteigenden Hauptplatz, der von Fassaden der Jahrhundertwende flankiert wird und in den von oben die zur Innerstädtischen Pfarrkirche umgebaute Moschee hereinragt. Und man darf das gegenreformatorisch-barock geprägte Vilnius und die hanseatisch-protestantisch geprägten Städte Riga und Tallinn ebenso wenig aus den Augen verlieren wie die Zeugnisse einer seit dem Mittelalter blühenden urbanen Kultur in Siebenbürgen. Die Reise in diese noch immer unbekannten Gegenden ist aufregender als mancher Ferntourismus. Ein praktischer Leitfaden könnte dabei der "Kulturführer Mitteleuropa" des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa sein, gute literarische Reisebegleiter finden sich in der Reihe "Europa erlesen" oder "Das Buch der Ränder" des Klagenfurter Wieser Verlags, der bis Jahresende auch die ersten beiden Bände seiner "Enzyklopädie des Europäischen Ostens" herausbringen will.

Im blinden Winkel

Die mittelosteuropäischen Länder sind keine Idylle. Man muss nur die Tristesse der alten trinkenden Männer in Dorfwirtshäusern der Mittelslowakei - der politischen und mentalen Machtbasis von Vladimir MeÇciar - erleben, durch litauische Kleinstädte fahren, wo Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Selbstmordrate (Litauen hat die höchste der Welt!) hoch sind, oder das Holzbein unter dem Rock einer Frau in einem siebenbürgischen Dorf sehen, um den realen Alltag nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Bukarester Straßenkinder wären nicht denkbar ohne die Zerstörung einer Kultur der Solidarität, und die fehlenden Möglichkeiten von Selbstorganisation in einer Zivilgesellschaft sind ebenfalls schmerzlich evident. Aber gerade die Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen dieser Länder setzen sich damit auseinander. Gerade das gibt ihren Werken Relevanz, Sprachkraft und oft eine skeptische Ironie, die sich gerade Kennern der österreichischen Literatur als sehr vertraut erschließt. Ihre wichtigste "Botschaft" ist die Opposition gegen die Dominanz des Geldes über die Kultur. Ein Erzähler und Essayist von europäischem Format, der Slowene Drago JanÇcar, hat sie in einer Weise ausgedrückt, die weit über sein Land hinaus Bedeutung hat: "Von der Politik als reiner Servicefunktion wie der der Stadtverkehrsbetriebe werden keine Fundamente einer neuen Gesellschaft errichtet, sondern einzig von der Kreativität. Wenn dieses Bewusstsein nicht durchdringt, wird sich tatsächlich der Raum für die zynische Distanz weit öffnen, für die nackte Gier nach Herrschaft und Macht."

Erst wenn wir uns nicht mehr nur über die Umstellung der polnischen Landwirtschaft und andere Kostenfaktoren der EU-Erweiterung Gedanken machen, sondern die Relevanz der Kultur kennen, die uns dadurch zuwächst, sind wir wirklich Europäer. In den siebziger Jahren hat die Faszination der Kultur der iberischen Halbinsel und das Aufatmen über das Ende der Diktaturen energische Anstrengungen für die Aufnahme Spaniens und Portugals in die Europäische Gemeinschaft mobilisiert. Die reichen Facetten der Kulturen der mittelosteuropäischen Reformländer, die kennen zu lernen ein Menschenleben nicht ausreicht, sind Grund genug, das Zusammenwachsen Europas herbeizusehnen, damit endlich das Licht selbstverständlicher Kenntnisse auf diesen blinden Winkel Europas fällt und wir ein gutes Jahrzehnt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auch die Vorhänge unserer Wahrnehmung kultureller, historischer und alltäglicher Zusammenhänge hochziehen.

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