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Gespräche junger Europäer

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Gibt es noch eine europäische Idee, die so stark ist, daß sie trotz der Vielfalt nationaler Eigenarten, trotz der Verschiedenheit der Weltanschauungen und trotz der Aufteilung in Machtbereiche, die ökonomischen oder strategischen Gesetzen gehorchen, den abendländischen Raum geistig verbindet und weit über die Fragen des tagespolitischen Schachspieles ''hinweg Brücken schlägt von Herz zu Herz in einer verantwortungsbewußten europäischen Völkerfamilie? Um diese entscheidende Frage gruppierten sich alle Gespräche, die Studenten aus zwölf europäischen Staaten vor wenigen Wochen in einem Tiroler Alpendorf führten.

Für uns junge Österreicher war es ein besonderes Erlebnis, nach vielen Jahren hermetischer Abgeschlossenheit mit der europäischen Außenwelt endlich in geistigen Kontakt zu treten. Mag es kindlich klingen, es überkam uns ein Gefühl der Sicherheit und Hoffnung, als wir über die Grenze der Sprachen hinweg Aug' in Auge und Hand in Hand, im Gleichtakt der alltäglichen Gemeinsamkeit empfanden, wie verwandt wir alle untereinander waren: Menschen mit Ideen und Träumen, Realisten und Mystiker, Pedanten und Himmelstürmer, Menschen mit allen Freuden und'Leiden ihres Daseins. Immer wieder legten wir uns die Frage vor: Was trennt uns eigentlidi? Und wenn wir nach langen Debatten schließlich doch übereinstimmend feststellen mußten: grundsätzlich eigentlich nichtST - dann wurde uns die europäische Geschichte mit ihren blutigen Verkettungen zu einer einzigen unverständlichen und schauderhaften Vision — bis zu ihrer heutigen Entwicklung.

In langen Aussprachen, die uns oft lang über Mitternacht wachhielten, versuchten wir den einen Begriff zu fassen, festzuhalten und so lebendig wie möglich in unsern Herzen wiedererstehen zu lassen: Europa. Was klingt nicht alles mit diesem Worte mit! Hellas, Rom, das christliche Mittelalter, Renaissance und Humanismus, es ist unser aller Besitz! Vielleicht war es mehr als ein Ausbruch vorschneller jugendlicher Begeisterung, als einmal ein junger Nordländer aufsprang und rief: Goethe und Shakespeare, Calderon und Dante, 'sie sind nur eines: große Europäer, sie gehören uns allen wie Homer und Piaton, wie Vergil und Horaz. Dieses Wort ist durchaus kein kraftloser Pazifismus mehr, es klingt wie die Ahnung einer neuen Idee, die in uns jungen Europäern lebendig wird und das Kleinhch-Trennende über der großen, gemeinsamen Aufgabe vergessen läßt.

Es war überraschend, wie leicht die nationale Verschiedenheit in der Diskussion überwunden wurde. So kam es, daß sich englische, tschechische und deutsche Marxisten oder französische, holländische und österreichische Katholiken vielfach besser verstanden, als die Vertreter einer Nation, die verschiedenen Weltanschauungen angehörten. Fntgegen allen sonstigen Behauptungen war das nicht nur bei den Österreichern, sondern auch bei allen andern europäischen Delegationen zu bemerken — auch bei den Engländern. Unter diesem Gesichtspunkt wirken die Grenzen zwischen den Staaten sonderbar, denn sie trennen keineswegs verschiedene geistige oder kulturelle Sphären, sondern sind genau so formaler Natur, wie es der Unterschied der Sprachen ist.

Nach der so von selbst sich ergebenden Überwindung des nationalen Standpunktes wurde die Diskussion über die W e 1t-anschauungen besonders bemerkenswert. Man kann nicht sagen, daß sich die Ansichten versteiften, man wurde nur konsequenter und vorsichtiger. Bald wurde klar, daß ein vorschnelles und oberflächliches Kompromiß, wie es gegenwärtig unter dem Motto: Sozialismus für das Diesseits und Christentum für das Jenseits — angepresen wird, nicht dauerhaft sein kann und das Problem keineswegs löst. Wir machten eine eigenartige Erfahrung: nur ein k o m-promißloses In-die-Tiefe-Gehen in der eigenen Anschauung brachte uns näher, und dort, wo Sozialisten und Christen am konsequentesten waren, dort waren wir uns am nächsten. Blickten wir mit dieser neuen Erfahrung in unser gegenwärtiges politisches Leben, so fanden wir ihre Richtigkeit bestätigt. Darüber hinaus wurde uns aber bald klar, daß es zwischen den beiden Bereichen des marxistischen Sozialismus und des Christentums eine große Zahl halt- und ideenloser Tagesmenschen gibt, die allzuleicht dem Schlagwort und der schönen Phrase zum Opfer fallen, S i e sind die eigentliche Gefahr eines demokratischen Volkslebens.

Aus der Anzahl der jungen Katholiken ragten die aus Frankreich und Holland hervor. Hier fanden wir Österreicher ein Christentum, das uns ungewohnt war. Die feste, entschlossene Haltung dieser jungen Menschen, ihre fortschrittliche und im besten Sinne moderne Einstellung zu allen Dingen des öffentlichen Lebens, der Kunst und der sozialen Ordnung, die gesunde, kräftige Frische ihres Glaubens und die Wahrheit und Offenheit ihres Bekenntnisses, das sie mit glühender Liebe nach jeder Richtung hin vertraten, setzte uns täglich mehr in Erstaunen. Alle Anwesenden, welchen Bekenntnisses und welcher Weltanschauung auch immer, Professoren und Studenten, blickten mit Achtung und ehrlicher Bewunderung auf diese jungen Christen, die, wie aus den Tagen des Urchristentums auferstanden, mit heiterer Ruhe und gläubiger Kraft die Probleme unserer Zeit meisterten. Wer angesichts dieser jungen Männer noch behauptet, das Christentum wäre eine überlebte Ideologie, dem kann nicht geholfen werden; wir aber wurden in unserer Gewißheit bestärkt, daß eine künftige Gestaltung des Abendlandes ohne die ewig junge Kraft des christlichen Glaubens undenkbar ist.

Es hieße Wesentliches verschweigen, würden die Meinungen der ausländischen Studenten über die österreichische Entwicklung nicht wiedergegeben werden. Die Aufgeschlossenheit und das Interesse, das die europäische Jugend der Entwicklung unseres Staates entgegenbrachte, mußte alle Österreicher erfreuen. Besonders auffallend war dabei, daß die meisten nicht allein von der kulturellen Mission Österreichs überzeugt waren, sondern auch die rein realpolitisdie Notwendigkeit eines Österreichischen Staates im Donauraum anerkannten. Die Schwierigkeiten, mit denen der wiedererstandene Staat zu kämpfen hat, fanden überall Anteilnahme und volles Verständnis. Was man den Österreichern wünschte, war mehr Selbstvertrauen, größere Sachlichkeit in der Beurteilung der innen- und außenpolitischen Situation und eine lebendige, mitaufbauende Jugend, die sobald als möglich die peinlichen Lücken im wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Leben zu schließen imstande wäre. Wie für die meisten ehemals besetzten Staaten so besteht auch für Österreich die Gefahr der Regionalität.

Ein für das gesamteuropäische Geistesund Kulturleben so maßgebender Begriff wie Österreich, darf seine Weltoffenheit nicht verlieren und muß sich stets — auch in Zeiten der Not — seiner großen Verantwortung bewußt bleiben. Das Ausland könnte zu dem Eindruck gelangen, als ob der Walzer und der Heurige die Quintessenz des österreichertums darstelle. Die Kollegen aus fremden Ländern vermißten große lebende österreichische Wissenschafter, Dichter und“ Musiker, sie belächelten höflich den wenig erfreulichen Bücher- und Zeitschriftenmarkt. Und wir? Wir mußten ein wenig beschämt erkennen, daß man von der Vergangenheit allein auf die Dauer nicht leben kann und wir fühlten, daß sich die Blicke vieler auf die Jugend österreidis richteten. Wie sehr die historischen Leistungen Österreichs auf den Gebieten der Kunst und Wissenschaft in ganz Europa bekannt sind, sahen wir, als englische Studenten Rilke und Hofmannsthal zitierten, die jetzt in England eine Hochblüte erleben. Die österreichischen Sdiulen der Nationalökonomie, Kunst-gesdiidite und Medizin sind überall bestens bekannt und mandler österreichische Student mußte sich beschämt gestehen, daß Franzosen, Engländer und Skandinavier mehr über Carl Menger, Friedrich von Wieser, Max Dvorak, Madi und Schlick wußten, als er. Von der österreichisdien Musik erübrigt sich zu sprechen.

Der wissensdiaftliche Teil der Alpacher Wochen stand unter dem Motto „Erkenntnis und Wert“ und dieses Leitmotiv zog sich durdi alle Vorträge, Diskussionen und Arbeitsgemeinsdiaften. Die Gesprädie der jungen Europäer, ob im privaten Kreis oder in offizellen Aussprachen, führten unbewußt auf diese Grundgedanken zurück: klare Erkenntnis unserer gegenwärtigen histo-risdicn und geistigen Situation und die Hebung der wahren Werte unserer Zeit zum Wohle der Menschheit.

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