Nordpol - © Foto: Pixabay

Die Erfindung des Ostens

19451960198020002020

... und warum wir ihn als Realität dringend brauchen.

19451960198020002020

... und warum wir ihn als Realität dringend brauchen.

Werbung
Werbung
Werbung

Die EU-Erweiterung wird eine Kultur-Erweiterung bedeuten, die der "westliche" Provinzialismus dringend braucht. Der Reichtum des "Ostens" - Polen und Ungarn sind deutliche Beispiele - ist nötig, wenn der "Westen" sich selbst verstehen will und Europa nicht zu einem nivellierten kulturellen Einheitsbrei verkommen soll.

Der Osten ist eine Erfindung. Der Osten ist eine Realität. Wenn im Westen heute vom Osten gesprochen wird, ist meist nicht klar, ob die Erfindung oder die Realität gemeint ist. Der Westen kann nämlich kein Bild von sich entwerfen, ohne ein Gegenbild zu haben, in das er imaginiert, was ihm an seiner eigenen Geschichte peinlich ist und womit er, an der Schwelle zu einer neuen Ära, nichts mehr zu tun haben möchte. Dieses Gegenbild zum Westen, dessen Ideal es heute ist, wohlhabend und demokratisch zugleich zu sein, war immer schon der Osten.

Navigator

Liebe Leserin, lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Wo die Grenze zum Osten verläuft, hat sich im Laufe der Geschichte des öfteren geändert; und was den Unterschied zwischen der Kultur diesseits und jenseits dieser Grenze ausmachte, war keineswegs stets dasselbe. Statt auf den Besitz der Demokratie mochte der Westen beispielsweise lange eher auf den der Rechtgläubigkeit stolz gewesen sein. Die den rechten Glauben nicht hatten, wurden über die Jahrhunderte gen Osten verschickt, dorthin, wo das Land so weit war, dass selbst Ketzer oder Falschgläubige eine Aufgabe erfüllen konnten, die dem Westen nutzte. Maria-Theresia, in ihrer rabiaten Güte, ließ Calvinisten und Protestanten nach Siebenbürgen und in die Wojwodina verschicken, wo sie ihrer Religion nachgehen durften und zugleich die Grenzen gegen das Osmanische Reich dichter besiedeln sollten.

Freiheit im Osten

Und seit dem frühen Mittelalter verschluckte der weite Osten die Juden, die in Frankfurt oder Granada periodisch verbrannt wurden und religiöse Freiheit nur dort fanden, wo die Barbaren hausten. Die Juden nahmen in den Osten ihre Sprache mit, sodass das Jiddische die deutsche Herkunft so vieler polnischer Juden bezeugte und das Sephardische zur lingua franca des ganzen östlichen Mittelmeerraumes und der Levante wurde und daran gemahnte, dass die Juden von Sarajevo, Saloniki oder Sofia eigentlich aus Spanien gekommen waren. Viel später sollten die Nachfahren derer, die einst in den Osten gejagt wurden oder dorthin um ihr Leben haben flüchten müssen, wieder westwärts wandern, und es braucht hier gar nicht im einzelnen ausgeführt werden, was zumal der österreichischen Kulturgeschichte fehlen würde, wenn sowohl die Ashkenazim, die mittel- und osteuropäischen Juden, als auch die Sepharden, die spaniolischen Juden, jenseits der Grenzen, hinter die sie verwiesen worden waren, geblieben wären.

Der Osten als Projektion

Die Grenze, die den Osten vom Westen trennte und den Westen gegen den Osten sicherte, ist uralt, aber sie schnitt nicht immer an derselben Stelle durch Europa. Gleich blieb an ihr nur, dass es sie gab und dass sie dem Westen half, sich nacheinander selbst als Reich des wahren Glaubens, der Menschenrechte, des Fortschritts zu identifizieren. Der periodisch von inneren Krisen zerrissene, durch Kriege verwüstete Westen verstand sich nämlich trotz dieser Kriege und Krisen dennoch zumeist als eine Einheit, und das brachte er nur zuwege, indem er sich etwas erschuf, was das Andere, das Fremde, eben der Osten war. Der Osten war es, der dem Westen den Begriff seiner selbst brachte, und die bulgarische, in den USA lebende und lehrende Historikerin Maria Todorova hat das einmal schon im Titel eines monumentalen Buches ausgesprochen: "Die Erfindung des Balkans" nannte sie es, in dem sie minutiös nachzeichnet, wie "dem Balkan" nach und nach all das zugeschrieben wurde, was der Westen aus seiner eigenen Geschichte ausgestoßen haben wollte. Den Nationalismus beispielsweise.

Der war bekanntlich eine Erfindung der modernen westlichen Zivilisation, und die Idee des Nationalstaates, dass sich nämlich auf einem bestimmten Territorium, das wir Staat nennen, idealerweise nur eine einzige Nation befinden solle, ist eine genuin westliche. Im 19. Jahrhundert hat sich der Nationalstaat im Westen weitgehend durchgesetzt, freilich nur um den Preis, dass sich überall große Bevölkerungsgruppen in den Status von Minderheiten gedrückt fanden, weil sie nicht der "Staatsnation" angehörten oder ihnen die nationale Existenz überhaupt abgesprochen wurde. (Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet Frankreich, wo die Menschenrechte erklärt wurden, die Existenz anderer Nationalitäten auf seinem Territorium schlichtweg negierte und den vorhandenen Resten dieser Nationalitäten erst in den letzten zehn Jahren gewisse kulturelle Rechte auf Selbstbehauptung zubilligte.) Während der Westen von der formenden Kraft des Nationalismus geprägt wurde und gewiss auch einen Schub der Moderisierung empfing, stand der "Balkan" als Inbild des Ostens damals für national verwickelte und unübersichtliche Verhältnisse, für ein unordentliches Völkergemisch, ein Flickwerk aus lauter kleinen Staaten, die es nicht zu aufgeklärten Nationalstaaten gebracht hatten.

Die Grenze, die den Osten vom Westen trennte und den Westen gegen den Osten sicherte, ist uralt, aber sie schnitt nicht immer an derselben Stelle durch Europa.

Karl-Markus Gauss

Die Wojwodina beispielsweise, aus der meine Familie stammt, wurde von Serben, Ungarn, Schwaben, Rumänen, Slowaken, Juden besiedelt, von so kuriosen Gruppen wie den Bunjewatzen und Schokatzen einmal ganz abgesehen, und dieses Gemisch, das über zwei Jahrhunderte zwar nicht konfliktfrei, aber zum Nutzen aller Volksgruppen doch überwiegend friedlich zusammengelebt hatte, musste natürlich jenen ein Gräuel sein, die es für einen Fortschritt halten, wenn Regionen ethnisch purifiziert sind.

Nationalismus

Heute ist alles ganz anders. Der Westen, der das Prinzip des Nationalstaates erfunden und den Osten dafür verachtet hat, dass sich dieses dort nie durchzusetzen vermochte, ist in ein Stadium geraten, in dem der alte Nationalstaat längst ein ökonomisches Hindernis und ein kulturelles Ärgernis darstellt. Die Europäische Union ist der Rahmen, in dem die Hemmnisse, die der alte Nationalstaat wirtschaftlich aufgerichtet hatte, niedergerissen werden. Just in der Zeit, da der Westen darangeht, den alten Nationalstaat abzuschaffen und sich eine größere Fasson zu geben, wurde im Osten da und dort versucht, verspätet die westliche Idee des Nationalstaates doch noch zu verwirklichen; in einem solchen Fall spricht der Westen gerne davon, dass der Osten noch nicht reif für Europa sei, wiewohl dieser auch in diesem Falle nichts anderes tut, als an ureuropäische Traditionen anzuschließen. Maria Todorova übrigens hat tatsächlich gemeint, dass der jugoslawische Zerfallskrieg ein solcher Versuch war, dem westlichen Prinzip des Nationalstaates verspätet doch noch in einer Region zum Durchbruch zu verhelfen, die dafür denkbar schlecht geeignet ist. Das Desaster war entsprechend groß, und von Estland bis Bulgarien tun die Leute gut daran, sich nicht an einen Westen anzupassen, der im Westen selbst gerade aufhört zu existieren. Kaum waren sie aus der eisernen Obhut der Sojwetunion entlassen, war nämlich überall für sie die Versuchung groß, es statt mit dem oktroyierten Internationalismus doch mit nationaler Selbstbesinnung zu versuchen und die vielen auf ihrem Staatsgebiet lebenden Nationalitäten ihrer Rechte zu beschneiden.

Der Reichtum des Ostens

Wenn Europa nun, wie es so schön heißt, zusammenwächst, wäre es gerade für uns, die wir im Westen leben, wichtig, dass der Osten nicht zum vergrößerten Westen verkommt. Das erhoffen sich zwar viele, zu deren östlichem Alltag Armut, rechtliche Unsicherheit und korrupte Obrigkeiten gehören, und der Grund, warum der Westen die von ihm einst selber aufgerichtete Grenze jetzt aufhebt und einige Hundert Kilometer weiter ostwärts verlegt, ist auch kein moralischer, sondern von ökonomischen Notwendigkeiten erzwungen. Wer öfter im Osten unterwegs war, weiß aber, dass dort noch eine Vielfalt an Nationalitäten und Lebenshaltungen existiert, die bei uns schon vor langem aufgehoben, zerstört und allenfalls in die Folklore abgedrängt wurde.

Es ist zu hoffen, dass die Osterweiterung nicht nur eine Westerweiterung wird und sich nicht der Westen einfach Gebiete einverleibt, die er früher selber aus Europa ausgestoßen hat. Die Erweiterung wäre vielmehr dann eine Chance, die über die ökonomische Despotie hinausginge, wenn der Osten etwas von seiner Vielfalt, Vielgestalt bewahren könnte und es ihm gelänge, mit dieser auch auf den Westen zurück zu wirken. Skepsis ist allerdings angebracht, vergessen wir nicht, dass letzte Woche einer der Präsidenten unseres Nationalrates, der Unternehmer Thomas Prinzhorn, der viele seiner Geschäfte längst im Osten tätigt, über die realen Grenzen Europas in der Jägersprache gesagt hat: "Wenn man an der March schaut, was da alles über die Grenze kommt, dann kommen auf drei Hirschen fünfzig Tschetschenen, und auf zwei Wildschweine kommen noch einmal hundert Kasachen."

Dass sich das Europa des Westens den Osten als wirtschaftliche Kolonie erkürt, ist also per se noch nichts, das es zu bejubeln gälte. Der Osten Europas, hinter dem noch der Westen eines anderen Ostens liegt und dahinter womöglich sogar der Osten von Tschetschenen, Kasachen und anderen, die wir nicht so lieben wie die heimischen Wildschweine, ist für das Europa des Westens aber eine Chance, die über die des ökonomischen Nutzens hinausgeht. Wenn die Europäische Union nämlich nicht zu einem Reich werden soll, deren verbindliche Religion die des Wohlstands ist, welche nach und nach alle ketzerischen Unterschiede einebnet, dann brauchen wir den Osten, der einen Reichtum hat, der sich noch nicht in Euro bemessen lässt.

Der Autor ist Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik".

Navigator

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung