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Wie alt ist Mähren?

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Das Auto, das Brünn in östlicher Richtung verläßt, fährt fortan stundenlang auf guten Straßen zwischen Zwetschgenbäumen. Hier wächst der Rohstoff für den Slibowitz, Mährens berühmten Schnaps. Es ist ein friedliches, von der Hast der Zeit scheinbar noch nicht erreichtes Bauernland, wie man es in dieser Ursprünglichkeit in Mitteleuropa sonst kaum findet. Sanfte Hügel, auf denen weite Äcker mit üppigen Buchenwäldern abwechseln, Dörfer mit bunten Häusern, deren Sockel oft noch giftig blau gestrichen ist, wie man es seit Menschengedenken zum Schutz gegen die bösen Geister tat. Nichts scheint sich verändert zu haben, seit Marie von Ebner-Eschen-bach hier eine glückliche Kindheit verlebte. Aber so außerhalb der Geschichte, wie es auf den ersten Blick aussieht, liegt das Land nicht. Wie die politische Gegenwart erschließt sich die Vergangenheit jedoch erst bei näherem Hinsehen. Bald hinter Brünn passiert die Straße das Schlachtfeld von Auster-litz. Ein Gedenkstein, von zwei schlanken Birken flankiert, bezeichnet Napoleons Feldherrnhügel. Viel weiter östlich zeugt hoch oben auf einem dicht bewaldeten Bergkessel die Burg Buchlau davon, daß auch im frühen

Mittelalter sich hier schon Geschichte ereignete. Zu Füßen der Burg liegt bei dem gleichnamigen Dorf das Barockschloß Buchlovice, einer dieser prächtigen Herrensitze, wie sie nach den Türkenkriegen der österreichische Adel in so großer Zahl erbaute. Alles liegt so unberührt, als ob jeden Augenblick seine Durchlaucht die breite Treppe herabkommen und zur Jagd reiten oder sich in dem kunstvoll angelegten Schloßpark unter alten Bäumen ergehen würde. Ja, es ist viel geschehen in diesem sonnenüberfluteten Land im Laufe der Jahrhunderte. Wie alt die Geschichte Mährens wirklich ist, darüber müssen sich heute die Historiker manche Neuigkeiten sagen lassen. Dicht hinter Buchlovice überquert die Straße die March, Mährens wichtigsten Fluß, der in der Landessprache sogar den gleichen Namen wie das Land hat. Stare Mesto heißt die Stadt am Fluß — Altstadt, und gleich gegenüber liegt Ungarisch Hradisch. Von hier bis zur Mündung in die Donau gibt es einige Stellen, wo man seit etlichen Jahren sehr bedeutsame archäologische Ausgrabungen macht. Ausgrabungen, die die Vergangenheit Böhmens und Mährens um mindestens hundert Jahre verlängern.

Frauen geben den Ton an

Nach der Völkerwanderung wurde Böhmen von heidnischen Slawen besiedelt, bei denen offenbar die Frauen den Ton angaben. Die Sagen von Amazonen und von der Fürstin Libussa dürften einen wahren Kern haben. Während Böhmen bis ins 10. Jahrhundert noch überwiegend heidnisch war, wissen wir, daß im Jahre 863 die Slawenapostel Cyrill und Method aus Saloniki nach Mähren kamen. Rastis-lav, der Beherrscher des Großmährischen Reiches, hatte sich in einer Botschaft an Kaiser Michael III. von Byzanz gewandt, dam.it ihm dieser skwische Lehrmeistss.Jss Ghriitenturdis sctöcke. Cyrill undMethod'habsKsm|t ihrer Bibelübersetzung und ihrer slawischen Liturgie die Schriftsprache geschaffen. Über diese bekannte Tatsache hinaus hat man den beiden Aposteln bisher noch die Christianisierung des mährischen Raumes zugeschrieben, in der Annahme, daß vorher allenfalls einige Adelsfamilien getauft gewesen seien.

Diese Überlieferung wurde bis in die Gegenwart von den Panslawisten eben-sogern übernommen wie von den ausgesprochenen Nationalisten, war doch damit klargestellt, daß die Slawen schon lange vor der Berührung mit westlicher Kultur und vor der Unterwerfung durch westliche Mächte eine eigene Kultur hatten und in der Lage waren, einen Staat zu gründen. Und wenn auch die heutigen Beherrscher der Tschechoslowakei sich nicht besonders mit dem Christentum identifizieren, so ist doch die Magie des ,_,Ex Oriente lux“ noch wirksam. Es war auch im Jahre 1958 auf einem tschechoslowakischen Historikerkon-gre.ß gerade Einmütigkeit darüber erzielt worden, daß die Wurzeln von Staatswesen und Kultur im Osten liegen und keinesfalls dem Westen zu verdanken sind, als die Akademie der Wissenschaften in Prag ein Buch herausgab, das alles wieder in Frage stellte.

Straffe Missionsorganisationen

Bevor wir uns dieses Buch genauer ansehen, müssen wir uns die Lage in Mitteleuropa um 800 vergegenwärtigen. Das Frankenreich dehnte sich immer weiter aus, insbesondere auch in südöstlicher Richtung, die Donau entlang in die ehemalige römische Provinz Pannonien. Nördlich davon, im böhmisch-mährischen Raum, hatten sich Slawen angesiedelt. - Während aber Böhmen, von seiner geographischen Lage begünstigt, sich von der Außenwelt mehr oder weniger abschloß, lag Mähren offen da. Entlang den in Nord-Süd-Richfung der Donau zustrebenden Flußlänfen. besonders der March, verliefen Handelswege, über die auch Geistige Waren ins Land eindrangen. Mitteleuropa war damals nocVi Misssions-lani Seit die Karolinger Christen geworden waren, wurde die Mission straff organisiert und — zum Beispiel gegen die Sachsen — mit aller Härte durchgeführt. Die iro-schottischen Mönche, die vorher auf sanfte Art den Glauben verbreitet hatten, wurden anscheinend von der militanteren Konkurrenz verdrängt und suchten sich neue Betätigungsfelder. Die Diözesen Passau und Salzburg waren damals noch nicht fest umgrenzt und trachteten, ihr Gebiet ins Heidenland weiter auszudehnen. Schon in der Mitte des 8. Jahrhunderts war ein iro-schottischer Mönch namens Virgil Bischof von Salzburg und widmete sich besonders der Mission im heutigen Kärnten. Hier wurden zwei Kirchen ausgegraben, deren Grundriß auf eine Bauform hinweist, die die iro-schottischen Missionare von ihrer Inselheimat mitgebracht hatten und die sonst in Europa nicht üblich war. Ein ebensolcher Kirchengrundriß wurde vor einigen Jahren auch in Mähren ausgegraben, und zwar in der Nähe des uralten Verkehrsweges entlang die March. Und diese Ausgrabung veranlaßte jenes erwähnte Buch, das die tschechischen Gelehrten so in Aufregung versetzte. Josef Cibulka, emeritierter Professor für christliche Archäologie an der Prager Universität, behauptete nämlich nichts Geringeres, als daß über ein halbes Jahrhundert vor Cyrill und Method in Mähren schon iro-schottische Missionare tätig gewesen seien. Wenn man von ihrem Wirken bisher wenig vernommen habe, so liege das in erster Linie daran, daß sie auf eine sanfte und friedlich-unauffällige Art der Glaubensverbreitung dienten. Die Geschichte hat ja ungerechterweise oft viel mehr Notiz von jenen Leuten genommen, die mit Feuer und Schwert von sich reden machten.

Die Toten wurden verbrannt

Die Kirche von Modra, die bei der Altstadt an der March ausgegraben wurde, weist also eindeutig einen typisch iro-schottischen Grundriß auf, und zwar in einfachster Ausführung, da die Steinbauweise der einheimischen Bevölkerung erst hatte beigebracht werden müssen. Nach dieser Entdek-kung erschienen — jedenfalls für Prof. Cibulka — einige bisher weniger beachtete Nachrichten aus jener Zeit in rinem anderes Licht. Erstens stammten die Gräber, die man bei archäologischen Grabungen gefunden hat, alle aus der Zeit ab 800. Die heidnischen Slawen hatten ihre Toten verbrannt. Zweitens findet sich in den Lebensgeschichten von Cyrill und Method, die bald nach ihrem Tode verfaßt wurden und ihre Taten verherrlichen, nirgendwo ein Hinweis darauf, daß sie Heiden getauft hätten. Wenn es zu solchen Bekehrungen gekommen wäre, hätte man das bestimmt hervorgehoben. Die Lebensgeschichte des heiligen Method, 88 5 geschrieben, erwähnt sogar ausdrücklich, daß bereits im Jahre 860, also drei Jahre vor dem Eintreffen der Apostel, Mähren christlich gewesen sei. Drittens hat der Erzbischof von Salzburg schon im Jahre 836, also 27 Jahre vor Cyrill und Method, in Neutra in der heutigen Slowakei eine Kirche geweiht.

Dieser Ort liegt übrigens wieder an einem Nebenfluß der Donau. Es ist zu vermuten, daß der Erzbischof damals gerade in der Gegend war, weil er ein fränkisches Heer begleitete, das gegen die Bulgaren zog, aber die Weihe durch einen so hohen Kirchenfürsten deutet doch darauf hin, daß die Gemeinde Neutra eine gewisse Bedeutung hatte. Viertens war die Bibelübersetzung der beiden Slawenapostel so anspruchsvoll, daß ein gänzlich ungebildetes Volk sie gar nicht hätte übernehmen können. Cyrill und Method schufen ja mit ihrer Bibelübersetzung und mit ihrem aus dem griechischen abgeleiteten Alphabet die Grundlage der slawischen Literatur, und das gleich auf solchem

Niveau, daß eine gewisse Bildung der Bevölkerung angenommen werden muß.

Aus dem Lateinischen übernommen

Die altkirchenslawische Liturgie, die sie entwickelten, enthält außerdem mehrere aus dem Lateinischen stammende Ausdrucke, die darauf hindeuten, daß vorher schon Missionare aus dem Westen tätig waren, und daß im Volk bereits bekannte Begriffe in die neue Liturgie übernommen wurden.

Es erhebt sich nun die Frage, warum es im Jahre 863 zu einer so radikalen Kursänderung in der Missionierung Mährens gekommen ist. Im ersten Drittel des Jahrhunderts hatten ja die Passauer und die Salzburger Diözese ihre Einflußgebiete schon ungefähr abgegrenzt: Passau missionierte bis zur March, Salzburg östlich davon in der heutigen Slowakei. Aber die Missionare waren nun schon Franken, und sie brachten die lateinische Liturgie mit. Das Frankenreich aber war der große Gegner des von Moimir gegründeten Reiches. Als die Mährer unter Rastislav im Jahre 855 praktisch unabhängig wurden, betrachteten sie die Missionare als Fremdkörper, wenn nicht gar als „westliche Agenten“. AIs sich dann Ludwig der Deutsche im Jahre 862 sogar mit den Bulgaren gegen die Mährer verbündete, be-

Fhotos: Dr. Slräls mühte sich Rastislav auch um kirchliche Unabhängigkeit von der deutschen Hierarchie und um Anlehnung an einen mächtigen Staat. Indem er sich von Kaiser Michael von Byzanz slawische Missionare erbat, suchte er auch politisch seine Freundschaft In Bytanz erkannte man gleich die““ Bedeutung dieses klugen Schachsuges. Rastislav dachte offenbar nicht nur an die Gründung einer eigenen Kirchenprovinz für sein Reich, sondern auch an weitreichende Wirkungen auf die anderen slawischen Völker. Und Kaiser Michael wählte zur Entsendung nach Mähren zwei fromme und gelehrte und in der Mission erfahrene Männer aus Saloniki, die also aus ihrer mazedonischen Heimat schon mit der slawischen Sprache vertraut waren.

Keine machtpolitischen Ansprüche

Doch sie hatten sich schon, bevor der Ruf an sie erging, auf die Slawenmission vorbereitet, denn ein neues Alphabet und eine Liturgie in slawischer Sprache lassen sich nicht über Nacht schaffen.

Indem sie aber den Slawen eine Liturgie in der eigenen Sprache mitbrachten, wichen sie zunächst einmal grundsätzlich davon ab, daß im kirchlichen Bereich nur die drei klassischen Sprachen, Hebräisch, Griechisch und Latein, verwendet werden durften — was allein schon unerhört war. Sie bekundeten damit aber zugleich, daß sie mit ihrer frommen Lehrtätigkeit keinerlei machtpolitische Gelüste verbanden. Zyrill setzte sich dadurch zwar der Gefahr aus, als Häretiker angesehen zu werden, aber der Kaiser verstand und würdigte seine Pläne. In Mähren, wo die byzantinischen Lehrer jubelnd begrüßt wurden, hatten sie mit ihrer Liturgie in der Landessprache großen Erfolg. Denn nachdem der bayrische Klerus vertrieben worden war, hatten sich viele Jahre lang Missionare verschiedener Herkunft, vermutlich in der Hauptsache aus den ehemals römischen Ländern südlich der Donau, aus dem Balkan und wohl auch aus Italien und Byzanz, um die Verbreitung des Christentums in Mähren bemüht.

Grabbeigaben für Getaufte

Doch sie hatten nicht nur fremde Sprachen mitgebracht, sondern auch verschiedene Missionsmethoden, liturgische Bräuche und verschiedenartige kirchliche Disziplin. Es gab außerdem offenbar noch heidnische Reservate, auch in den Seelen der bereits Getauften. So werden dte Grabbeigaben, die man den Toten als Wegzehrung mitgab, erst nach und nach kleiner, um schließlich ganz aufzuhören.

Diese Überlagerung verschiedener Kultureinflüsse macht sich auch bei den Ausgrabungen bemerkbar und ers schwert den Archäologen die Arbeit. Das ist wohl der eine Grund, warum die Wissenschaftler vorerst rein empirisch vorgehen. Sie graben, sammeln und datieren, aber die große, das gesamte Material wertende und einordnende Arbeit fehlt bisher. Der zweite Grund für ihre Vorsicht dürfte die scharfe Ablehnung sein, die Professor Cibulkas Buch vor allem durch den Parteihistoriker Frantisek Craus fand — während sich die meisten Fachkollegen schweigend verhielten. Craus argumentierte mehr polemisch als sachlich. Das Werk des katholischen Geistlichen sei ein Beispiel dafür, wie Bücher in einem fortschrittlichen • Staat nicht geschrieben werden sollten. Es sei in ideologischer Hinsicht ausgesprochen katholisch, ja ultramontan. Selbst Craus aber mußte einräumen, daß Cibulkas Beweisführung „der Möglichkeit des Eindringens der iro-schottischen Missionare nach Mähren“ positiv zu beurteilen sei. Cibulka hat längst einen zweiten Teil seines Werkes geschrieben, aber das Manuskript liegt bis auf weiteres in seiner Prager Wohnung. Die Akademie der Wissenschaften hat offenbar den Mut zu weiteren derartigen Veröffentlichungen verloren. Der Gelehrte aber stellt mit zufriedenem Lächeln fest, daß seit dem Erscheinen seines Buches alle weiteren Ausgrabungen seine Thesen bestätigen.

Der Mittelpunkt des Reiches

Wir müssen nun ans Ufer der March, zu den Nachbarstädten Altstadt und Ungarisch Hradisch zurückkehren. Hier vermutete man lange das sagenhafte Zentrum des großmährischen Reiches, die Großburg „Velehrad“. Wenn man die Großburg in Altstadt annimmt, dann liegt die Kirche von Modra genau vier Kilometer westlich davon, und vier Kilometer östlich von diesem Punkt liegt auf einer flachen Anhöhe die Kirche von Sadi, wo zur Zeit Grabungen durchgeführt werden. Es könnte sich also um zwei Außenforts gehandelt haben, möglicherweise mit Holzpalisaden befestigt, und nur die Kirche war aus Stein. Unglücklicherweise wurde die Anhöhe vor dem letzten Krieg, während des Krieges und noch jahrelang darnach von den verschiedensten Armeen mit gleicher Vorliebe als Übungsgelände für Panzer benutzt, so daß die Skelette, die aus bisher etwa 1600 Gräbern des neunten Jahrhunderts zutage gefördert wurden, alle zerbrochene Schädel haben! Es wird für den Laien immer ein eigenartiges Gefühl bleiben, wenn er beobachtet, wie die Überreste von Menschen, die vor mehr als 1000 Jahren nach einem durchschnittlich etwa 25jährigen Leben hier mit Schmuck und Waffen bestattet wurden, nun behutsam vom Lehm befreit und in numerierten Kartons untergebracht werden. Die Archäologen denken dar-

über sehr sachlich. Sie haben auf einem großen Plan den Grundriß der Kirche aufgezeichnet und tragen nun jedes gefundene Grab sorgsam ein. Aus der Lage des Grabes und den Beigaben schließen, sie, ob der Betreffende vor oder nach dem Bau der Kirche bestattet wurde und ob vielleicht vor dieser schon eine andere Kirche hier gestanden hat. Sicher ist, daß bereits vor dem Bau der großmährischen Kirche hier Gräber waren.

Stets neue Funde

Nicht nur bei Altstadt wird gegraben. Das größte, 14.000 Quadratkilometer große Grabungsfeld liegt ein Stück marchabwärts, bei dem Dorf Mikulcice, im Überschwemmungsgebiet des Flusses. Man kann das Gebiet im Frühjahr nur über eine vom Wasser überflutete Straße erreichen, aber die Mücken sind zu der Zeit schon sehr blutdurstig. Es sind also keine leichten Arbeitsbedingungen. Trotzdem wird Jahr für Jahr Erstaunliches zutage gefördert. So wurden bisher auf dem verhältnismäßig engen Raum ein Palast und neun Kirchen entdeckt, davon eine dreischiffige, die mit 36 Meter Länge die größte ist, die man nördlich der Donau aus jener Zeit kennt. Sollte dies das Zentrum des großmährischen Reiches gewesen sein? Man weiß es noch nicht genau, aber die große Zahl der Kirchen, die sicher von zahlreichen Holzgebäuden umgeben waren, legen es sehr nahe. Auch die kostbaren Beigaben, die man in einigen Gräbern gefunden hat, lassen darauf schließen, daß hier hochgestellte Persönlichkeiten bestattet worden sind. Die erste der ausgegrabenen Kirchen ist (vor 863!) bereits auf einem christlichen Friedhof errichtet worden. Und eine durch Umlauf unversehrte Goldmünze mit dem Bild des Kaisers Michael III. fand man in einem Grab, das jünger als die Kirche war. Wieder eine Bestätigung für Cibulkas Thesen.

In den letzten Jahren ist auf dem Grabungsgelände eine richtige kleine Siedlung entstanden: einige Baracken, mit Wohnräumen, Lagerräumen und einfachen Laboratorien ausgerüstet, dazu kommen die einfachen Häuser, die über einigen der ausgegrabenen Grundmauern gebaut worden sind. Vitrinen mit Funden und bildliche Darstellungen ergänzen das zu einem richtigen Museum, wo im Sommer viele Führungen veranstaltet werden.

Das unbezwingbare Reich

Das Volk der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik wird so an die Grundmauern seiner Eigenstaatlichkeit geführt. Hatte sich das böhmische Reich der Pfemisliden im 10. Jahrhundert nach blutigen Machtkämpfen im Herrscherhaus erst allmählich geformt, so beweisen die Steine von Mikulcice, daß schon im zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts ein großes Reich bestand, das sich bis zur Donau und Theiß dehnte, bis nach Krakau und Görlitz reichte und weite Teile Polens und Schlesiens umfaßte. Von diesem Reich wußte man bisher hauptsächlich durch die Kämpfe, die es gegen den Expansionsdrang der Franken zu führen hatte; Aber weder Ludwig der Deutsche noch Karlmann konnten es auf die Dauer bezwingen. Erst nach dem Tode des Fürsten Svato-pluk im Jahre 894 zerfiel es, und die Madjaren brachen in das Gebiet ein.

Unsere Kenntnisse über das großmährische Reich werden auch durch die archäologischen Forschungen erst allmählich ergänzt. Der rasche Zusammenbruch nach Svatopluks Tod scheint aber darauf hinzudeuten, daß dieses

Reich mehr durch die aufeinanderfolgenden überragenden Herrscherpersönlichkeiten der Moiminiden, als durch ausgeprägte staatliche Organisationen zusammengehalten wurde.

Der Osthandel war verboten

In Mikulcic tauchte die Vermutung auf, es könne vorübergehend eine Personalunion von Fürst und Priester bestanden haben. In einem Knabengrab wurden nämlich silberne, vergoldete Gürtelzungen gefunden, auf deren einer ein Priester mit segnend erhobenen Händen eingraviert ist. Er hat religiöse und politische Attribute. Es wuren auch Hinweise auf einen regen Handelsverkehr gefunden: Schmuck aus Byzanz und ein Glaspokal, der vermutlich aus einer rheinischen Glaswerkstätte stammt. Schon bei der ersten in Mikulcice ausgegrabenen Kirche fand man in einem Grab ein großes, zweischneidiges Schwert aus dem zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts, auf dem im Röntgenbild ein goldenes Kreuz erkennbar wurde. Ein solches Schwert, das der Bekämpfung der Heiden dienen sollte, wird in einer St.-Gallener Handschrift beschrieben. Man schließt daraus, daß die Franken Schwerter in slawische Länder exportiert haben. Der Osthandel war aber schon damals umstritten und wurde wiederholt verboten. So wurde schon Anno 805 in Thionville dekretiert, daß an Slawen und Awaren keins Schwerter verkauft werden dürfen. Kurioserweise wurde ein anderes Embargo im Jahre 811 von den Capitu-laren des Stiftes Bonn erlassen, das als Missionszentrum damals große Bedeutung hatte. Bischöfen, Äbten und Priestern wurde streng verboten, Waffen an Fremde zu verkaufen oder weiterzugeben.

Von allen Seiten beeinflußt

Gegenüber der Großartigkeit der Zeugnisse für das Bestehen des groß-mährischen Reiches, die in den letzten Jahren zutage gefördert wurden, mutet der Streit, ob die ersten Missionäre aus Osten oder Westen gekommen sind, befremdlich an. Endgültiges über die Beziehungen des Reiches zu seinen Nachbarn kann man heute noch nicht sagen. Es scheint aber so, als ob nach und nach von allen Seiten Einflüsse wirksam geworden seien. Ob die Lehrmeister der Goldschmiede von Mikulcice aus Rom oder Byzanz oder gar aus Passau gekommen sind, ist noch ungeklärt. Aber die prachtvollen kugelförmigen Goldknöpfe, die kunstvollen Gürtelbeschläge, die goldenen Ziersporen in den Fürstengräbern — all das ist eigenständig und findet, wenn man auch verschiedene Einflüsse entdecken mag, nirgendwo anders eine Entsprechung. Die Gebeine, die aus dem feuchten Boden geholt wurden und in einem Barackenhaus in Pappkartons wie in einem Schuhgeschäft gestapelt sind, legen Zeugnis davon ab, daß Cyrill und Method hier eine hochentwickelte Kultur vorfanden, als sie dem Land eine kirchliche Ordnung und die Schriftsprache brachten. Und das ist für viele nationalbewußte, gebildete Tschechen das Wesentliche. Darauf sind sie in einer Weise stolz, wie wir es uns mit unseren stark reduzierten nationalen Emotionen kaum noch vorstellen können.

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