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BON VOYAGE!

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Wir haben kein Meer; aus eigener Erfahrung kenne ich die Gefühle eines Menschen nicht, der als geladener Gast einem Stapellauf beiwohnt. Viele Menschen müssen viel Arbeit verrichten, bevor der Augenblick kommt, da die traditionelle Champagnerflasche am Bug des fahrbereiten Schiffes zerschellt, bevor — einer Zauberformel gleich — sein Name mit dem Wunsch „Gute Fahrt!“ zum erstenmal ausgesprochen wird. Diese Gefühle ähneln vermutlich den meinen, da mir nun, obwohl ich kein Verdienst habe am Bau dieses Schiffes und das Risiko der Meerfahrt mit der Besatzung nicht teile, die ehrenvolle Aufgabe zufällt, diesen magischen Akt — mutatis mutandis — vorzunehmen.

Jedes Heft dieser Zeitschrift soll eine Ladung literarischer Produkte tschechischer und slowakischer Herkunft zu den Menschen englischer beziehungsweise deutscher Zunge bringen. Ist das nun nötig? Man könnte sagen, daß ein solcher Literaturexport überflüssig sei; daß in unserer durch moderne Kommunikationsmittel klein gewordenen Welt nichts Wertvolles auf dem Gebiet des Geisteslebens unbemerkt bleibe, wo immer es auch das Licht der Welt erblickte; daß die Welt jedes Werk, das Mir etwas zu sagen hat, selbst entdeckt. Wer das sagt, sagt die Wahrheit, doch nicht die ganze. Vor etwa hundertsiebzig Jahren bemerkte Friedrich Schiller, daß die kultivierte Sprache eines Gedichtes zuweilen selbst für den Dichter spreche. Analog könnten wir sagen, eine Weltsprache sorge selbst dafür, daß ein in ihr geschriebenes Werk ins Bewußtsein der Welt trete. Reiche Erfahrungen haben uns belehrt, daß die Literatur eines kleinen Volkes in dieser Hinsicht von Geburt an gehandikapt ist. Karel Hynek Mächa (1810 bis 1836) gehört zum Beispiel zweifellos zu den größten Erscheinungen des europäischen Romantismus, doch die unüberwindliche Barriere der Sprache hat ihn trotz aller Bemühungen zu bloß lokaler Anerkennung verurteilt. Gäbe es diese Barriere nicht, müßten Vitezslav Nezval, Frantisek Halas, Laco Novomesky, Vladimir Holan und Frantisek Hrubin im Bewußtsein der heutigen Generation unter den Dichtern unseres Jahrhunderts einen bedeutsamen Plata einnehmen. Wir kennen jedoch die geheimnisvolle Dialektik der Übertragung von Dichtungen, in der gilt, daß man alles übersetzen, doch zugleich nichts ohne Verluste nachdichten kann.

Das Gebiet der tschechoslowakischen Literatur umfaßt rund zehn Millionen Menschen, und der slowakische Schriftsteller rekrutiert seine Leser aus einer nicht ganze vier Millionen zählenden Sprachgemeinschaft. Außer den in der Welt verstreuten Landsleuten, deren Kinder und Enkel schwerlich die Kenntnis der Sprache der alten Heimat bewahren, sprechen nur sehr wenige- Menschen auf der Welt tschechisch oder slowakisch. Das sind geographische und ethnographische

Tatsachen, die sich nicht ändern lassen. Doch einer breiteren Kenntnis der tschechischen und slowakischen Literatur haben sich noch weitere Hindernisse mehr politischen Charakters in den Weg gelegt. Aus dem vorigen Jahrhundert, da Deutschland die Rolle eines natürlichen Vermittlers zwischen dem slawischen Osten und der westlichen Welt hätte spielen können, überlebt zäh jenes „slavica non leguntur“, das aus dem Gefühl der Überlegenheit der Deutschen über die slawischen Nachbarn entstand, mit dem sie ihren Minderwertigkeitskomplex im Verhältnis zum Westen kompensieren wollten. Die angelsächsische Welt schenkte uns in ihrer splendiden oder anderweitigen Isolation keine sonderliche Beachtung; politisch wurde sie mit der Existenz der Tschechen und Slowaken erstmalig am Ende des ersten Weltkriegs konfrontiert. Anderseits darf nicht übersehen werden, daß die Energie der tschechischen und slowakischen Literatur bis zu jener Zeit zum Großteil von der Aufgabe der nationalen Wiedergeburt, der Bildung des Nationalbewußtseins und der ständigen Förderung des Emanzipationskampfes absorbiert wunde. Zuweilen freilich ertönen schon damals die Saiten eines starken Protestes gegen nationale und soziale Unterdrückung, der in den Gedichten von Beznuc oder Hviezdoslav allmenschliche Gültigkeit gewann.

Nach dem zweiten Weltkrieg entstand eine Lage, weiche die zwei unseligen Schlagworte „Eiserner Vorhang“ und „kalter Krieg“ kennzeichnen. Wenn ich von ihnen bereits in der Vergangenheit sprechen darf — und mein Wunsch überredet mich, es zu tun — muß ich feststellen, daß es hier um eine beiderseitige Isolation ging. Die Welt war wie zwei Heere vor der Schlacht drohend in zwei Lager auseinandergetreten. Das sozialistische Lager rechnete zur Zeit des sogenannten Personenkults mit einem kriegerischen Konflikt und traf unter diesem Gesichtspunkt seine Maßnahmen; auch die Musen wurden mobilisiert. Der Westen (und das ist auch nur eine der Chiffren, mit denen sich unser Vokabular gefüllt hat) betrieb wirklich eine kriegerische Taktik, bloß daß — wenigstens allgemein — nicht geschossen wurde und keine Kembomben fielen. Auf geistigem Gebiet ging der Westen offensiv vor und baute zugleich seinen „Cordon sanitaire“ auf.

Gehört all das wirklich schon der Vergangenheit an? Vergessen wir die schlichte Wahrheit nicht, daß jeder Vorhang, und somit auch der sogenannte Eiserne, zwei Seiten hat. Doch das Leben ging in beiden Teilen der hermetisch abgeschlossenen Welt weiter. Die apokalyptische Drohung des Atomtodes, die Perspektive eines globalen Selbstmords hat uns hier wie drüben gezwungen, nach einem vernünftigeren Ausweg zu suchen. Wir alle fühlen, welche Last von unseren Gemütern genommen wurde, als am Horizont die Möglichkeit auftauchte, im Wissen um die Vermeidbarkeit eines neuen Weltkrieges nebeneinander zu leben. Plötzlich, merkten wir auch, daß die Uniform des kalten Krieges dein Musen schlecht zu Gesicht steht Doch die Vergangenheit, insbesondere eine böse Vergangenheit, läßt sich nicht von einem Tag zum andern überwinden. Der heutige Stand erscheint mir so, daß wir weit größere Neugier zeigen, uns mit alien Geistesprodukten bekanntzumachen, die uns in den Jahren der Isolierung unerreichbar blieben, als es umgekehrt der Fall ist. Bei weitem nicht alle Wachposten jenes „Cordon sanitaire“ sind abberufen worden.

In den Vorkriegsjahren wurde der Weg der tschechischen und slowakischen Literatur nach Westen auch dadurch erleichtert, daß eine ganze Reihe bekannter deutsch-jüdischer Schriftsteller in Prag lebte oder von hier ausging, die einen integralen Teil ihres Schaffens darin sahen, die Welt mit den Werken der tschechischen und slowakischen Kultur bekanntzumachen. Heute gibt es diese Plejade hervorragender Vermittler nicht mehr; die Nazi-Okkupation hat sie, zumeist auch physisch, liquidiert. Im angelsächsischen Sprachgebiet hat sich Paul Selver auf diesem Felde unvergeßliche Verdienste erworben. Unsere Isolation in den schlimmen Jahren des sogenannten Personenkults bewirkte, daß wir nicht rechtzeitig für einen Ersatz dieser Verluste sorgten und heute einer Situation gegenüberstehen, in der gute Übersetzer ins Englische und Deutsche schwer zu finden sind. Diese Zeitschrift nun wurde aus dem Bestreben geboren, nach Kräften zur Überwindung von alldem beizutragen, was die ältere und jüngste Vergangenheit als Hindernis eines lebendigen und fruchtbaren geistigen Kontakts angehäuft hat. Ich weiß, die Welt hört nur auf den, der etwas zu sagen hat. Ich weiß, in der Vergangenheit setzten sich die Schriftsteller kleiner Völker nur dann durch, wenn sie mdt ihrem Wort all dem einen artikulierten Ausdruck verleihen konnten, was unartikuliert in den Gemütern vieler Menschen vieler Länder lebte. Die Aufmerksamkeit der Welt wußten Ibsen und Strindberg zu erzwingen, um nur diese zwei Beispiele zu nennen; Jaroslav Hašek verschaffte sich mit seinem einmaligen „Braven Soldaten Švejk“ Gehör, Karel Capek wird in der ganzen Welt gelesen… Vielleicht wird eines oder das andere Werk ihrer heutigen Schriftstellerkollegen den deutschen oder englischen Leser ansprechen und ihm einen positiven Beitrag bedeuten, für den er dieser Zeitschrift dankbar sein wird.

Denn die Tschechoslowakei und ihre beiden Völker haben während des letzten halben Jahrhunderts historische Erfahrungen gesammelt, wie sie in solcher Breite und Intensität anderswo kaum zu verzeichnen waren. Sie erlebten eine Zeit nationaler Unterdrückung und den Höhepunkt des jahrhundertelangen Kampfes um die Erneuerung der nationalen Unabhängigkeit, sie machten unter allen Völkern, die heute den Sozialismus aufbauen, die ausgedehnteste Erfahrung mit einer Demokratie von westlichem Typus; die Tschechen erfuhren am eigenen Leibe ein Kolonialregime im Herzen Europas, als Hitlers Protektorat Böhmen und Mähren eine mit der Apartheid des heutigen Südafrika zu vergleichende Rechtsordnung schuf, sie erlebten den Siegestriumph über den gefährlichsten Feind ihrer Geschichte und den Übergang in eine neue historische Epoche; die Slowaken schließlich vollendeten erst im Kampf gegen die Nazi- Okkupanten ihren nationalen Emanzipationsprozeß. Beide Völker beschritten einen in den Annalen der menschlichen

Erfahrungen noch nicht verzeichneten Weg, dessen Boden Schritt für Schritt sondiert wenden muß. Die vergangenen Jahre haben uns gelehrt, daß es auch hier keine fertigen Modelle gibt, die sich wie Präfabrikate von einem Ort zum andern übertragen ließen. Wenn die tschechische und slowakische Literatur in ihrer Entwicklungsphase während des sogenannten Personenkults diesen einmaligen Komplex historischer Erfahrungen nicht wirksam genug darzustellen wußte und kein genügend beredtes Zeugnis davon ablegte, wie diese Erfahrungen das Leben des Menschen gestalteten, so geschah es vielleicht gerade darum, weil sie an die Existenz solch fertiger Modelle glaubte oder auch darum, weil für unser ganzes Leben der Vers Jan Nerudas galt: „Aus stürmischer Zeit sind wir geboren, durch Sturmeswolken vorwärts gehen wir Schritt für Schritt."

In den letzten Jahren sind wir Zeugen einer neuen fruchtbaren Gärung in der tschechischen und slowakischen Literatur, die ein Ausdruck der Suche ist nach dem Platz des Menschen in einer fieberhaft sich wandelnden Welt, einer authentischen Aufzeichnung seiner Lebensproblematik, seines ständigen Ringens um die geistige und seelische Bewältigung der Vielzahl neuer bestürzender Erfahrungen. Vielleicht bringt sie schon heute eine Aussage, die auch für Mieschen anders organisierter Länder wertvoll sein kann. Vielleicht ist sie schon heute in die Form des bunten Steinchens geschliffen, ohne das das Mosaik der heutigen Weltliteratur nicht vollständig wäre. Diese Zeitschrift nun möchte ein Prüfstein sein, ob und in welchem Maße es sich so verhält, sie will ihren Lesern die Möglichkeit bieten, sich mit den Werken der neuesten tschechischen und slowakischen Literatur bekanntzumachen und schließlich auch tschechischen und slowakischen Schriftstellern, Dichtern und bildenden Künstlern Gelegenheit geben, zu prüfen, ob ihre Aussage über Welt und Leben auch außerhalb der Heimat Gültigkeit besitzt und ob sie auf eine Weise vorgetragen wird, die den heutigen Ansprüchen unserer Zeitgenossen anderswo in der Welt entspricht.

Das ist die Ladung, die diese Zeitschrift über das Meer der geistigen Kontakte tragen soll, welches — eine weitere Erfahrung unserer Jahre —, wie jedes Meer die Völker zugleich voneinander trennt und miteinander verbindet. Vielleicht dürfen wir heute auch so das Meer verstehn, an dessen Ufern Shakespeare das Königreich Böhmen seines „Wintermärchens“ situierte.

Nun denn, UNIVERSUM bon voyage!

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